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Straßenumfrage zu »The end, my friend«

Wie stellen wir uns unser Ende vor? Anlässlich der Produktion »The end, my friend« haben Dramaturgin Gesa Oetting und FSJlerin Lenke Nagy Passant*innen zu möglichen Weltuntergangsszenarien befragt. Ihre Antworten finden Sie in diesem Video (auf den Pfeil klicken).

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Saint Javelin: Eine Ikone geht viral

In der Inszenierung von Tschaikowskis »Die Jungfrau von Orléans« des Musiktheaterkollektivs Hauen und Stechen trifft die Titelfigur auf einer Zeitreise in allen Epochen auf Krieg und patriarchale Strukturen. Der zweite Akt spielt in der Gegenwart, genauer gesagt vor dem Hintergrund des bereits seit mehr als zwei Jahren währenden russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Dabei kommt auch das Symbol der Saint Javelin zum Einsatz.

Saint Javelin, ukrainisch Свята Джавеліна‚ ist eine Heiligendarstellung im Stil einer traditionellen orthodoxen Ikone, die die US-amerikanische Panzerabwehrwaffe Javelin trägt. Das Internet-Meme wurde von dem ukrainisch-kanadischen Journalisten Christian Borys kurz vor der russischen Vollinvasion 2022 in Umlauf gebracht und ging auf Social-Media-Plattformen weltweit viral. Das Meme wird für Merchandising-Produkte – Aufkleber, T-Shirts und vieles mehr – genutzt und brachte so über eine Million US-Dollar ein, die an humanitäre Hilfsorganisationen und das Militär in der Ukraine gespendet wurden.

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Schlimmer geht immer?

Szenarien über das Ende der Welt faszinieren die Menschheit schon immer. Obwohl der Weltuntergang schon zigmal prophezeit wurde, gibt es die Erde und uns immer noch. Die Lust an Untergängen liegt in der Natur des Menschen – gestillt wird sie in Gedichten, in der Musik, im Kino. Können wir uns ein wirkliches Ende überhaupt noch vorstellen, oder haben wir es zu oft auf der Leinwand gesehen? Die Autorin und Regisseurin Rebekka David im Gespräch.

Gesa Oetting Es gibt unzählige Lieder, Filme, Gemälde, Gedichte über die Apokalypse – was fasziniert dich an den Erzählungen, an den unterschiedlichsten Vorstellungen über das Ende der Welt?

Rebekka David Dass es so viele sind und dass sie schon immer da waren – der Weltuntergang als anthropologische Konstante fasziniert mich. Menschen haben sich schon immer von ihrem eigenen Ende erzählt, und wenn wir auf die lange Geschichte dieses Narrativs zurückblicken, ist es spannend zu sehen, wie sehr konkrete Ereignisse in der Realität darauf einwirken, welche Art von Dystopie wir uns ausmalen. Und auch andersherum funktioniert diese Wechselwirkung: Wenn wir ein bestimmtes Szenario, von dem wir nie dachten, dass es uns jemals direkt betreffen könnte, oft genug im Kino gesehen haben, und es dann aber wider Erwarten doch Realität wird (Beispiel: Triage bei COVID 19), beruhen unsere Entscheidungen und Bewertungen auf dem, was wir nur aus der Fiktion kennen. Und wenn wiederum Klimawissenschaftlerinnen versuchen, potenzielle Zukunftsszenarien so verständlich wie möglich zu formulieren, zeichnen sie ein Bild, das zum Großteil auf Fakten basiert, aber in den kleinen Details, in den Ausschmückungen die es für uns konkret vorstellbar machen, greifen sie zwangsläufig auf das kollektive Imaginäre zurück, das uns alle prägt und sich aus der Masse all dieser Erzählungen zusammensetzt. Diese Geschichten wirken also direkt darauf ein, wie wir uns das Ende der Menschheit durch den Klimawandel vorstellen können und über alle Fragen, die sich daraus ergeben, sollten wir unbedingt miteinander ins Gespräch kommen! 

»Fiktionen über die Zukunft organisieren ja das kollektive Imaginäre, und das wiederum bestimmt, was wir als Wirklichkeit anerkennen, (…)  und wie ich mir wiederum etwas vorstelle, also wie ich die Welt wahrnehme, prägt, wie die Welt ist – Leute, vielleicht müssen wir mehr manifestieren!« (Leo in »The end, my friend«)

GO Warum hat die Menschheit so viel Vergnügen daran, sich ihr Ende auszumalen?

