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Schlimmer geht immer?

Szenarien über das Ende der Welt faszinieren die Menschheit schon immer. Obwohl der Weltuntergang schon zigmal prophezeit wurde, gibt es die Erde und uns immer noch. Die Lust an Untergängen liegt in der Natur des Menschen – gestillt wird sie in Gedichten, in der Musik, im Kino. Können wir uns ein wirkliches Ende überhaupt noch vorstellen, oder haben wir es zu oft auf der Leinwand gesehen? Die Autorin und Regisseurin Rebekka David im Gespräch.

Gesa Oetting Es gibt unzählige Lieder, Filme, Gemälde, Gedichte über die Apokalypse – was fasziniert dich an den Erzählungen, an den unterschiedlichsten Vorstellungen über das Ende der Welt?

Rebekka David Dass es so viele sind und dass sie schon immer da waren – der Weltuntergang als anthropologische Konstante fasziniert mich. Menschen haben sich schon immer von ihrem eigenen Ende erzählt, und wenn wir auf die lange Geschichte dieses Narrativs zurückblicken, ist es spannend zu sehen, wie sehr konkrete Ereignisse in der Realität darauf einwirken, welche Art von Dystopie wir uns ausmalen. Und auch andersherum funktioniert diese Wechselwirkung: Wenn wir ein bestimmtes Szenario, von dem wir nie dachten, dass es uns jemals direkt betreffen könnte, oft genug im Kino gesehen haben, und es dann aber wider Erwarten doch Realität wird (Beispiel: Triage bei COVID 19), beruhen unsere Entscheidungen und Bewertungen auf dem, was wir nur aus der Fiktion kennen. Und wenn wiederum Klimawissenschaftlerinnen versuchen, potenzielle Zukunftsszenarien so verständlich wie möglich zu formulieren, zeichnen sie ein Bild, das zum Großteil auf Fakten basiert, aber in den kleinen Details, in den Ausschmückungen die es für uns konkret vorstellbar machen, greifen sie zwangsläufig auf das kollektive Imaginäre zurück, das uns alle prägt und sich aus der Masse all dieser Erzählungen zusammensetzt. Diese Geschichten wirken also direkt darauf ein, wie wir uns das Ende der Menschheit durch den Klimawandel vorstellen können und über alle Fragen, die sich daraus ergeben, sollten wir unbedingt miteinander ins Gespräch kommen! 

»Fiktionen über die Zukunft organisieren ja das kollektive Imaginäre, und das wiederum bestimmt, was wir als Wirklichkeit anerkennen, (…)  und wie ich mir wiederum etwas vorstelle, also wie ich die Welt wahrnehme, prägt, wie die Welt ist – Leute, vielleicht müssen wir mehr manifestieren!« (Leo in »The end, my friend«)

GO Warum hat die Menschheit so viel Vergnügen daran, sich ihr Ende auszumalen?

RD Ich glaube, dafür gibt es sehr unterschiedliche Motivationen. Welche ich am interessantesten finde, ist die der Auslagerung der eigenen Angst: Ich kann einer Figur dabei zusehen, wie sie sich durch einen zerstörten Planeten kämpft, vor Zombies oder den außer Kontrolle geratenen Nachbarinnen flieht und den Kometeneinschlag erwartet, ich kann mitfiebern und leiden, ich kann diese Figur bestimmte Ängste durchleben lassen, die ich selbst unterbewusst habe, ja ich könnte sogar fast diese Figur sein, aber ich bin es eben nicht, denn am Schluss kann ich den Laptop einfach zuklappen. Und dann sitze ich da, auf meiner Couch, und bin sehr froh, dass es bei mir noch nicht so schlimm ist, dass das alles denen da passiert, denen in dem kleinen Apparat, und gegen deren Katastrophen sehen unsere realen für den Moment vielleicht etwas weniger dunkel aus.

