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Straßenumfrage zu »The end, my friend«

Wie stellen wir uns unser Ende vor? Anlässlich der Produktion »The end, my friend« haben Dramaturgin Gesa Oetting und FSJlerin Lenke Nagy Passant*innen zu möglichen Weltuntergangsszenarien befragt. Ihre Antworten finden Sie in diesem Video (auf den Pfeil klicken).

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Schlimmer geht immer?

Szenarien über das Ende der Welt faszinieren die Menschheit schon immer. Obwohl der Weltuntergang schon zigmal prophezeit wurde, gibt es die Erde und uns immer noch. Die Lust an Untergängen liegt in der Natur des Menschen – gestillt wird sie in Gedichten, in der Musik, im Kino. Können wir uns ein wirkliches Ende überhaupt noch vorstellen, oder haben wir es zu oft auf der Leinwand gesehen? Die Autorin und Regisseurin Rebekka David im Gespräch.

Gesa Oetting Es gibt unzählige Lieder, Filme, Gemälde, Gedichte über die Apokalypse – was fasziniert dich an den Erzählungen, an den unterschiedlichsten Vorstellungen über das Ende der Welt?

Rebekka David Dass es so viele sind und dass sie schon immer da waren – der Weltuntergang als anthropologische Konstante fasziniert mich. Menschen haben sich schon immer von ihrem eigenen Ende erzählt, und wenn wir auf die lange Geschichte dieses Narrativs zurückblicken, ist es spannend zu sehen, wie sehr konkrete Ereignisse in der Realität darauf einwirken, welche Art von Dystopie wir uns ausmalen. Und auch andersherum funktioniert diese Wechselwirkung: Wenn wir ein bestimmtes Szenario, von dem wir nie dachten, dass es uns jemals direkt betreffen könnte, oft genug im Kino gesehen haben, und es dann aber wider Erwarten doch Realität wird (Beispiel: Triage bei COVID 19), beruhen unsere Entscheidungen und Bewertungen auf dem, was wir nur aus der Fiktion kennen. Und wenn wiederum Klimawissenschaftlerinnen versuchen, potenzielle Zukunftsszenarien so verständlich wie möglich zu formulieren, zeichnen sie ein Bild, das zum Großteil auf Fakten basiert, aber in den kleinen Details, in den Ausschmückungen die es für uns konkret vorstellbar machen, greifen sie zwangsläufig auf das kollektive Imaginäre zurück, das uns alle prägt und sich aus der Masse all dieser Erzählungen zusammensetzt. Diese Geschichten wirken also direkt darauf ein, wie wir uns das Ende der Menschheit durch den Klimawandel vorstellen können und über alle Fragen, die sich daraus ergeben, sollten wir unbedingt miteinander ins Gespräch kommen! 

»Fiktionen über die Zukunft organisieren ja das kollektive Imaginäre, und das wiederum bestimmt, was wir als Wirklichkeit anerkennen, (…)  und wie ich mir wiederum etwas vorstelle, also wie ich die Welt wahrnehme, prägt, wie die Welt ist – Leute, vielleicht müssen wir mehr manifestieren!« (Leo in »The end, my friend«)

GO Warum hat die Menschheit so viel Vergnügen daran, sich ihr Ende auszumalen?

RD Ich glaube, dafür gibt es sehr unterschiedliche Motivationen. Welche ich am interessantesten finde, ist die der Auslagerung der eigenen Angst: Ich kann einer Figur dabei zusehen, wie sie sich durch einen zerstörten Planeten kämpft, vor Zombies oder den außer Kontrolle geratenen Nachbarinnen flieht und den Kometeneinschlag erwartet, ich kann mitfiebern und leiden, ich kann diese Figur bestimmte Ängste durchleben lassen, die ich selbst unterbewusst habe, ja ich könnte sogar fast diese Figur sein, aber ich bin es eben nicht, denn am Schluss kann ich den Laptop einfach zuklappen. Und dann sitze ich da, auf meiner Couch, und bin sehr froh, dass es bei mir noch nicht so schlimm ist, dass das alles denen da passiert, denen in dem kleinen Apparat, und gegen deren Katastrophen sehen unsere realen für den Moment vielleicht etwas weniger dunkel aus.