RD Ich glaube, dafür gibt es sehr unterschiedliche Motivationen. Welche ich am interessantesten finde, ist die der Auslagerung der eigenen Angst: Ich kann einer Figur dabei zusehen, wie sie sich durch einen zerstörten Planeten kämpft, vor Zombies oder den außer Kontrolle geratenen Nachbarinnen flieht und den Kometeneinschlag erwartet, ich kann mitfiebern und leiden, ich kann diese Figur bestimmte Ängste durchleben lassen, die ich selbst unterbewusst habe, ja ich könnte sogar fast diese Figur sein, aber ich bin es eben nicht, denn am Schluss kann ich den Laptop einfach zuklappen. Und dann sitze ich da, auf meiner Couch, und bin sehr froh, dass es bei mir noch nicht so schlimm ist, dass das alles denen da passiert, denen in dem kleinen Apparat, und gegen deren Katastrophen sehen unsere realen für den Moment vielleicht etwas weniger dunkel aus.

GO Die Figuren in »The end, my friend« reagieren alle ganz verschieden auf ein möglicherweise nahendes Ende – wie habt du und dein Ensemble die Figuren und ihre jeweilige Position gefunden?

RD Im steten Dialog. Mir war wichtig, fünf unterschiedliche Perspektiven und Verhaltensweisen zu finden, die miteinander in ein fruchtbares Gespräch treten können. Dabei geht es mir nicht darum, den kompletten Diskurs abbilden zu wollen, sondern Positionen zu suchen, die für uns in ihrer Art auch nachvollziehbar sind, deren Ängsten und Verdrängungsmechanismen wir nicht sofort zu unseren eigenen auf Distanz halten können. Und mit diesem Ansatz habe ich mit den Spielenden und dem Team die Figuren entworfen und weiterentwickelt.

GO Was denkst du, was passieren muss, damit endlich was passiert in unseren Köpfen, und vor allem in unserem Handeln?

RD Wenn ich das wüsste, würde ich diesen Abend nicht machen.

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Drei sportliche Komödien

Ein Telefon, das nie aus der Hand gelegt wird und somit eine wesentliche Frage verhindert. Ein Beziehungsstreit, der nach entdeckter Untreue tödlich endet, dann jedoch eine zweite Chance bekommt. Und ein Schwergewichtsboxer, der in allen erdenklichen privaten Peinlichkeiten gezeigt und dessen einfältige Persönlichkeit trotzdem – oder gerade deshalb – mit nationalen Ehren gefeiert wird. Wie verbindet deine Inszenierung diese drei Opernminiaturen von Menotti, Hindemith und Křenek?

Der Gedanke, die drei Opern miteinander zu verbinden, obwohl sie auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben, stand bei mir von Anfang an im Raum. Inspiriert vom letzten Stück über den Boxer kam ich auf die Idee, die gesamte Handlung in einem Fitness-Studio spielen zu lassen. In der Vorbereitung der Inszenierung nahm dieser Gedanke immer mehr Gestalt an. Und es zeigte sich, dass die Stücke so tatsächlich gut zu verknüpfen waren. Ich entdeckte dann auch immer mehr Parallelen innerhalb der Stücke, die ich dann inszenatorisch mit dem Gesangsensemble herausarbeitete.

Der Titel »Studio Amore« drängte sich auf, da es in jedem Stück um irgendeine Art von Liebeshändel geht, um elastische und weniger flexible Paarbeziehungen, könnte man sagen. Aus Ottokar, einer stummen Nebenfigur im »Schwergewicht«, wird bei uns ein Charakter, der durch alle drei Werke hindurch geht. Sie ist der gute Geist des Studios, bei ihr laufen alle Fäden zusammen, sie kennt alle offenen und geheimen Liebesgeschichten. Sie nimmt Anteil, leitet unmerklich die Geschicke und hat auch ihre Amouren. Auf dem Höhepunkt von »Hin und zurück« greift sie dann auch singend aktiv in die Handlung ein, indem sie als Dea ex macchina das Geschehen rückwärts dreht.

Auch im Bühnenbild folgen wir diesem verbindenden Ansatz. Alles spielt in einem Raum, dieselben Requisiten wandern von einem Stück zum nächsten, lediglich die Perspektiven verändern sich durch unterschiedliche Positionen des Mobiliars. Sogar Bewegungsmuster werden aufgegriffen und wiederholt. Eigentlich kennen sich in diesem Studio alle, turnen zusammen und die drei Stücke sind jeweils drei »Exercises« ein- und derselben Sache, nur unterschiedlich temperiert.

