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Theaterblog

DIE MACHT DES ZUFALLS

Regisseur Lorenzo Fioroni, Bühnenbildner Ralf Käselau und Kostümbildnerin Katharina Gault im Gespräch mit Dramaturg Benjamin Wäntig

Hiroshi Matsui (Padre Guardiano) | Foto: Martin Kaufhold

Benjamin Wäntig Verdis »La forza del destino« stand lange im Schatten der Nachbaropern, etwa »Un ballo in maschera« oder »Don Carlo«. Ist diese Zurückhaltung heute noch nachvollziehbar?

Lorenzo Fioroni Zeit seines Lebens war Verdi enorm experimentierfreudig, was die formale Anlage seiner Werke betrifft. Bei »La forza del destino« sucht er schroffe Brüche in der Erzählstruktur, abrupte Ortswechsel, verbindet und vermengt in der musikalischen Ausgestaltung unterschiedliche Stilhöhen. Ein an lineare, klassische Formen gewöhntes Publikum mag das in vergangenen Zeiten verwirrt haben. Ich denke jedoch, dass Verdi hier dramaturgisch seiner Zeit voraus war. Fragmentierte Erzählweisen sind wir heute weit mehr gewohnt, sie begegnen uns nicht nur in der Literatur oder im Kino, sondern sind allgegenwärtig. Multiperspektivität und eine Dramaturgie, die den Haupterzählstrang immer wieder verlässt, so wie sie Verdi hier verwendet, decken sich für mich mit der Wahrnehmung der Welt, wie sie wirklich ist: eben nicht linear und folgerichtig, sondern voller Widersprüche und unvermittelter Wendungen. Man kann dies als absurd und unlogisch abtun – so die häufig geäußerten Vorwürfe – oder aber eben gerade deswegen als wahrhaftig.

BW Wie seid ihr mit dieser Disparatheit der Oper umgegangen?

Ralf Käselau Die großen und unvermittelten Sprünge in Zeit und Raum, diese wilde Jagd quer durch Europa wollten wir gerade betonen, und darüber hinaus auch in unterschiedlicher Bildästhetik und Spielweise das Fragmentarische und Zersplitterte dieser Welt zeigen, was mit unserer Wahrnehmung der Wirklichkeit heute viel zu tun hat.

LF Nicht nur geografisch spannt Verdi einen großen Bogen, sondern auch inhaltlich wählt er große gesellschaftliche Themen wie Standesdünkel, strukturellen Rassismus, koloniales Erbe, Kriegslust oder auch Macht und Ohnmacht der Kirche oder des Patriarchats, welche alle die Geschichte unseres Kontinentes tief geprägt haben. In unserer Art und Weise, wie wir das Stück erzählen wollen, sehen wir Europa wie ein aus historischen und zeitgenössischen Puzzleteilen zusammengesetztes Mosaik, durch welches sich die Protagonisten wie in einer Art Roadmovie quer durch die Zeiten gegenseitig verfolgen.

Angelos Samartzis (Don Alvaro); Pauliina Linnosaari (Donna Leonora); Amadea Lässig (Curra) | Foto: Martin Kaufhold

BW In den unterschiedlichen Akten der Oper spielt ihr also mit ebenso verschiedenen ästhetischen Welten, aber auch unterschiedlichen Ebenen von Realität und (Alb-)Traum …

RK Die Räume sind konkret gedacht, wenn auch nicht realistisch. Mich interessieren grundsätzlich Orte des Transits und Übergangs, die brüchig, kaputt und durchlässig sind, und so sind der zweite und dritte Akt angelegt. Hier finden die Orientierungslosigkeit und die inneren Zustände der Figuren eine räumliche Entsprechung, die wiederum vom Zuschauer assoziativ ergänzt werden kann. Im vierten Akt war ein Gedanke, dass sich die vorherigen, diversen Bildebenen zu einem neuen Raum zusammensetzen, eine Art »Haus Europa«, in dem sich die Spuren der Geschichte angesammelt haben. Hier überkreuzen sich auch die Lebensgeschichten der Hauptfiguren wieder.

BW Was hat dich, Katharina, für das Kostümbild inspiriert?