GO Die Figuren in »The end, my friend« reagieren alle ganz verschieden auf ein möglicherweise nahendes Ende – wie habt du und dein Ensemble die Figuren und ihre jeweilige Position gefunden?

RD Im steten Dialog. Mir war wichtig, fünf unterschiedliche Perspektiven und Verhaltensweisen zu finden, die miteinander in ein fruchtbares Gespräch treten können. Dabei geht es mir nicht darum, den kompletten Diskurs abbilden zu wollen, sondern Positionen zu suchen, die für uns in ihrer Art auch nachvollziehbar sind, deren Ängsten und Verdrängungsmechanismen wir nicht sofort zu unseren eigenen auf Distanz halten können. Und mit diesem Ansatz habe ich mit den Spielenden und dem Team die Figuren entworfen und weiterentwickelt.

GO Was denkst du, was passieren muss, damit endlich was passiert in unseren Köpfen, und vor allem in unserem Handeln?

RD Wenn ich das wüsste, würde ich diesen Abend nicht machen.

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Die lieben Eltern und das liebe Geld

Eine Videoeinführung zu »Die lieben Eltern«
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Fragen an den Schauspieler Raimund Widra

Lieber Raimund, mittlerweile spielst Du  »Die Leiden des jungen Werther« schon im siebten Jahr in Saarbrücken. Was bedeutet Dir diese Produktion?

Die Arbeit ist bereits 2014 entstanden und ich schätze, dass ich bald 100 Vorstellungen gespielt habe, soviel wie von keinem anderen Stück. Vor jeder Vorstellung gehe ich für mich einmal durch den Text. Ich habe diese Worte also schon unzählige Male gesprochen und es bereitet mir immer noch große Freude. Wenn ich dann eine Vorstellung spiele, versuche ich jedes Mal aufs Neue, kleine Nuancen im Text anders zu erspielen und die Gedanken auf unterschiedlichem Wege zu greifen. Die Tatsache, dass ich bereits so viele Vorstellungen gespielt habe, gibt mir die Freiheit, dabei spielerisch etwas zu wagen, ohne genau zu wissen, wohin es mich an diesem Abend treibt. Ich kann mich darauf verlassen wieder auf Spur zu kommen, wenn ich mal aus der Kurve fliegen sollte. Und dennoch ärgere ich mich jedes Mal, wenn mir eine Passage verrutscht. Das ist in diesen Momenten aber eher eine Frage fehlender Konzentration, als des zu hohen Risikos – das zahlt sich meist aus!

Der Regisseur Maik Priebe hat diese Inszenierung schon am Theater Magdeburg mit Dir erarbeitet. Was hat sich für Dich von der Spielstätte in Magdeburg im Vergleich zur Alten Feuerwache in Saarbrücken verändert?

Ich habe das Stück in Magdeburg in drei recht verschiedenen Spielstätten gespielt, auf einigen Gastspielen und hier in Saarbrücken, neben der Feuerwache und der sparte4 auch schon einmal auf der Vorbühne im Staatstheater. Der Abend hat sich immer gut anpassen können. Ursprünglich wurde er für ein Foyer konzipiert und war mit ungefähr 60 Plätzen auf einer kleinen Tribüne eine ziemlich intime Angelegenheit. Das ändert sich natürlich, wenn der Saal größer wird. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass sich auch die kleinen, schwebenden Momente in einem großen Raum gut einlösen, vor allem, weil sich zum Ende hin die formalen Mittel der Inszenierung so auf die Sprache und die Emotion fokussieren.

Du kannst die Vorstellung »Die Leiden des jungen Werther« auch in Englischer Sprache spielen. Wie kam es dazu?