Die drei Komödien, darunter die wahrscheinlich kürzeste Oper aller Zeiten, kann man der sogenannten Zeitoper zuordnen, ein Genre, das in den 1920er Jahren, wie der Name schon sagt, Zeit- und Alltagsphänomene moderner Menschen kritisch-satirisch verhandelt, aber auch technische Veränderungen, neue Medien und populäre Musik aufgreift. Kannst du den drei Einaktern heute noch so etwas wie Zeitgenossenschaft abgewinnen?

Wir es haben es in der Oper ja meistens mit alten Stoffen zu tun, und die Aufgabe für uns Theatermacher besteht immer darin, nachzuforschen, was die Stücke uns heute noch sagen. Menottis »Telephone« ist ein gutes Beispiel. 1947 uraufgeführt, war damals die Situation des Telefonierens zu Hause noch recht neu. Da gab es natürlich viel Motivation, sich mit kritischem Witz damit auseinanderzusetzen. Heute ist die Situation eine andere. Ein Leben ohne Telefon ist nicht mehr vorstellbar, das Festnetz zu Hause spielt so gut wie keine Rolle mehr. Da muss man natürlich nicht lange nach Äquivalenten in unserer Zeit suchen. Der Umgang mit Handys, das ständige Posten von Nachrichten und Befindlichkeiten, die Selbstbespiegelung in den Sozialen Medien, der soziale Druck, ständig kommunizieren zu müssen – das alles sind gesellschaftliche Themen von heute, die sich gut auf das Stück übertragen lassen. Die Nichtwahrnehmung des Gegenübers, das etwas sehr Wichtiges kommunizieren möchte, funktioniert sowohl mit dem Schnur- als auch dem Mobiltelefon. Nur ist die Situation heute noch viel brisanter als Mitte des 20. Jahrhunderts. Wir alle wissen um Fluch und Segen dieses kleinen Apparats. Insofern ist das Stück fast visionär!   

Was bietet der Abend musikalisch?

Auch wenn es sich um Fingerübungen der drei Komponisten handelt, haben wir es hier musikalisch mit spannenden Experimenten mit hohem Kunstanspruch zu tun. Es sind Konversationsstücke, eigentlich der Operette, dem Boulevardtheater und dem Kino abgeschaut. Menottis Musik ist wahrscheinlich die gefälligste, lyrischste von den dreien. Darin gibt es kleine Arien, die teilweise den Gestus einer hochdramatischen Oper imitieren. Dazu hat Menotti das Klingeln des Telefons, das Wählen, das Warten am anderen Ende der Leitung etc. wunderbar in Musik gesetzt. Hindemiths Musik ist wesentlich vertrackter und funktioniert weniger psychologisch. Die Charaktere sind in diesem Sinne eigentlich viel skizzenhafter angelegt. Hindemith hat sich die Idee des Zurückspulens der Handlung und der Musik beim Film abgeschaut. Allerdings findet das nicht von Ton zu Ton statt, sondern ganz geschickt von einem formalen Abschnitt zum nächsten. Křenek spielt sehr stark auf Tempo – wie es sich für eine gute Komödie gehört. Seine Musik ist ganz stark von Tanzmusik der Zeit und dem Jazz beeinflusst. Was alle eint, ist das Zitieren von unterschiedlichen Stilen und Reminiszenzen an die Operngeschichte (Mozart!), was sehr schön zu dem Beziehungsmix passt.

Worin liegen für dich Herausforderung und Vergnügen, mit angehenden Sänger*innen zu arbeiten – und dann noch Komödie zu machen?

Obwohl ich schon seit über 25 Jahren mit jungen Sänger*innen arbeite, ist es jedes Mal auf Neue eine besondere Herausforderung, da die meisten Beteiligten kaum szenische Erfahrung mitbringen. In unserer Produktion kommen Student*innen aus ganz unterschiedlichen Semestern zusammen, einige sind erst vor kurzem nach Deutschland gekommen. Genau das macht die Sache spannend. Es ist unendlich schön mitzuerleben, wie die jungen Künstler*innen sich von Probe zu Probe immer mehr öffnen können, sich in ihre Rolle hineinbegeben und eine so lebendige Spielfreude versprühen, die einfach mitreißend ist. Der Weg dorthin ist lang und arbeitsreich, man muss viel Vertrauen aufbauen, aber die Mühe lohnt sich. Wir haben es hier noch mit einer besonderen Challenge zu tun: Nichts ist so schwer wie die scheinbar so leichte Komödie. Letztendlich ist das vergleichbar mit einer sportlichen Technik: Man muss sie verstehen, lernen, üben, das richtige Timing finden und weiterüben. Aber das tun wir ja sowieso immer 🙂  

Die Fragen stellte Stephanie Schulze.