Katharina Gault Zwei der Akte der Oper spielen in Andalusien. Wenn man etwa die Alhambra in Granada betritt, kann man den Ursprung der Großmacht Spanien deutlich spüren. Ich war dort fasziniert von den monumentalen spanischen Keramikwänden, die mir verglichen mit den sehr feinen arabischen geometrischen Mustern und Wandgestaltungen sehr grob und fast protzig erschienen. Die Formen erschienen mir wie ein Ausdruck der wachsenden Macht. Dort wollten wir mit dem Stück beginnen: an dem Ort, wo die »neue Welt« entstand, am Anfang der Conquista, wo Kolonialismus systemisch wurde. Die Figuren sind zunächst märchen- und puppenhaft, wie Modelle ihrer selbst – sie ahnen nichts von dem Schicksalsschlag, der sie erwartet. Die erwähnten großen spanischen Muster sind auf ihren Kleidern zu sehen und erzeugen dabei auch einen Marionetten-Maßstab. Don Alvaro, der Fremde aus Peru, trägt für seine Geliebte feinste Federn und Gold und wirkt so wie eine exotische Puppe. Das Gold, das er trägt, ist gleichzeitig das Objekt der Begierde in der neuen Welt für die Spanier.

Die weiteren Akte bewegen sich in andere Zeiten und andere Räume, als wenn man ein paar Seiten der Menschheitsgeschichte weiterblättern würde und die Figuren sich darin verlaufen würden. Bei allem Chaos gibt es aber auch Konstanten: Durch alle Bilder streift zum Beispiel eine Pilgergruppe in den traditionellen andalusischen Bußgewändern mit Spitzhüten. Ihre Auftritte sowie die Musik an diesen Stellen sind Momente des Innehaltens.

RK Die Ästhetik des Puppen- und Kulissentheaters macht es möglich, überhöht und wie unter einem Brennglas aus dem Familiendrama um die heimlichen Liebenden eine politische Parabel über die Machtverhältnisse von Alter und Neuer Welt zu entwickeln. Hier geht es auch um tief verwurzelten Rassismus und Verwerfungen aus der kolonialen Geschichte Europas. Das ist ein Ballast, den Leonora und Alvaro, aber auch die weiteren Figuren mitschleppen.

BW Die drei Hauptrollen Leonora, Alvaro und Carlo sind permanent voreinander auf der Flucht, scheinen aber auch gleichermaßen traumatisiert. Schon am Anfang reden Leonora und Alvaro aneinander vorbei. Warum sind sie so unfähig, sich aufeinander einzulassen, sich gegenseitig zuzuhören?

KG Der Mangel an Kommunikation nach dem fatalen Schuss ist ein zentraler Punkt, den Verdi unter die Lupe genommen hat. Das Schicksal erscheint zunächst ein reiner Unfall, nimmt aber schnell scheinbar prädestinierte Züge an, weil die Figuren auf ihren festgefahrenen Positionen verharren. Es gibt keinen Versuch, die Situation, wie sie tatsächlich war, zu verstehen. Hätte man es versucht, wäre die »Macht des Schicksals« gebrochen worden.

Hansung Yoo (Don Carlo di Vargas) und Angelos Samartzis (Don Alvaro) | Foto: Martin Kaufhold

LF Genau, der bereits erwähnte Standesdünkel und Carlos Vorstellung einer altmodischen wie fragwürdigen Vendetta-Ehre ersticken eine Kommunikation zwischen ihnen im Keim. Interessant finde ich dabei die Entwicklung Leonoras. Oberflächlich betrachtet könnte sie als ein statischer Charakter gesehen werden, der bei jeder auftauchenden Schwierigkeit bloß nach dem Herrgott ruft. Für mich ist sie vielmehr eine zentrale Figur des Stückes auf der Suche nach sich selbst: Nachdem ihre Vorstellung einer unschuldigen, romantischen Liebe wie aus dem Bilderbuch ihrer Kindheit durch den Tod ihres zutiefst patriarchal auftretenden Vaters in Trümmer gegangen ist, rennt sie aus diesem Utopia hinaus in die Welt. Vor ihrem Trauma, dem Glauben an ihre Schuld am Tod des Vaters, flieht sie in eine Welt, die sich disparat anfühlt, die Durchgangsstation ist von allerlei – ebenso wie sie selbst – entwurzelten Existenzen. Weiterziehend sucht Leonora Halt im Wunsch, sich bei einem Kloster komplett aus der Welt zurückzuziehen und trifft dort auf Pater Guardian, dem sie sich wie einem Vaterersatz – das ist tiefenpsychologisch sehr interessant – bereitwillig und fast in vorauseilendem Gehorsam komplett unterwirft, obwohl dieser das gar nicht einfordert. Dann erlebt sie in der Gemeinschaft des Ordens einen kurzen Moment einer utopischen Freiheit: Sie ahnt, wie die Welt sein könnte, wenn diese nicht bestimmt wäre vom dauernden Urteilen und Beurteilen der Mitmenschen, sondern man einfach man selbst sein kann.