GO Die Figuren in »The end, my friend« reagieren alle ganz verschieden auf ein möglicherweise nahendes Ende – wie habt du und dein Ensemble die Figuren und ihre jeweilige Position gefunden?

RD Im steten Dialog. Mir war wichtig, fünf unterschiedliche Perspektiven und Verhaltensweisen zu finden, die miteinander in ein fruchtbares Gespräch treten können. Dabei geht es mir nicht darum, den kompletten Diskurs abbilden zu wollen, sondern Positionen zu suchen, die für uns in ihrer Art auch nachvollziehbar sind, deren Ängsten und Verdrängungsmechanismen wir nicht sofort zu unseren eigenen auf Distanz halten können. Und mit diesem Ansatz habe ich mit den Spielenden und dem Team die Figuren entworfen und weiterentwickelt.

GO Was denkst du, was passieren muss, damit endlich was passiert in unseren Köpfen, und vor allem in unserem Handeln?

RD Wenn ich das wüsste, würde ich diesen Abend nicht machen.

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Drei sportliche Komödien

Ein Telefon, das nie aus der Hand gelegt wird und somit eine wesentliche Frage verhindert. Ein Beziehungsstreit, der nach entdeckter Untreue tödlich endet, dann jedoch eine zweite Chance bekommt. Und ein Schwergewichtsboxer, der in allen erdenklichen privaten Peinlichkeiten gezeigt und dessen einfältige Persönlichkeit trotzdem – oder gerade deshalb – mit nationalen Ehren gefeiert wird. Wie verbindet deine Inszenierung diese drei Opernminiaturen von Menotti, Hindemith und Křenek?

Der Gedanke, die drei Opern miteinander zu verbinden, obwohl sie auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben, stand bei mir von Anfang an im Raum. Inspiriert vom letzten Stück über den Boxer kam ich auf die Idee, die gesamte Handlung in einem Fitness-Studio spielen zu lassen. In der Vorbereitung der Inszenierung nahm dieser Gedanke immer mehr Gestalt an. Und es zeigte sich, dass die Stücke so tatsächlich gut zu verknüpfen waren. Ich entdeckte dann auch immer mehr Parallelen innerhalb der Stücke, die ich dann inszenatorisch mit dem Gesangsensemble herausarbeitete.

Der Titel »Studio Amore« drängte sich auf, da es in jedem Stück um irgendeine Art von Liebeshändel geht, um elastische und weniger flexible Paarbeziehungen, könnte man sagen. Aus Ottokar, einer stummen Nebenfigur im »Schwergewicht«, wird bei uns ein Charakter, der durch alle drei Werke hindurch geht. Sie ist der gute Geist des Studios, bei ihr laufen alle Fäden zusammen, sie kennt alle offenen und geheimen Liebesgeschichten. Sie nimmt Anteil, leitet unmerklich die Geschicke und hat auch ihre Amouren. Auf dem Höhepunkt von »Hin und zurück« greift sie dann auch singend aktiv in die Handlung ein, indem sie als Dea ex macchina das Geschehen rückwärts dreht.

Auch im Bühnenbild folgen wir diesem verbindenden Ansatz. Alles spielt in einem Raum, dieselben Requisiten wandern von einem Stück zum nächsten, lediglich die Perspektiven verändern sich durch unterschiedliche Positionen des Mobiliars. Sogar Bewegungsmuster werden aufgegriffen und wiederholt. Eigentlich kennen sich in diesem Studio alle, turnen zusammen und die drei Stücke sind jeweils drei »Exercises« ein- und derselben Sache, nur unterschiedlich temperiert.

Die drei Komödien, darunter die wahrscheinlich kürzeste Oper aller Zeiten, kann man der sogenannten Zeitoper zuordnen, ein Genre, das in den 1920er Jahren, wie der Name schon sagt, Zeit- und Alltagsphänomene moderner Menschen kritisch-satirisch verhandelt, aber auch technische Veränderungen, neue Medien und populäre Musik aufgreift. Kannst du den drei Einaktern heute noch so etwas wie Zeitgenossenschaft abgewinnen?