Grund dafür ist ein Gastspiel in der Ukraine gewesen. Das war 2015. Ich spreche weder Ukrainisch, noch Russisch, aber wir wollten den Abend möglichst vielen Zuschauern zugänglich machen. Ich habe dann vorgeschlagen, es auf Englisch zu spielen. Ich hatte das Stück zu diesem Zeitpunkt schon oft auf Deutsch gespielt und fühlte mich allgemein im Englischen recht sicher, weil ich mal Austauschschüler in England war (die Hybris eines jungen Schauspielers). Der Werther ist natürlich auch ins Englische übersetzt und die Textfassung ließ sich leicht übertragen. Wir mussten die Textstellen ja nur in der Übersetzung wiederfinden. Für das eine oder andere Extempore, das nicht von Goethe stammt, habe ich selbst nach Entsprechungen gesucht. Das Auswendiglernen mit Unterstützung von Muttersprachlern war dann eine Fleißarbeit. Bei einem zweiten Gastspiel in der Ukraine, diesmal in Saporischschja, habe ich aber auf Deutsch gespielt, wieder mit Ukrainischen bzw. Russischen Übertiteln. Ich würde mich sehr freuen, wieder dort spielen zu können.

Der Regisseur Maik Priebe, der mittlerweile Schauspieldirektor in Neustrelitz und Neubrandenburg ist, hat Dich mit dieser Produktion eingeladen. Wie ist es für Dich mit dieser Arbeit auf Gastspiel-Reise zu gehen?

Ein Gastspiel ist immer eine besondere Sache. Die Gegebenheiten sind einem fremd und es gibt wahrscheinlich ein paar Unwägbarkeiten auszuräumen, meist in sehr begrenzter Zeit. Das ist eine schöne Herausforderung. Außerdem kennen einen die Zuschauer nicht. Ich bin ja nun schon eine ganze Weile hier und wer, wie viele unserer Zuschauer*innen, regelmäßig kommt, wird kaum an meiner Nase vorbeigekommen sein. Es gibt hier für mich eine gewisse Aura des Vertrauten, wenn ich das mal etwas schwammig formulieren darf. Aber der vollkommen unvoreingenommene Publikumsblick, der mich beim nächsten Gastspiel erwarten wird, hat auch einen großen Reiz. Außerdem freue ich mich, dass Maik Priebe mich an seine neue Wirkungsstätte eingeladen hat, denn ich fühle mich ihm, heute wie damals, freundschaftlich verbunden.

Die Fragen stellte Horst Busch, Chefdramaturg

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»Love creates something that was not there before«

Am Valentinstag 1998 betrat am kleinen New Yorker Jane Street Theatre eine Figur die Bühne, die Kultstatus erlangen sollte: Hedwig. Als Kämpferin, Rockstar, Versehrte, Heimatlose, sang sie sich in die Herzen einer internationalen Fangemeinde und traf einen Nerv der Zeit.

Zum Artikel: »Look at the woman I’ve become« oder Wann ist eine Frau eine Frau?

Es war ein Überraschungserfolg für den Schauspieler John Cameron Mitchell und den Musiker Stephen Trask, die sich Anfang der 1990er Jahre zufällig in einem Flugzeug kennenlernten, ihre Leidenschaft für Rockmusik teilten und in Sachen Karriere beide auf der Suche nach dem nächsten großen Ding waren. Trask spielte damals in der Band eines Nachtclubs in Tribeca, dessen SqueezeBox-Parties zum Hafen wurde für »all the strange Rock’n’Rollers«, Punk-Rocker, die queere Community, Dragqueens und -kings, die eine Alternative zu den üblichen House- und Technoveranstaltungen suchten. Dort entwickelte Mitchell auf Grundlage von autobiografischen Episoden – als Sohn eines US-Generals lebte er zeitweise in Berlin; in Kansas war er mit einer deutschen Militärsgattin befreundet, die ihn zu Hedwig inspirierte – mit Stephen Trasks Songs und einer gehörigen Portion Glamrock jenen Charakter, der schließlich international für Furore sorgen sollte. Nach mehr als 850 Vorstellungen Off-Broadway wurde die Geschichte mit Mitchell in der Hauptrolle verfilmt. Die erste Broadway-Produktion 2014 mit Neil Patrick Harris als Hedwig gewann zahlreiche Preise, u. a. mehrere Tony-Awards. Im Mainstream des kommerzialisierten Betriebes angekommen, gecovert, kopiert, hat sich Hedwig ihren Underdog-Charme bewahrt. Sie tingelt mit ihrer Band The Angry Inch weiterhin über die großen und kleinen Theaterbühnen und erzählt in zehn Songs, deren musikalischer Horizont von Glamrock über Punk und Country bis zu Rockballaden reicht, ihre Geschichte.