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Eine Spielzeit voller Sehnsüchte – Rückschau und Ausblick

»Mein deutsches Lieblingswort ist Sehnsucht. Ich habe noch kein Wort, das eine wirklich gute Übersetzung wäre, in einer anderen Sprache gefunden. Denn in dem Sehnen ist im Deutschen auch die Sucht nach dem Sehnen und die Lust daran.« Cornelia Funke ist es, die in einem der vielen Kurzvideos in den Tiefen der sozialen Medien diesen Satz mit der Welt teilt. Sie ist nicht die einzige, die eine Faszination gegenüber diesem vom Duden als »inniges, schmerzliches Verlangen nach jemandem, etwas [Entbehrtem, Fernem]« definierten Gefühl empfindet – kein Wunder also, dass es zum Motto der Spielzeit 2023/24 im Saarländischen Staatstheater geworden ist. Ein ganzes Jahr mit Werken zu dem Thema zu füllen ist hierbei keineswegs zum Problem geworden, im Gegenteil: Man könnte vermutlich eine Vielzahl an Spielzeiten mit Stücken füllen, die sich der Sehnsucht widmen. Für welche hat sich also die Schauspielsparte des Saarländischen Staatstheaters entschieden und welche Formen von Sehnsucht wurden bereits aufgegriffen? Um sich dieser Frage zu widmen, wird es Zeit, mal Bilanz zu ziehen und zurückzuschauen auf die erste Hälfte der Spielzeit.

Eröffnet wurde die Spielzeit mit #Peep!, einer Pop-Revue von Mona Sabaschus in der alten Feuerwache, in welcher ungeliebte, von der Müllpresse bedrohte Spielzeuge gleich einige der elementarsten Sehnsüchte überhaupt auspacken: Sie sehnen sich danach, aus ihrem bisherigen Dasein auszubrechen und geliebt zu werden. Dass dieser Wunsch beinahe jedem Menschen früher oder später begegnet, zeigt auch die große Menge an Popsongs, die sich mit ihm auseinandersetzen und die die Protagonist*innen von #Peep! sich zur Verständigung zunutze machen.

»Peep« | Foto: Martin Kaufhold

Ein Kontrastprogramm gegenüber diesem Stück ist Tennessee Williams Endstation Sehnsucht, welches das zentrale Thema der Spielzeit bereits im Titel trägt. Hier spielt Sehnsucht in Form von sexueller Begierde eine ganz andere Rolle und wirkt nicht nur deshalb auf einmal viel weniger verlockend. Führen Sehnsüchte und Begierden nicht auch zu den Abgründen, die Williams in seinem Klassiker so meisterlich aufdeckt? Ist Blanches (Sehn)sucht nach minderjährigen Liebhabern nicht Resultat ihrer Sehnsüchte nach Luxus, unbeschwertem Leben und, wie sie selbst sagt, »Zauber«? Gleichzeitig scheint Stella, die leugnet, sich nach einem besseren Leben zu sehnen, in einem langfristig unglücklich machenden Leben gefangen zu sein und könnte womöglich ein wenig mehr Sehnsucht gebrauchen, um sich von Armut, ihrem brutalen Umfeld und ihrer Rolle im Haushalt loszulösen.

»Endstation Sehnsucht« | Foto: Martin Sigmund

Kommen wir zu einer anderen Form von Sehnsucht, die beispielsweise in Goethes berühmten Faust einen hohen Stellenwert hat: der Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis. In der Spartenproduktion Der lange Weg zum Wissen wird mit dieser Sehnsucht aber gänzlich anders umgegangen als in der Gelehrtentragödie: Nach der Vorstellung bleibt das Gefühl zurück, dass es gar nicht so schlimm ist, als Individuum nicht alles zu wissen. Tragischer ist, was Neil Armstrong im Prozess des gemeinsamen Philosophierens, der das Stück trägt, in den Raum wirft: „Wenn all das Wissen gewusst wird: Wieso machen wir dann [als Menschheit] noch Fehler?“ Sehnsucht nach Perfektion also? Nein, vielmehr Sehnsucht nach einem friedlichen und glücklichen Zusammenleben, in welchem jeder Platz hat.