Wir es haben es in der Oper ja meistens mit alten Stoffen zu tun, und die Aufgabe für uns Theatermacher besteht immer darin, nachzuforschen, was die Stücke uns heute noch sagen. Menottis »Telephone« ist ein gutes Beispiel. 1947 uraufgeführt, war damals die Situation des Telefonierens zu Hause noch recht neu. Da gab es natürlich viel Motivation, sich mit kritischem Witz damit auseinanderzusetzen. Heute ist die Situation eine andere. Ein Leben ohne Telefon ist nicht mehr vorstellbar, das Festnetz zu Hause spielt so gut wie keine Rolle mehr. Da muss man natürlich nicht lange nach Äquivalenten in unserer Zeit suchen. Der Umgang mit Handys, das ständige Posten von Nachrichten und Befindlichkeiten, die Selbstbespiegelung in den Sozialen Medien, der soziale Druck, ständig kommunizieren zu müssen – das alles sind gesellschaftliche Themen von heute, die sich gut auf das Stück übertragen lassen. Die Nichtwahrnehmung des Gegenübers, das etwas sehr Wichtiges kommunizieren möchte, funktioniert sowohl mit dem Schnur- als auch dem Mobiltelefon. Nur ist die Situation heute noch viel brisanter als Mitte des 20. Jahrhunderts. Wir alle wissen um Fluch und Segen dieses kleinen Apparats. Insofern ist das Stück fast visionär!   

Was bietet der Abend musikalisch?

Auch wenn es sich um Fingerübungen der drei Komponisten handelt, haben wir es hier musikalisch mit spannenden Experimenten mit hohem Kunstanspruch zu tun. Es sind Konversationsstücke, eigentlich der Operette, dem Boulevardtheater und dem Kino abgeschaut. Menottis Musik ist wahrscheinlich die gefälligste, lyrischste von den dreien. Darin gibt es kleine Arien, die teilweise den Gestus einer hochdramatischen Oper imitieren. Dazu hat Menotti das Klingeln des Telefons, das Wählen, das Warten am anderen Ende der Leitung etc. wunderbar in Musik gesetzt. Hindemiths Musik ist wesentlich vertrackter und funktioniert weniger psychologisch. Die Charaktere sind in diesem Sinne eigentlich viel skizzenhafter angelegt. Hindemith hat sich die Idee des Zurückspulens der Handlung und der Musik beim Film abgeschaut. Allerdings findet das nicht von Ton zu Ton statt, sondern ganz geschickt von einem formalen Abschnitt zum nächsten. Křenek spielt sehr stark auf Tempo – wie es sich für eine gute Komödie gehört. Seine Musik ist ganz stark von Tanzmusik der Zeit und dem Jazz beeinflusst. Was alle eint, ist das Zitieren von unterschiedlichen Stilen und Reminiszenzen an die Operngeschichte (Mozart!), was sehr schön zu dem Beziehungsmix passt.

Worin liegen für dich Herausforderung und Vergnügen, mit angehenden Sänger*innen zu arbeiten – und dann noch Komödie zu machen?

Obwohl ich schon seit über 25 Jahren mit jungen Sänger*innen arbeite, ist es jedes Mal auf Neue eine besondere Herausforderung, da die meisten Beteiligten kaum szenische Erfahrung mitbringen. In unserer Produktion kommen Student*innen aus ganz unterschiedlichen Semestern zusammen, einige sind erst vor kurzem nach Deutschland gekommen. Genau das macht die Sache spannend. Es ist unendlich schön mitzuerleben, wie die jungen Künstler*innen sich von Probe zu Probe immer mehr öffnen können, sich in ihre Rolle hineinbegeben und eine so lebendige Spielfreude versprühen, die einfach mitreißend ist. Der Weg dorthin ist lang und arbeitsreich, man muss viel Vertrauen aufbauen, aber die Mühe lohnt sich. Wir haben es hier noch mit einer besonderen Challenge zu tun: Nichts ist so schwer wie die scheinbar so leichte Komödie. Letztendlich ist das vergleichbar mit einer sportlichen Technik: Man muss sie verstehen, lernen, üben, das richtige Timing finden und weiterüben. Aber das tun wir ja sowieso immer 🙂  

Die Fragen stellte Stephanie Schulze.