Die Musik war Hedwigs erste Liebe. Aufgewachsen als Hansel Schmidt in Ostberlin, vom Vater verlassen und der Mutter mehr geduldet als behütet, hört der einsame »irregeleitete Girlyboy« in der Enge seines Ofens amerikanische Rocksongs aus dem US-Army-Radio und in ihnen eine ungekannte Freiheit. Mitte zwanzig, ungeküsst und der Universität verwiesen, öffnet sich eine Tür in eine bessere Welt in der Begegnung mit dem amerikanischen GI Luther Robinson. Auf Spaziergang durch die Ruinen Berlins verguckt sich dieser in den zarten Hansel und lockt ihn als Sugar Daddy mit Milky Ways und Gummibärchen in den goldenen Westen. Den Geschmack von Liebe und Freiheit im Mund willigt Hansel zur Hochzeit mit Luther ein. Mit Perücke, gefälschtem Pass und dem Namen der Mutter fehlt noch ein entscheidendes Detail zum Glück: Um heiraten und ausreisen zu können, muss er ganz Frau werden. Luther und die Mutter drängen ihn zu einer Geschlechtsoperation. Doch der Eingriff geht schief und hinterlässt zwischen ihren Beinen jenen »angry inch«, eine zollgroße vernarbte Wulst, die sie fortan zwischen den Geschlechtern stehen lässt. Das erhoffte Glück weicht nüchternen Tatsachen. Schon bald von Luther verlassen, muss Hedwig in der Tristesse eines Trailerparks im tiefsten Kansas am Fernsehbildschirm mitansehen, wie in Berlin die Mauer fällt. Fortan schlägt sie sich mit Gelegenheitsjobs durch – Auftritte in schäbigen Bars, Babysitten, Prostitution. Sie nimmt sich des Teenagers Tommy an, bringt ihm alles über Musik bei und meint in ihm ihre große Liebe, ihr verlorengeglaubtes Gegenstück gefunden zu haben. Doch auch hier findet sie kein Glück: Tommy lässt sie fallen, als sich seine große Rockkarriere anbahnt. Während er in Stadien ihre Songs spielt, reist Hedwig ihm mit ihrer Band The Angry Inch hinterher. Immer an ihrer Seite ist Roadie-»Ehemann« Yitzhak, der Hedwigs permanenten Provokationen und Attacken infolge ihrer eigenen ausgesetzt ist, bis auch sein Moment kommen wird.

Hedwigs Geschichte kann als düsteres Märchen über ein Kind gelesen werden, das ohne Liebe aufwachsen musste und schon früh seine Einzigartigkeit entdeckt. Ihre Suche nach Liebe und Vervollkommnung fußt auf einer Episode in Platons »Symposium«, auf die der Song »The origin of love« Bezug nimmt. Im Mythos von den Kugelmenschen erklärt dort der Komödiendichter Aristophanes die Herkunft sexueller Vorlieben in Form einer Allegorie: Ursprünglich war die Menschheit in drei Geschlechter unterteilt, denn es gab neben männlichen und weiblichen ein drittes, das Anteil an beiden hatte. Ihre Körper waren von kugelförmiger Gestalt mit zwei Köpfen, vier Armen, vier Beinen und zwei Geschlechtsteilen. Zeus, der die Kraft und Übermacht der Kugelmenschen fürchtete, schnitt sie in zwei Hälften, damit sie den Göttern nicht gefährlich werden konnten. Seitdem sind die Menschen von der Suche getrieben, sich mit ihrer verlorengegangenen ursprünglichen Hälfte zu vereinen. Aus Mitleid verlegte Zeus ihre Genitalien nach vorn, damit sie Kinder zeugen oder wenigstens in der Vereinigung Befriedigung finden konnten. So kam das Begehren in die Welt. Jener Mythos, der letztendlich ein binäres Geschlechterverständnis nicht überwinden kann, wird zu Hedwigs Urerzählung. Ihre Liebesphilosophie steht somit konträr zu der katholisch geprägten Sicht Tommys, der sein Verständnis des Begehrens auf die Genesis und den Sündenfall bezieht. Bezeichnenderweise tauft sie ihn mit dem Namen »Gnosis« für Erkenntnis. Dass sie diese durch die schmerzvolle Enttäuschung revidieren muss, sich auch hier etwas vorgemacht zu haben, ist eine weitere Etappe auf ihrem Weg zu sich selbst.