Diese Welt, aus der Leonora einen Ausweg sucht, liegt jedoch im dritten Akt in Trümmern und schaufelt sich in andauernden Kriegen selber das Grab, aus welchem die Geister der Vergangenheit, die Dämonen der alten und neuen Konflikte wiederholt auftauchen und dem Kreislauf von andauernder Vergeltung etwa nicht entgegentreten, sondern ihn vielmehr befeuern. Letztlich kann sich Leonora aus der Prädestination, aus den Fängen ihrer Familie und der Ehrbegriffe nicht befreien, und landet wieder im verstaubten Salon ihrer Herkunft, in dem, gleichsam einem schleichenden Totentanz folgend, nicht nur sie, ihr Bruder und ihr Geliebter, sondern auch eine sich der Veränderung verschließende Gesellschaft ihrem Ende entgegendämmert. Ihr verzweifelt vorgetragener, so schlichter wie ergreifender Appell in ihrer »Pace«-Arie verhallt ohne Wirkung. Was für eine Reise!

Pauliina Linnosaari (Donna Leonora) | Foto: Martin Kaufhold

BW Nach dem Fokus auf die Familiengeschichte im ersten Akt weitet der zweite plötzlich den Blick auf die Gesellschaft. Wie seht ihr die Rolle des Chors? Und welche Rolle spielt die rätselhafte Preziosilla, eine Figur ohne richtige eigene Geschichte, von der aber eine große Wirkung ausgeht?

KG Der Chor steht für ein kaltes Erwachen aus den Träumen in einer neuen Welt. Es ist eine leere, entleerte Gesellschaft auf der Flucht, in der aber auch melancholische Züge auftreten, wenn spirituelle Elemente wie der Pilgerzug auftauchen.

LF Interessant und keineswegs banal ist die Tatsache, dass Verdi selbst sein Werk als Ideendrama bezeichnete. Die erwähnte Familiengeschichte ist in der einen Waagschale der Handlung, in der anderen jedoch die erwähnten Themen wie Standesdünkel, Kriegslust, koloniales Erbe usw. Und diese werden zentral vom Chor und in den von ihm gestalteten Szenen verhandelt. Preziosilla fungiert dabei häufig als eine Art Katalysator von Gefühlen, die schon in der Luft liegen und denen sie dann eine Stimme gibt und sie somit verstärkt und antreibt. Auf der anderen Seite nimmt sie wiederholt die Position einer wissenden, auch vorausahnenden Betrachterin ein, die die Verrohung der sie umgebenden Welt mal ironisch, mal tief melancholisch oder fatalistisch betrachtet, ähnlich wie die Hexen in Shakespeares »Macbeth«.

vorn: Judith Braun (Preziosilla); Opernchor | Foto: Martin Kaufhold

BW Leonora und Alvaro glauben einerseits an ihr vorherbestimmtes Schicksal, versuchen aber andererseits, durch Flucht in die Religion darauf einzuwirken. Welche Rolle spielt die Schicksalskonzeption für euer Konzept? Kann man heute noch an ein unbeugsames Schicksal glauben?

RK Das Ende des zweiten Aktes im Kloster ist der einzige Augenblick von Utopie in dem Stück, das ist ein letztes Stück Himmel am Rand der Welt. Somit ist die Religion hier nicht Flucht vor der Realität, sondern eher eine Zuflucht.

KG Die Flucht in die Religion erfolgt bei beiden aus unterschiedlichen Gründen: Leonora flüchtet in die Einsiedelei, wo sie allein den ganzen Rest des Lebens verbringen will. Alvaro tritt ins Kloster ein, weil er dadurch seine südamerikanische Kultur ablegen will und sich Frieden in einer Gemeinschaft erhofft. Trotzdem bleiben Wut und Rachebedürfnis des Bruders stärker als all diese Bemühungen. Verdi beschreibt in diesem Stück, wie das Schicksal provoziert wird, also menschengemacht ist. Ich würde also die Frage anders stellen, nämlich: Was könnte man unternehmen, den angeblichen Schicksalszusammenhang zu durchbrechen? Bräuchte es mehr Verstand, mehr Stoizismus?

Markus Jaursch (Il Marchese di Calatrava); Pauliina Linnosaari (Donna Leonora) | Foto: Martin Kaufhold

LF Wir fragten uns wiederholt, ob das Stück in seiner Ausgestaltung nicht genauso gut »Macht des Zufalls« heißen könnte. Die Akzentverschiebung Verdis ist nämlich auffällig: Sie konterkariert die in der Entstehungszeit der theatralen Vorlage in der spanischen Literatur vorherrschende Theodizee. Die Vorherbestimmung des Endlichen unterliegt nicht mehr Gott als Inkarnation von Weltvernunft, sondern das Weltgeschehen wird vielmehr gestaltet durch eine quasi blindwütige Abfolge von Zufällen mit weitreichender Wirkung. Die menschliche Existenz ist absurd und vom Zufall bestimmt – eine Erkenntnis, die man vielmehr mit Sartre oder Camus als mit Schicksalsglauben verbinden würde.