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Mit Brünnhilde im Sängerolymp

Dem Saarbrücker Publikum bereits bestens durch ihre intensiven Darstellungen der Turandot und Isolde bekannt ist Aile Asszonyi. Nachdem die Sopranistin jüngst große Erfolge an der Oper Frankfurt und bei den Bayreuther Festspielen feiern konnte, kehrt sie nun für ein wichtiges Debüt zurück nach Saarbrücken.

Schon 2021/2022 begeisterte Aile Asszonyi mit einem Wagner-Rollendebüt: der Isolde im »Tristan«: »Ihr großer, voll tönender Sopran bringt alle Voraussetzungen für diese wohl anspruchsvollste Partie mit. Eine leuchtende, aufblühende Höhe, die nötigen tieferen Register, saubere Diktion und das erforderliche Volumen«, so Peter Sommereggers Fazit auf klassik-begeistert.de.

Du gibst dein Brünnhilde-Debüt, nicht nur in der »Walküre«, sondern auch in den folgenden Teilen. Was bedeutet diese Rolle für dich?
Aile Asszonyi:
Alle drei Brünnhilden sind natürlich ein riesiges Unternehmen, schon allein wegen der Dimensionen. Die Rolle gehört ganz klar zum Sängerolymp. Durch die pandemiebedingte Verschiebung der »Ring«-Produktion warte ich schon seit vier Jahren darauf, dass es endlich losgeht!

Was sind die musikalischen Herausforderungen der »Walküren«-Brünnhilde?
Aile Asszonyi:
Vor allem, dass der erste Auftritt mit den berüchtigten, sehr hohen »Hojotoho«-Rufen beginnt (die jeder kennt), während der Rest der Rolle im mittleren Register liegt. Außerdem hat Brünnhilde ihre längste und intensivste Szene erst ganz am Ende, während sie zuvor nicht so viel am Stück singt und eher andere Figuren stützt. Zum Beispiel Sieglinde, die für mich die emotionalsten Passagen hat.

Wagner im Genlabor: Freust du dich auf das ungewöhnliche Setting?
Aile Asszonyi:
Durch das »Rheingold « wusste ich ja schon, welche ästhetische Welt mich erwartet. Ich lasse mich gern auf verschiedene Regiekonzepte ein. Für Brünnhilde brauche ich keinen geflügelten Helm. Ich bin gespannt, welche Wege unsere gemeinsame Reise bis zum 11. Februar noch nimmt!
Benjamin Wäntig

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Aus dem Leben eines Kriegsgefangenen – Journal einer FSJlerin

Es ist der 21. November 1947, als »Draußen vor der Tür« seine Uraufführung feiert, jedoch ohne den vermeintlich wichtigsten Zuschauer: Wolfgang Borchert, Autor des Dramas, ist einen Tag zuvor verstorben. Schwerwiegende Verletzungen und Folgen von Gelbsucht und anderen Krankheiten aus seiner Zeit als Soldat und Inhaftierter setzen seinem Leben ein Ende. Kein Wunder also, dass man als Zuschauer*in von dem »Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will« überwältigt von dem Schmerz sein kann, den Protagonist Beckmann, ein Heimkehrer aus sibirischer Kriegsgefangenschaft nach dem zweiten Weltkrieg, auf der Bühne zum Ausdruck bringt. Schließlich musste Borchert nicht lange suchen, um herauszufinden, wie dieser sich wohl anfühlt, hatte er ihn doch selbst erleben müssen.