Hedwig erzählt auch über die transformative Kraft der Kunst. Auf der Grenze zwischen den Geschlechtern stehend, begegnet sie der körperlichen und seelischen Versehrtheit, dem Gefühl der Unvollständigkeit und dem Ausloten der eigenen Identität mit einer Performance. Schillernd, erotisch, provokant: Glam heißt das Zauberwort, das hier Pate steht für einen Stil, der in den 1970er Jahren ausgehend von Großbritannien zahlreiche kulturelle Bereiche wie Mode, Musik, Film und bildende Kunst erfasste. Glam lässt sofort an extravagante Outfits, wilde Frisuren und grelle Schminke denken. Der Bruch mit allem Natürlichen, Authentischen – wie es die Hippiebewegung intensiv auslebte – bedeutete eine Überbetonung des Künstlichen in jeglicher Hinsicht. Der eigene Körper wurde mit Hang zum Exhibitionismus eingesetzt, um sich außerhalb der Norm zu verorten. Mit Strategien der Selbstinszenierung konnte man in den Status eines strahlenden Superstars, eines schillernden Aliens oder eine glamouröse Hollywood-Rock-Diva gehoben werden. Begriffe von Weiblichkeit und Männlichkeit begannen sich hin zu einem diffusen Geschlechterverständnis aufzulösen: Jungs trugen Frauenkleider, Mädchen spielten die harten Kerle, androgyne Facetten wurden betont. Die Tradition des Crossdressings in den performativen Künsten als Vorreiter des Drag beginnt sich hier weiter auszudifferenzieren. Das Spiel mit wechselnden Rollen und Masken durchdringt die (Selbst-)Darstellung von Leben und Identität in einer Welt moderner Konsumkultur und Massenmedien.

Unter dem glitzernden Mantel der Rockmusik steckt eine Pre-Punk-Attitüde, die die soziale Ordnung gehörig in Frage stellt. Indem Identitäten als fluide, zersplittert und wandelbar verstanden werden, stellt Glam implizit die Frage, ob so etwas wie vorgegebene Identität überhaupt existiert.

David Bowie ist mit seinen außerirdischen Inszenierungen, den androgynen Verwandlungen und ständigen Neuerfindungen sowie der Massenkompatibilität seiner Musik unerreichter Prototyp dieser Zeit. Bei aller Ambivalenz ihrer Inszenierungen und der nicht zu unterschätzenden Bedeutung für die homosexuelle Emanzipationsbewegung ist die Glam-Rock-Szene doch vorrangig männlich: Neben Marc Bolan und T.Rex, Slade, Roxy Music, The New York Dolls oder auch Lou Reed, um nur einige zu nennen, ist Suzie Quatro in den 1970ern eine der wenigen weiblichen Superstars. Unter Einfluss der sich überlappenden Glam-Punk-Rock-Szene standen auch Musiker wie Iggy Pop und Lou Reed oder später Bands wie Queen, Kiss oder The Runaways mit Joan Jett. Die Strahlkraft des Glam reicht weit über die Zeit hinaus zu Punk, Disco, bis hin zu unterschiedlichen Pop-Rock-Größen von heute wie Peaches, Marilyn Manson, Beyoncé oder Lady Gaga, die das Erbe des Glam auf je ihre Art weitertragen.

Hedwig reiht sich mit ihrer Performance ein in die Riege der ikonischen Rockstar-Figuren, die mit dem Ungreifbaren und Doppeldeutigen spielen. Unter der schillernden Oberfläche offenbaren die Songs immer weitere Facetten ihrer selbst und lassen ein bisschen tiefer hören, ein bisschen mehr verstehen und fühlen, wer sich unter all den Schichten eigentlich verbirgt.

Stephanie Schulze

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»Look at the woman I’ve become« oder Wann ist eine Frau eine Frau?