»Der lange Weg zum Wissen« | Foto: Martin Kaufho

In Das Bildnis des Dorian Gray muss man nicht lange nach den Sehnsüchten des Protagonisten suchen: Dorian verspürt die Sehnsucht nach ewig währender Jugendlichkeit und Schönheit. Diese Sehnsucht wird jedoch nicht zum Motivation stiftenden Antriebsmittel, wie sie es manchmal sein kann, sondern führt zu Verderben, Tod und Unglück. Gewissermaßen also ein kritischer Blick auf die umstrittene Empfindung – oder zumindest auf einen überdimensionalen Stellenwert ihrer.

»Das Bildnis des Dorian Gray« | Foto: Martin Kaufhold

Wie Der lange Weg zum Wissen, fand auch die Uraufführung von Jakob Noltes Die Glücklichen und die Traurigen in der kleinsten Spielstätte des SST, der sparte4 statt. Mit einem herausstechenden Einsatz videographischer und technischer Elemente, erzählt die Inszenierung dieses Stückes die Geschichte eines Dorfes, das zum Zweck der deutschen Finanzenrettung komplett an eine ausländische Investorin verkauft wird. Es schlummert also vermutlich in jeder Figur eine Sehnsucht nach Selbstbestimmung und politischem Mitspracherecht. Interessanterweise drücken die auf der Bühne stattfindenden Dialoge aber hauptsächlich etwas anderes aus: die Sehnsucht nach Normalität und vertrauten Gewohnheiten in einer neuen und deshalb beängstigenden Situation. Besonders im Hinblick auf Covid-19 erscheint es mir, als ob unsere Sensibilität dahingehend viel größer geworden ist, während das menschliche Bedürfnis nach Tradition und Einteilung in bereits bekannte Muster gleichzeitig alarmierend ist und auch immer wieder als Quelle gesellschaftlicher Krisen identifiziert werden kann. Stichwort: »Das haben wir doch schon immer so gemacht!«

»Die Glücklichen und die Traurigen« | Foto: Martin Kaufhold

So wie wir (leider) auch schon immer eine Gesellschaft waren, die sich schwer tut, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Zeit des Nationalsozialismus größtenteils totgeschwiegen. Genau darauf weist Phillip Preuss´ Inszenierung von Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrerdrama Draußen vor der Tür hin. Auch hier also: Sehnsucht nach einer Normalität, wie sie vor dem Krieg geherrscht hat. Gegenübergestellt wird die Sehnsucht von Protagonist Beckmann, nach seiner Rückkehr aus sibirischer Kriegsgefangenschaft von der Gesellschaft aufgefangen zu werden und seine Traumata hinter sich lassen zu können. Ebenfalls maßgeblich in diesem – sicher nicht leichten, aber umso interessanteren – Theaterstück: Todessehnsucht.

»Draußen vor der Tür« | Foto: Martin Kaufhold

Das Thema Krieg behandelt auch ein ganz besonderes Projekt in der sparte4: Freiheit. Bei dieser Kooperation eines ukrainischen Regisseurs mit einer deutschen Regisseurin, bekommen 10 Jugendliche, die größtenteils ukrainischer Herkunft sind und ihre Heimat durch den russischen Angriffskrieg verlassen mussten, die Chance, ihre Sehnsüchte mit der Welt zu teilen. Sie erzählen von ihrem Verständnis von Freiheit und auch das Heimweh, das eine ganz besondere Form der Sehnsucht darstellt, wird thematisiert. 

»Freiheit« | Foto: Martin Kaufhold

Wenden wir uns einem scheinbar schönen Thema zu: Dem Lottogewinn! Doch auch dieses vermeintliche Glück, welches Die lieben Eltern aufgreift, birgt erstaunlich viel Tiefgang und Eskalationspotenzial. Und Sehnsüchte? Jede Menge. Angefangen bei der Sehnsucht, die Welt zu verbessern über die Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem eigenen Alltag bis hin zur Sehnsucht nach einem eigenen Golfplatz, Luxusautos und »Koks und Nutten«. Ironie pur!