Nach mehrmaligen Probenbesuchen bei der Erarbeitung des Dramas unter Phillip Preuss´ Regie, will auch ich besser wissen, warum einige Kriegsgefangene erst Mitte der 1950er Jahre in ihre Heimat zurückkehren durften und welche Erfahrungen sie machen mussten. Wieso also dauerte es nach dem Zweiten Weltkrieg so lange, bis alle Gefangenen in ihre Heimat entlassen wurden? Eigentlich sahen die Haager Landeskriegsordnung sowie die Genfer Kriegsgefangenenkonvention eine zügige Heimkehr aller Kriegsgefangenen nach Kriegsende vor.

Allerdings hatten die Alliierten auf der Konferenz von Jalta einen Einsatz deutscher Kriegsgefangener zu Reparationszwecken beschlossen, womit eine sofortige Rückkehr ausgeschlossen war. Zudem wollte die sowjetische Regierung die Haager und Genfer Beschlüsse nicht einhalten, da sich auch die deutsche Wehrmacht diesen Abkommen verweigert hatte. 1947 stimmte die Sowjetunion dennoch dem alliierten Beschluss zu, bis Ende 1948 alle Kriegsgefangenen zu repatriieren, also in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Ausgeschlossen von dieser Regelung waren jedoch von der sowjetischen Regierung verurteilte Kriegsgefangene.

Zerstörtes Mittelfoyer des Theaters. Foto: Archiv P. Rüdell

Einer, der mit dem Schicksal einer langjährigen Kriegsgefangenschaft geschlagen war, ist Hans Kampmann, der mit 21 Jahren inhaftiert wurde. Auf seine Geschichte bin ich in einem Begleitbuch eines ARD-Dreiteilers von Rüdiger Overmans gestoßen, der fünf Wehrmachtssoldaten und ihre Zeit in Kriegsgefangenschaft porträtiert. 

»Wenn man nachts austreten musste und dann wiederkam, war der eigene Schlafplatz von den Nachbarn zur Rechten und Linken belegt. Dann machten wir es, wie man es in Ferkelställen beobachten kann: Wir legten uns oben drauf, und irgendwann sank man nach unten auf seinen Stammplatz zurück. In der ersten Zeit der Gefangenschaft erlebte ich einige Male, dass ein Kamerad morgens nicht mehr von der Pritsche aufstand.«

Tote waren leider insbesondere in den Lagern der UdSSR keine Seltenheit. Bis heute ist ungeklärt, wie viele Menschen in ihnen inhaftiert waren und wie groß der Anteil von Todesfällen unter ihnen war. Schätzungen reichen von einem Sechstel bis hin zu zwei Dritteln. Die zu verrichtende Arbeit der Häftlinge war dabei nur ein Teil des Problems. Kampmann genoss in dieser Hinsicht sogar zunächst das Privileg, als ehemaliger Offizier nur leichte Lagerarbeiten verrichten zu müssen. Der eisigen Kälte und dem Hunger konnte jedoch auch er nicht entgehen.

»Vor uns war kein Tier, keine Pflanze sicher. Ob es ein Igel war oder ein Mops, alles ging durch unsere Mägen.«

Insbesondere bei der Verteilung der wenigen Rationen Brot, die jedem Häftling zustanden, waren Neid und Streit an der Tagesordnung. Kampmann erlebte, wie sich die Gefangenen Verfahren zur möglichst gerechten Aufteilung ausdachten, verschiedenste Arten von Waagen zu bauen versuchten und penibel auf Birkenrinde festhielten, wer welchen Teil vom Brot bekommen hatte.