Dein Debüt am Saarländischen Staatstheater ist eine Wiederbegegnung mit Hedwig. 2017 hast du in dieser Rolle dein professionelles Musical-Debüt in Frankfurt gegeben. Wie beschreibst du deine Beziehung zu dieser Figur?

Zum Artikel:  »Love creates something that was not there before« – Hedwig erzählt von der Liebe

Hedwig ist für mich musikalisch und inhaltlich eine der spannendsten Figuren im Musical. Mit all den Realitäten, die sie an dem Abend bespricht, gibt es so wahnsinnig viel Irreales. Da ist natürlich gleich die Frage nach ihrer Identität: Ist sie eine Frau? ist sie eine Dragqueen? Ist sie trans*? Oder nichts von dem? Eigentlich passt sie in diese ganzen Muster überhaupt nicht hinein, sondern sie ist eine Kunstfigur. Gleichzeitig trägt sie ganz viel Wahrheit in sich, indem sie so viel von sich preisgibt. Mich fasziniert die Annahme, dass sie jeden Abend eigentlich neu entscheidet, was sie in dem Konzert über sich erzählt und was nicht. Und mit dieser Dynamik spiele ich: Was ist wahr? Was ist übertrieben, vielleicht erfunden?

Welche neuen Seiten hast du an Hedwig kennengelernt?

Das habe ich mich neulich auch gefragt. Mache ich eigentlich alles genauso? Natürlich habe ich meine Art, Hedwig zu sprechen, mich auf diesen hohen Schuhen zu bewegen, meine eigene Körperlichkeit. Damals in Frankfurt war ich die Zweitbesetzung. Hier in Saarbrücken kann ich viel mehr Kreieren, meine eigene Hedwig erfinden. Ich muss gar nicht jede Frage über Hedwig beantworten können. Das kann jede Produktion und jede*r Zuschauer*in für sich neu. Die Dinge in einer Uneindeutigkeit zu belassen, macht es so spannend.

Hedwig zieht ihre »OneWoMan*Show« durch und doch setzt sie sich ständig ins Verhältnis zu den Anderen – den Anwesenden, und vielleicht noch entscheidender, zu den Abwesenden, besonders ihrer verlorenen Liebe Tommy.

Der Abend ist auch deswegen so besonders und unberechenbar, weil Hedwig relativ wenig mit den anderen Personen auf der Bühne agiert, sondern wichtiger ist das Spiel mit dem Publikum. Natürlich habe ich einen Text und die Inszenierung, aber das, was an diesem Abend passiert, ist ganz entscheidend von den Reaktionen der Zuschauer*innen abhängig. Das mag ich. Hedwig hat Spaß daran, die Episoden aus ihrer Vergangenheit wirklich erlebbar zu machen und das Publikum in ihre Geschichte reinzuziehen. »Das spielen wir jetzt mal eben zusammen nach,« übertrieben gesagt. Sie hat Spaß daran, den Personen aus ihrer Vergangenheit ihre Stimme zu geben, ihre einzigartige Körperlichkeit. Über Jahre hat sie sich eine Performance gebaut, um die eigene Geschichte einerseits künstlerisch zu verarbeiten. Andererseits gibt ihr das ein Gefühl von Sicherheit. Wie ein Panzer, der sich dann im Laufe des Konzerts nach und nach dekonstruiert. Sie könnte das ja alles viel blumiger malen. Aber sie geht immer dorthin, wo es weh tut. Es gibt Momente, an denen sie tiefer blicken lässt, dann aber schnell wieder versucht, Fassung zu gewinnen. Sie bricht zusammen, geht ab, zieht sich um und kommt strahlend wieder hervor. Alles wieder gut. The show must go on.

Welche Rolle spielen Kostüm, Perücke und Schminke? Ist das mehr Fassade oder wichtiger Teil der Identität?

