Die Autorin Paula Kläy studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin.
Mit ihrem Stück »Oberland« gewann sie den Publikumspreis beim Münchner Förderpreis für neue Dramatik. 2023 wurde sie zu den Autor*innentheatertagen am Deutschen Theater Berlin eingeladen. Dramaturgin Simone Kranz sprach mit der Autorin.
Dein Stück »Grausame Gestalten« hat etwas Rätselhaftes. In klaustrophobischer Atmosphäre haben sich vier Figuren, die sich gegenseitig mit Vater, Mutter, Kind 1 und Kind 2 ansprechen, von der Außenwelt abgeschottet. Das Draußen ist für sie etwas Feindliches – dort leben die Barbaren, mit denen man nicht in Kontakt kommen möchte. Und dann gibt es da noch eine Figur namens Sascha, von der in der dritten Person erzählt wird. Beim Lesen bleibt offen, welche Beziehung Sascha zum Rest des Geschehens hat. Ist für dich das Uneindeutige, zu Entschlüsselnde Teil der künstlerischen Setzung?
Ich stelle keine Rätsel, die es zu knacken gibt und auf die ich die Antwort kenne, das fände ich unehrlich und langweilig. Aber ich finde es schön, wenn Texte ein Geheimnis in sich tragen, das keine Aufdeckung fordert, sondern sinnlich erfahrbar gemacht werden möchte. Da gilt es für mich zu schauen, dass die Schwebe immer wieder konterkariert wird von etwas sehr Tatsächlichem, Unmittelbaren. So verbinden sich ja auch die zwei Ebenen in einem Moment, wenn Sascha nämlich an einem Loch vorbeiläuft, in dem in 200 Meter Tiefe die Kinder sitzen, die drei nun in Dialog treten und die Erzählung der Eltern ins Taumeln gerät.
»Grausame Gestalten« ist die zweite gemeinsame Arbeit mit dem Regisseur Luis Liun Koch und ein Auftragswerk für die sparte4. Wie kann man sich eure Zusammenarbeit am Stück vorstellen?
Luis hat mir letzten Sommer das erste Mal davon erzählt, dass er gerne eine Arbeit machen würde, die sich mit dem Barbarenbegriff auseinandersetzt. Uns beide hat von Anfang an die Begriffshistorie interessiert, weil sie so viel aussagt über Zuschreibungen und Erzählmuster. Als klar wurde, dass wir die Arbeit hier realisieren können, sind wir mit dem Bühnenbildner Karl Dietrich nach Saarbrücken gefahren, saßen in der Sparte4 und haben danach ein wenig Pingpong gespielt zwischen Bühne und Text. Das war für mich total schön und neu: Tatsächlich für den Raum zu schreiben, in dem das Stück am Ende stattfindet.
Welche Rolle spielen für dich die Theaterproben als konkrete Auseinandersetzung einer Gruppe von Menschen mit deinem Text?
Ich bin gerne am Anfang bei den Proben dabei, mag es, die Fragen zu hören, die der Text aufwirft, erste Interpretationsansätze mitzubekommen und mit auf die Suche zu gehen, nach dem Abend, den wir gemeinsam erzählen wollen.
Findest du der Text spiegelt Phänomene der konkreten politischen Situation wieder?
Für mich verhandelt der Text Resignation, Rückzug aus der Gesellschaft und die Wirkkraft von Erzählungen: Wie zugehörigkeitsstiftend Geschichten (für die Figuren) sind und was passiert, wenn die konstruierte Realität zu bröckeln beginnt.
Woher kommt Armin Petras Begeisterung für die Theatertexte der Antike, warum hat der die alte Tragödie von Sophokles neu bearbeitet und übertragen, was war ihm dabei wichtig und welche Rolle spielt der Chor in seiner Inszenierung?
Antike Texte
»grundsätzlich stellt die begegnung mit antiken texten einen grossen reiz dar – natürlich ist es ein zutiefst abenteuerlicher vorgang in die gedanken und vermeintlichen realwelten von menschen von vor über 2000 jahren einzutauchen – immer klarer wird dabei aber die spezifische schönheit und klarheit dieser archaischen literatur die radikale konflikte aufgreift sie künstlerisch modelliert und zum ausbruch bringt – heiner müller sagt dramatik ist eingefrorene explosion nirgendwo wird das deutlicher als bei den griechen wo sprache das potential haben musste bis zu 20000 menschen bei einer vorführung im amphitheater zu bannen und zu begeistern / und natürlich sind unsere anhaltenden probleme mit der demokratie dem konflikt zwischen jungen und alten frauen und männern der migration und vielen anderen in diesen texten längst abgebildet und eine blaupause für heutige zeiten.«
Antigone von Sophokles
»grundsätzlich war bei der neufassung der antigone von sophokles mir wichtig die kerndebatte die suche nach einer politischen diskurs- und herrschaftsform einer nachkriegsordnung darzustellen. in einer zeit des tabula rasa wo alle bisher herrschenden getötet sind wird kreon vom volk und durch sich selbst zum neuen herrscher bestellt / kreon ist zuerst aber krieger und der umgang mit zivilen personen ist ihm neu / er will die nationale und religiöse identität seines volkes/staates durch ein grundgesetz absichern – dem dass feinde nicht bestattet werden dürfen. dieses an sich sinnvolle für die staatliche konstituierung sinnvolle gesetz aber verstösst gegen göttergesetz aus heutiger sicht gegen menschenrechte – nämlich das gebot dass jedem unabhängig seiner tätigkeiten zu lebzeiten ein begräbnis zusteht / antigone stellt sich bedingungslos hinter diese regel – damit zerstört sie die bemühungen kreons auf den aufbau eines neuen staates – im endeffekt sterben nicht nur antigone sondern auch ihr bräutigam hämon und seine mutter die königin euridyke…«