Kraft gab den Häftlingen oft nur die ungewisse Hoffnung, irgendwann in die Heimat zurückkehren zu dürfen. Kontakt zu ihren Angehörigen herzustellen, war den sowjetischen Gefangenen jedoch kaum möglich, weshalb sie teils zu riskanten Mitteln griffen, um ihre Entlassung zu beschleunigen und sich auf den Nachhauseweg machen zu können:

»Es gab auch welche, die sich bewusst krank machen wollten. Man hatte ja über die Zeit hinweg beobachten können, dass nur die Kranken nach Hause kamen. Sie aßen zum Beispiel viel Salz und kleisterten sich dadurch die Magenwände aus; die Magenzotten verdauten in dem Falle nichts mehr. So verhungerten sie langsam. Andere schluckten Streichholzköpfe, also Schwefel. Oft erreichten sie damit das genaue Gegenteil: Anstatt nach Hause zu fahren, fuhr man sie auf den Friedhof. Die Beerdigungen waren, vornehm gesagt, rustikal. Die Toten ließ man nackt in eine Grube gleiten, denn die Bekleidung war ja noch wertvoll. Die konnte am Tag drauf schon jemand anderes gut gebrauchen.«

Besonders ein Satz aus Hans Kampmanns Erinnerungen ist mir nach meiner Recherche im Gedächtnis geblieben. Er schreibt:

»Meine Jugend wurde mir gestohlen.«

Doch hat Kampmann nicht als Offizier selbst jungen Männern auf der gegenüberliegenden Seite des Schützengrabens „die Jugend gestohlen“? Menschen, um die zuhause gebangt wurde, verwundet oder sogar getötet? Vielleicht wissentlich die Augen vor dem Holocaust verschlossen und ein Regime unterstützt, das unbegreiflich viel Leid in die Welt gebracht hat? Hierrüber ist in Kampmanns Erinnerungen nichts zu lesen.

Zerstörter Rang des Theaters. Foto: Archiv P. Rüdell

Was also nehme ich hauptsächlich aus meiner Recherche zu »Draußen vor der Tür« mit? Dass nichts einfach nur schwarz oder weiß ist. Und dass das Thema Kriegsgefangenschaft viel zu umfangreich für einen einzigen Artikel zu sein scheint. Da es vermutlich nicht nur bei mir ziemliche Wissenslücken offenbart und dringend mehr aufgearbeitet werden müsste, abschließend noch ein paar Lektüretipps:

Rüdiger Overmans in Zusammenarbeit mit Ulrike Goeken-Haidl: »Soldaten hinter Stacheldraht – Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs«, Propyläen Verlag by Econ Ullstein Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2000 (Anmerkung: Alle Zitate aus diesem Artikel von Hans Kampmann entstammen dieser Quelle.)

Spiegel Geschichte: Ausgabe 3/2022 »Kriegsgefangenschaft. Die vergessenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs – wie das Trauma bis heute nachwirkt«, SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Hamburg 2022

Christian Streit: »Keine Kameraden – Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945«, Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, Bonn 1997

Gordon Burgess: »Wolfgang Borchert: Ich glaube an mein Glück – Eine Biographie«, Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2007

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Die lieben Eltern und das liebe Geld

Eine Videoeinführung zu »Die lieben Eltern«
(einfach auf den Pfeil klicken!)

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Was Oscar Wilde mit Hyaluron zu tun hat – Journal einer FSjlerin

Was haben Instagram, Pflegecremes und Fitnessstudios gemeinsam? Gut, ich gebe zu – das war einfach. Alle drei haben in irgendeiner Form mit dem zu tun, dem ich mich in diesem Artikel widmen möchte: der gesellschaftlichen Auffassung von Schönheit, dem Selbstoptimierungswahn und (ungesunden) Körperbildern.

Man könnte meinen, dass der Hype um diese Thematiken gegenwärtig seinen historischen Höhepunkt erreicht hat. Und tatsächlich finden sich eine Vielzahl von Ereignissen aus dem 21. Jahrhundert, die diese These stützen. Um mal einige Beispiele zu nennen: 2002 wurde Botox offiziell als Einsatzmittel für kosmetische Zwecke zugelassen. 2006 wurde die erste Staffel von Heidi Klums Castingshow Germanys next Topmodel ausgestrahlt. 2011 wurde Snapchat, die App die neben lustigen Hundezungen auch eine Menge von vermeintlich optimierenden und hautglättenden Filtern beinhaltet, gelauncht.