»Die lieben Eltern« | Foto: Astrid Karger

Es wird Zeit für einen Ausblick auf die restliche Spielzeit. Was erwartet uns? Falls Sie nun eine so detaillierte Beschreibung der kommenden Stücke erwarten, wie ich sie versucht habe, zu den bereits laufenden Stücken zu formulieren, muss ich Sie leider enttäuschen. Schließlich kann ich nur mutmaßen, von welchem Blickwinkel aus die Regisseur*innen ihre Stücke angehen werden und welche Sehnsüchte sie im zugrunde liegenden Stoff als besonders hervorstechend empfinden. Trotzdem versuche ich ein paar Prognosen anzustellen:

Die Stückentwicklung von The end, my friend (Premiere am 22. März in der Alten Feuerwache) beschäftigt sich mit apokalyptischen Narrativen und dem gesellschaftlichen sowie kulturellen Umgang mit ihnen. Hier sehe ich großes Potential zur Beschäftigung mit der Sehnsucht nach Sicherheit – die von einer möglichen Apokalypse schließlich massiv bedroht wird. Gleichzeitig glaube ich, dass die Figuren im Angesicht einer Katastrophe auch die Sehnsucht verspüren könnten, ihr Leben in der letzten Zeit, die ihnen verbleibt, noch bewusst zu genießen. Andere könnten sich danach sehnen, als der-/diejenige, der eine mögliche Gefahr abgewendet hat, im Mittelpunkt zu stehen. Und vielleicht verspürt ja auch jemand die Sehnsucht danach, dass die Welt tatsächlich zugrunde geht?

Bei der Komödie Arsen und Spitzenhäubchen (Premiere am 23. März im Großen Haus) wird es schon etwas schwerer, den Anknüpfungspunkt zum Spielzeitmotto zu finden. Es könnten Sehnsüchte nach guten Taten oder auch nach der Erlösung eine Rolle spielen. Im Spielzeitheft spricht Schauspieldirektor Christoph Mehler, der die Regie dieser Produktion übernimmt, zudem von seiner Sehnsucht nach einem »vibrierenden Erlebnisraum« – in einen solchen gehören Komödien ebenso wie Tragödien.

Wenn wir schon bei den Sehnsüchten von unseren Regisseur*innen sind: Die Bakchen (Premiere am 28. März in der Sparte 4) kann hoffentlich seinen Teil dazu beitragen, die Sehnsucht junger Menschen, irgendwann als Regisseur*innen zu arbeiten, zu stillen. Es handelt sich bei dieser Produktion nämlich um eine Kooperation mit Regiestudierenden der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt, die sich einem der populärsten der griechischen Antikendramen widmen.

Die Sehnsüchte von noch jüngeren Menschen werden zum Mittelpunkt der diesjährigen Produktion des Jungen Ensembles des SST unter der Leitung von Luca Pauer. In Zitronenblühn (Premiere am 6. April in der Alten Feuerwache) wird somit den Sehnsüchten einer jungen Generation gelauscht, die leider zu oft belächelt und nicht ernst genommen wird.

In der Sparte 4 wurde als letztes Stück der Spielzeit Der Reichskanzler von Atlantis von Björn SC Deigner (Premiere am 01. Juni in der Sparte 4) gewählt. Dieses Stück beschäftigt sich mit dem Phänomen der Reichsbürger und somit… vielleicht mit der Sehnsucht nach Abschottung? Der Sehnsucht nach Macht? Sehnsucht nach Kontrolle? Sicherlich wird die Produktion einen Einblick in die Sehnsüchte erlauben, die ein Reichsbürger so verbirgt…

Zuletzt noch die Uraufführung von Philipp Löhles Firnis (Premiere am 07. Juni in der Alten Feuerwache): Ich glaube, die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung und eventuell auch die Frage »Wann schadet die Erfüllung der Sehnsucht des einen Menschen einem anderen Menschen?« können hier eine Rolle spielen.

Jederzeit bereit, mich vom Gegenteil meiner Prognosen überzeugen zu lassen, freue ich mich nun auf die zweite Hälfte einer Spielzeit voller Sehnsüchte und kann Ihnen nur noch eines mit auf den Weg geben: Ihre Sehnsucht nach einem vielseitigen Programm wird sicherlich gestillt.

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Andriy May und Ulrike Janssen übers Freisein

Andriy, was ist Freiheit für dich?
Andriy May: Frei zu sein bedeutet für mich, man selbst zu sein und seinen eigenen Weg zu gehen.