Das ist Fassade, Selbstschutz, und gleichzeitig wichtiger Teil ihrer Selbstfindung. Hedwig steht zwischen Mann und Frau, ist aber ganz klar eine Fiktion mit dieser schiefgegangenen Operation. Sie klebt sich Brüste an und hat diesen »angry inch« da unten, alles Weitere wird ja gar nicht thematisiert. Das ist ja anders als bei transidentitären Menschen, die sich im falschen Körper fühlen. Für mich ist sie eigentlich nach wie vor ein schwuler Junge, dem es der Schritt in die Freiheit wert war, sein Geschlechtsteil zu opfern. Dabei ist die Fassade eine weibliche. Und wenn die Welt von ihr will, dass sie nur als »Frau« frei sein kann, dann zeigt sie der Welt, was eine »Frau« alles sein kann. »You’ll buy me the dress, and I’ll be more woman than a man like you can stand«, heißt es in ihrem Song »Sugar Daddy«. Dann bin ich mehr Frau, als eine Frau je sein könnte – diese Haltung habe ich mir für meine Hedwig vorgenommen. Sie ist kein Mensch für halbe Sachen. Diese Show erzählt aber auch etwas darüber, wie sie ohne Schminke, ohne Fassade, ohne die Anderen, vielleicht sogar ohne die Musik allein mit sich selbst glücklich sein kann.

Gelingt es ihr in der Musik näher bei sich selbst sein?

Die Musik ist ihre erste große Liebe. In der Musik kann sie sich mit all ihren Facetten ausdrücken, in ihre Songs hat sie alles von sich reingelegt. Dort hat sie eine Souveränität, die sie sonst nicht hat. Und wo sie die Kontrolle hat, da kann sie es auch ausstrahlen. An dem Konzertabend verliert sie diese eben immer wieder zwischen den Songs.

Musikalisch mäandert der Abend zwischen Glam-Rock, Grunge, Country und soften Rock-Balladen. Gibt es einen Song, in welchem du Hedwig am nächsten kommst? Einen Lieblingssong?

»Wig in a box«. Der Song ist musikalisch extrem vielseitig und macht dabei unglaublich Spaß. Eigentlich bringt er genau ihre Geschichte auf den Punkt. Sie muss den Weg, den sie eingeschlagen hat, weitergehen, um ihr Glück zu finden und erfolgreich zu sein, und sei es mit Make-Up und Perücke. Die Perücke ist ein Relikt aus einer anderen Zeit und wird zu einem wichtigen Symbol; sie kann sie immer wieder aufziehen und sich damit rausziehen aus dem Loch. Gleichzeitig ist das wie ein Bumerang: Sie kommt immer wieder dorthin zurück. »The origin of love« – »Bevor die Liebe entstand« ist auch ein zentraler Song, denn er erzählt uns, woher ihre Suche nach der anderen Hälfte kommt. Die Songs sind vielleicht eher noch ein Fenster zu ihrer Seele als die gesprochenen Texte.

Seit der Uraufführung von »Hedwig and the Angry Inch« sind 25 Jahre vergangen. Wie ist das Stück für dich im Hinblick auf seine politische Agenda gealtert?

Auch wenn queere Themen und Anliegen der LGBTQIA+-Community mehr ins Bewusstsein gerückt sind, gibt es noch viel Unsicherheit. Vielen, mich eingenommen, fällt es schwer, da genau zu differenzieren. LGBTQIA+ – was ist aktuell der richtige Ausdruck? Das verändert sich oder wird von Gruppe zu Gruppe anders definiert. Was versteht man jetzt unter Begriffen wie »trans« oder »nicht-binär«? Wie werden Grenzen gezogen? Und woher weiß ich, was das Selbstverständnis dieser oder jener Person ist? Andererseits nehme ich heute auch einen großen Verdruss gegenüber dem Thema war – ähnlich beim Thema Gendern. Das ist so ein »Hassfeld« geworden für Anti-LGBTQIA+ Einstellungen. Und das ist dramatisch. Ähnlich wie beim Umgang mit der Klimakrise. Da gibt es auch eine Anti-Haltung aus Angst, die eigene Komfortzone bedroht zu sehen. Hedwig ist ja keine typische queere Rolle bzw. sie ist als Kunstfigur vielleicht wenig beispielgebend. Vielleicht auch, weil ihr eigentliches Thema ist, wie man im Leben Liebe, Glück und das Gefühl von Ganzheit finden kann. Und das ist in erster Linie eine sehr universelle Sehnsucht.

Das Gespräch führte Stephanie Schulze

Fotos: Martin Kaufhold (Hauptprobe, 20.10.2023), Svenja Drewitz (Lukas Witzel)