Doch ist der Wahn, sich einem gesellschaftlichen Bild von Schönheit anpassen zu wollen, tatsächlich ein Phänomen der Gegenwart? Ist er nicht vielmehr seit Anbeginn der Zeit ein Impuls, für den die Menschheit bereit ist hohe Preise zu zahlen? Dies scheint nicht nur im Hinblick auf bei archäologischen Ausgrabungen gefundene Spiegel oder jahrzehntealte Diätkonzepte schlüssig, sondern auch bei einem Blick auf die Literaturgeschichte, in der sich Schönheitsideale und die Manipulation des eigenen Äußeren wie ein roter Faden durch eine Vielzahl von Werken ziehen, wie z.B. in Schneewittchen, dem Märchen, in dem Schneewittchens Stiefmutter die Prinzessin umbringen lassen möchte, da diese »tausendmal schöner« ist als sie.

Der Kostümentwurf für Basil Hallward (©Zana Bosnjak)

Im November 2023 hat in der Alten Feuerwache eine vom Regisseur Alexander Nerlich gefertigte Bühnenadaption von Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray Premiere gefeiert. Und auch darin geht es um das Thema Sehnsucht nach ewiger Schönheit und Jugendlichkeit. Dem Protagonisten Dorian Gray bietet sich die Möglichkeit, diese Sehnsucht zu stillen, als sein Freund, der Maler Basil Hallward, ein Portrait von ihm anfertigt. Dorians Wunsch, das Bild möge an seiner Stelle altern, damit er niemals den Verfall seiner eigenen Attraktivität zu spüren bekommen muss, wird auf unerklärliche Art und Weise erhört. Doch zu spät findet der junge Mann heraus, womit er sein neues Leben bezahlen muss: Er wird zum Narzissten, Heimlichtuer und schließlich sogar zum grausamen Mörder.

Die erste Veröffentlichung von »Das Bildnis des Dorian Gray«

Ist die Moral der Geschichte also, dass es verwerflich ist, sich Schönheit zu wünschen? Falls ja, legt Wilde sich mit dieser These mit einer Vielzahl von Menschen an – um nicht zu sagen, mit allen. Denn der Wunsch nach vermeintlicher Schönheit, diesem Begriff, der mir mit zunehmendem Reflektieren immer ungreifbarer zu werden scheint, ist so tief in uns und der Gesellschaft verankert, dass man sich fragen muss, ob es überhaupt noch möglich ist, sich von dem Ziel möglichst »schön« zu sein, zu distanzieren. Denn selbst wenn man in seinem Leben noch keinen einzigen Gedanken an sein Äußeres verschwendet haben sollte, ist der gesellschaftlich genormte Begriff von Schönheit so eng mit Erfolg und Privilegien verknüpft, dass der Wunsch sie zu erlangen in Wünschen nach einer erfolgreichen Karriere, Familiengründung oder einer gehobenen Position in der Gesellschaft aus meiner Sicht inkludiert ist.

Wer Karriere machen will, hat laut Studien von z.B. dem »Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit« einen Vorteil, wenn er oder sie als attraktiv und ansehnlich gilt. Auf Dating-Apps wie Tinder wird ein möglicher Partner/eine mögliche Partnerin nur aufgrund des Äußeren innerhalb von Sekunden abgelehnt. Und dem gängigen Schönheitsideal entsprechende Menschen erhalten sogar bessere Noten, ein hilfsbereiteres soziales Umfeld und mildere Urteile in Gerichtsprozessen.