Ulrike, du hast bereits mit Andriy gearbeitet. Was berührt dich am meisten in eurer Zusammenarbeit?
Ulrike Janssen: Die Arbeit mit Andriy war von Anfang an und ist natürlich immer noch vom Kriegsgeschehen in der Ukraine geprägt, das mir dadurch näher gerückt ist – mit allem, was damit zusammenhängt. Das betrifft auch die Situation der nach Deutschland geflohenen Menschen. Der Krieg hört für sie ja nicht deswegen plötzlich auf. Wie kann man sein Leben planen, leben, wenn man nicht weiß, wann und wie und ob man wieder zurückkann?
(Wobei das nicht mein einziger Berührungspunkt mit dieser Situation war; wir hatten bereits privat für ein halbes Jahr eine ukrainische Familie bei uns aufgenommen.)
Nach unserer ersten gemeinsamen Produktion hat Andriy mich zu einem Theaterfestival nach Lviv eingeladen. Mein erster Besuch in der Ukraine. Die Begegnung und Arbeit mit den Menschen dort hat mich stark beeindruckt.
In die Zusammenarbeit mit Andriy fließt immer die unmittelbar umgebende und erfahrene Wirklichkeit mit ein. Das kann manchmal auch schmerzhaft sein. Das Leben ist der Grund für die künstlerische Arbeit. Wenn das nicht gegeben ist, braucht man gar nicht weiterzumachen. Diese Position schätze ich sehr.

Warum arbeitest du in dieser Produktion mit jungen Menschen?
Andriy May: Das ist das Mindeste, was ich für die Zukunft der Jugend tun kann – ihnen die Möglichkeit zu geben, gehört zu werden. Hier liegt auch meine Verantwortung für die Zukunft und der Wunsch, jungen Menschen dabei zu helfen, sich selbst zu entdecken, von jedem Teilnehmer und jeder Teilnehmerin zu hören, was sie wirklich wollen und vielleicht zu spüren, wer man ist und in welcher Welt man lebt. Und natürlich ist dies meine Chance junge Menschen zu unterstützen.
Ulrike Janssen: Ich halte es für äußerst wichtig zu hören, was junge Menschen zu sagen haben und ihnen dafür eine Bühne zu bieten. Sie sind auch unsere Zukunft. Sie sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft, die unter starker Segmentierung leidet (finde ich). Gerade deshalb ist es toll, dass dieses Projekt auf der Bühne des Staatstheaters Saarbrücken stattfinden kann und hoffentlich ein größeres Publikum erreicht. Und das führt – hoffentlich – auch zu einer anderen Theatererfahrung.

Was sind die größten Herausforderungen bei der Arbeit?
Andriy May: Lernen zuzuhören und den Menschen nicht zu sagen, was sie tun sollen: Es war ein herausfordernder Prozess, aber ich denke, wir haben es gut hinbekommen. Wir sind unserer eigenen Freiheit ein Stück näher gekommen, indem wir die Grenzen der Freiheit erkannt haben, vor denen wir stehen.
Ulrike Janssen: Wir haben in drei Sprachen gearbeitet: Die ukrainischen Jugendlichen sprechen untereinander in ihrer Sprache und auch Andriy hat mit ihnen Ukrainisch geredet. Andriy und ich wiederum sprechen miteinander Englisch; und mit den deutschen Jugendlichen habe ich Deutsch gesprochen. Die Ukrainer waren hier deutlich in der Mehrzahl – das machte es für mich oft schwer bzw. unmöglich zu verfolgen, was genau gerade in der Gruppe passiert, was für die Arbeit aber natürlich sehr wichtig ist. Sprache, die Hürden der Sprache und auch das Erlebnis, wie unfrei es macht, wenn man die Sprache nicht versteht … genau das, was wiederum die ukrainischen Jugendlichen in ihrer ersten Zeit in Deutschland erfahren haben. Und was mit unserem Thema ja verknüpft ist. Die beiden rein deutschsprachigen Teilnehmerinnen haben hier auch oft viel Geduld aufgebracht. Wir haben uns deshalb auch sehr früh entschieden, in der Performance genauso damit umzugehen – also keine Untertitel, sondern immer wieder das Einfordern von Übersetzung auf der Bühne und die Arbeit in zwei Sprachen.

Was habt ihr von den Teilnehmenden Neues gelernt?
Andriy May: Da das Projekt langfristig angelegt war, was sich auf jeden Fall positiv auswirkte, konnten sich die Teilnehmer nach und nach öffnen und lernen, einander und uns zu vertrauen. Jeder der zehn Teilnehmer ist eine ganze Welt, in die man nicht immer hineinkommt. Wir haben viel gelacht, manchmal geweint, wir hatten stressige Momente bei der Arbeit, aber das heißt auch, dass wir eine erfüllte Zeit hatten und dabei immer versucht haben, uns Zeit zu lassen. Zu lernen sich selbst und anderen zu vertrauen, seine Gedanken zu formulieren und auszudrücken, mutig zu sein – das sind für mich wichtige Schritte in Richtung Freiheit.
Kostiantyn, Yurii, Oleksandra, Arina, Sofiia, Mariia, Liv, Anastasia, Alona, Lavinia – das sind zehn verschiedene Lebensgeschichten, die sich untereinander und Ulrike und mich bereichert haben.
Das Wichtigste, wovon ich überzeugt war und was ich gelernt habe, ist Freiheit. Jeder unserer Teilnehmer hat sie und unser Ensemble hat dem Publikum etwas zum Thema Freiheit zu sagen! Vielen Dank an das Saarländische Staatstheater für diese Möglichkeit.
Ulrike Janssen: Da gäbe es jetzt sehr viel zu erzählen … es sind zehn verschiedene Charaktere mit ihren eigenen Geschichten, Erfahrungen … von jedem Einzelnen und jeder Einzelnen kann ich da sehr viel lernen.
Wenn ich etwas Allgemeines sagen sollte: Diese Art intensiver Begegnung mit Jugendlichen ist extrem bereichernd, weil man als „Erwachsene“ vieles – gern – vergessen und verdrängt hat, das einen in dieser Lebensphase beschäftigt und auch geprägt hat. Manches nehmen sie scheinbar viel gelassener hin, was wir vielleicht schlimm finden, und umgekehrt. Speziell die ukrainischen Jugendlichen haben teilweise äußerst verstörende Dinge erlebt. Mit welcher Kraft diese Jugendlichen versuchen, sich ihre Jugend nicht wegnehmen zu lassen – auf die sie ein Recht haben -, sondern ihr Teenagerleben zu leben, mit allem, was dazugehört, das beeindruckt mich. Davon möchte ich mir gern eine Scheibe abschneiden.

Andriy May ist Regisseur, Schauspieler und Theaterfestivaldirektor. 1976 wurde er in Cherson, Ukraine, geboren. Nach dem Abitur studierte er an der Technischen Universität Finanzen. Zu dieser Zeit war er als Schauspieler und Model tätig. Im Jahr 2001 gründete er das New Drama Theatre Studio, wo er sich mit der Produktion neuer dramatischer Texte beschäftigte.
2003 nahm er ein Studium an der Ivan Karpenko-Kary National University of Theatre, Cinema and Television in Kyiw auf, wo er sich auf Theaterregie spezialisierte, und setzte nach seinem Abschluss sein Studium im Rahmen des internationalen Masterprogramms an der Moscow Art Theatre School-Studio in Moskau fort. Während seines Studiums absolvierte er ein Praktikum in London am Royal Court Theatre.
Im Jahr 2008 gründete er in Cherson das Vsevolod-Meyerhold-Zentrum und das Lyutyi-Theaterfestival und begann seine Arbeit im Bereich des dokumentarischen und ortsspezifischen Theaters. Im Jahr 2011 erhielt er einen Master-Abschluss in Theaterwissenschaften. Im selben Jahr organisiert er zusammen mit seinen Kollegen in Kiew den Schauspielwettbewerb Contemporary Play Week und das Documentary Theatre Festival.
2014 wurde er Mitglied des Internationalen Forums Teathertreffen und des Oxford University New Play Forum. Von 2013 bis 2016 war er Regisseur und Schauspieler am Nationaltheater Ivan Franko in Kyiw. Im Jahr 2018 erhielt er ein Stipendium an der Kunstakademie Schloss Solitude.
Seit 2020 ist er Direktor des Mykola-Kulisch-Theaters in Cherson und hat rund 50 Vorstellungen in verschiedenen Theatern und Ländern inszeniert.
Ende März 2022 verließ er das von russischen Truppen besetzte Cherson mit seiner Mutter und seinem 7-jährigen Sohn in Richtung Deutschland, wo er 2022 Aufführungen und Projekte am Kölner Schauspielhaus, am Hans Otto Theater Potsdam und am Theater der Keller realisierte.

Ulrike Janssen studierte Germanistik, Philosophie und Französisch in Köln und promovierte 2001. Seitdem arbeitete sie frei als Autorin und Regisseurin von Hörstücken, meist an der Schnittstelle zwischen Feature und Hörspiel, u.a. für WDR, SWR, DLF und DLF Kultur. 2014 entstand die erste Arbeit für das Theater. Ihre Arbeiten wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Kölner Theaterpreis 2017 und dem Karl-Sczuka-Preis für avancierte Radiokunst 2019.
Sie ist Teil des Kollektivs TheaterBlackBoxKöln und seit der Spielzeit 2018/19 auch Dramaturgin am Theater der Keller.