Der Schönheitswahn ist also ein gesellschaftliches Phänomen und im kollektiven Gedächtnis internalisiert. Interessant, dass wir ihn dennoch als verwerflich und unsympathisch brandmarken und die Maxime gilt: Gib dir Mühe schön zu sein, aber zeig niemandem wie viel Arbeit es dir wirklich bereitet. Und eben jene Maxime ist, wie schon angedeutet, kein neues Phänomen – erinnern wir uns doch mal an umschminkte Augen im alten Ägypten, wallende Lockenperücken im Barock, die Erfindung des Korsetts und ähnliches. Auf der einen Seite beängstigend, da es unmöglich erscheint, dass unsere Gesellschaft jemals ihre oberflächliche Beurteilung des Menschen aufgibt.

Auf der anderen Seite ist der Gedanke beruhigend, dass es vollkommen menschlich ist, sich von Schönheitsidealen unter Druck gesetzt zu fühlen, da die gesellschaftliche Erwartungshaltung, in sein Äußeres investieren zu müssen, Jahrhunderte Zeit hatte zu wachsen. Außerdem erinnert einen die Tatsache, dass innerhalb der letzten Jahrzehnte permanent unterschiedliche Körperformen als Ideal angepriesen wurden, daran, dass auch die aktuell geltenden vermeintlichen Schönheitsmerkmale nur eine Modewelle sind, die in einigen Jahren vielleicht schon von neuen abgelöst werden.

Wozu also einem Ideal nachrennen, das sowieso unerreichbar und ständig im Wandel ist? Leichter gesagt als getan, aber vielleicht können wir versuchen, uns diese Frage in Zukunft vor Augen zu halten, wenn wir mal wieder an unseren scheinbaren Makeln verzweifeln.

Der Kostümentwurf für Sibyl Vane (©Zana Bosnjak)

Doch zurück zu Dorian Gray: Der Klassiker aus dem Jahr 1890 bleibt thematisch zeitgemäß, was sich auch in der Inszenierung in der Feuerwache zeigt. So lassen sich zum Beispiel die Kostüme, entworfen von Zana Bosnjak, weder in eine Epoche, noch in einen Stil, ein Land oder eine Gesellschaftsschicht einordnen. Sie dienen eher dazu die Zeitlosigkeit der Handlung zu unterstreichen und können gleichzeitig Mittel zur Abstrahierung der Geschichte werden: Ist es nicht auch möglich, dass Komponenten der Handlung sich nur in Dorians Kopf abspielen? Sind nicht einige der Figuren nur eine Projektionsfläche von Teilen seiner selbst?

Auch das Bühnenbild von Thea Hoffmann-Axthelm, bestehend aus einem vollgestellten Dachboden mit einem leuchtenden Quadrat in der Mitte und einem beweglichen Plafond, ist abstrakt gehalten und kann als Stellvertreter für das Chaos in Dorians Psyche verstanden werden. Die Atmosphäre, die bei diesem Ausflug in Dorians Gedankenwelt herrscht, wird maßgeblich beeinflusst von der Musik, die Malte Preuss beigesteuert hat. Sie wird im Laufe des Stückes immer mystischer und bedrohlicher, sowie auch Dorian sich vom Unschuldslamm zur Gefahr für sich und seine Mitmenschen entwickelt.

Trotz all dieser künstlerischen Mittel versucht Nerlichs Inszenierung nicht mit dem Finger auf eine Kernaussage zu zeigen oder den Zuschauer*innen eine Moralpredigt zu halten. Vielmehr darf und soll jeder für sich merken, welche Gedanken das Werk in einem anstößt. Dieser Artikel konnte vielleicht einen kleinen Einblick in die meinen geben.

Ach ja, seid nett zu euch und euren Körpern. Kein Schönheitsideal dieser Welt ist eine Gefährdung eurer psychischen sowie physischen Gesundheit wert. Zum Schluss noch ein Fun Fact: Tatsächlich haben Forscher*innen des »British Medical Journal« herausgefunden, dass Menschen, die regelmäßig Kulturveranstaltungen beiwohnen, eine höhere Lebenserwartung haben! Wenn das mal nicht noch ein Grund mehr ist, ins Theater zu gehen.

Lenke Nagy