Die Rolle des Chores
»unsere mitwirkenden aus saarbrücken und umgebung stellen den antiken chor dar / dieser chor wiederum steht für das volk von theben bzw. sind sie die überlebenden thebaner nach einem langen verlustreichen kampf gegen die nachbarstadt argos – in ihnen wiederspiegelt sich die eigenschaften von massen ihre forderungen an die herrschenden ihre immerwährende hoffnung aber auch ihr opportunismus ihre bereitschaft sich durch ideologien überzeugen zu lassen wenn diese mit naheliegenden wünschen übereinstimmen / der chor selbst unterbricht die handlung kommentiert sie aber treibt sie auch voran. er ist quasi ein weiterer hauptdarsteller der unterschiedliche momente der handlung vergrössert ausstellt oder auch verdeutlicht.«
Lenke Nagy absolviert in der Spielzeit 2023/2024 ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Schauspieldramaturgie des Saarländischen Staatstheaters. In der Reihe »Journal einer FSJlerin« teilt Lenke regelmäßig ihre Erfahrungen und Gedanken. – Letzter Teil
Ihr konntet es im Vortext bereits lesen: mit dieser Ausgabe des »Journal einer FSJlerin« verabschiede ich mich vom BLOG – zumindest vorerst, wer weiß, was die Zukunft mit sich bringt! Sicher ist jedoch: Mein Freiwilliges Soziales Jahr in der Dramaturgie des Staatstheaters findet mit dem Ende der Spielzeit 2023/2024 seinen Abschluss. Und bevor ich hier irgendetwas anderes schreibe, ist es erstmal Zeit für ein großes Dankeschön an all die Menschen, die mich in meiner Zeit am Saarländischen Staatstheater auf so warmherzige Art begleitet, mir eine Menge über Theater, aber auch über mich selbst gelehrt und mich ausnahmslos als Team-Mitglied auf Augenhöhe behandelt und mir vertraut haben! Meine ganz persönliche einjährige Premiere in der Welt des Theaters hätte nicht schöner verlaufen können. Ich werde der Theaterwelt übrigens treu bleiben: Ab Oktober geht es für mich nach Leipzig, wo ich an der Hochschule für Musik und Theater Dramaturgie studieren werde.
Um nicht jetzt schon über den baldigen Abschied nachzudenken, habe ich mich nochmal ins Arbeiten gestürzt und mich von Stücken, Erfahrungen bei Proben und Recherchefunden – kurz: von meinem Jahr im SST – inspirieren lassen und eine Liste mit Tipps für den Sommer erstellt, falls dem ein oder der anderen von euch auch vor Langeweile in der Spielzeitpause graut!
Die Produktion »The end, my friend« endet mit einem Brief an die Zukunft. Das hat mich an etwas erinnert, was ich zu Silvester gemacht habe: ich habe einen Brief an mich selber geschrieben. Es gibt tolle Homepages, bei denen man eine Nachricht von sich selbst an das zukünftige Ich formulieren und ein Datum einstellen kann, an dem man die Nachricht dann per Mail zugestellt bekommen möchte. Ist es nicht eine schöne Vorstellung, in einem oder mehreren Jahren eine Nachricht aus der Vergangenheit zu bekommen und sich zu erinnern, worüber man in einer ganz anderen Lebensphase so nachgedacht hat? Das Ganze funktioniert natürlich auch analog – auf die Gefahr hin, dass man vergisst, wo man den Brief versteckt hat. Und wer das alles für Unsinn hält, der kann diesen Sommer ja auch einfach mal wieder eine Postkarte aus dem Urlaub verschicken!
Mehr Lesen gehört mit Sicherheit zu einem der häufigsten Vorsätze für den Sommer. Aber wie wäre es, dieses Jahr mal ein paar Klassiker auf die Leseliste zu setzen? Anfangen könntet ihr mit »Das Bildnis des Dorian Gray« von Oscar Wilde oder Goethes »Die Leiden des jungen Werther« – solltet ihr die Inszenierungen in der Alten Feuerwache verpasst haben. Wem nicht nach Kafka, Fontane, Hesse oder anderen einschüchternden Namen zumute ist, der findet ja vielleicht zwischen den Klassikern der Kinderliteratur das passende Urlaubsbuch und lässt sich z.B. von Astrid Lindgren oder Michael Ende zurückversetzen in die Sommer der Kindheit.
In »Die Glücklichen und die Traurigen« wurde sich die Zeit unter anderem mit Scrabble vertrieben: was mich auf die Idee gebracht hat, mal wieder einen Spieleabend oder ein Picknick mit Kartenspielen zu organisieren. Spieletipps von mir sind unter anderem »Dixit«, »Codenames« oder »Stadt Land Vollpfosten – Das Kartenspiel«.
Seit Januar war ich Teil der »Wortakrobaten« am Staatstheater, der Schreibwerkstatt, die von Theaterpädagogin Anna Arnould-Chilloux geleitet wird. Was ich von dort mitnehme: wie befreiend es für den Kopf und wie stimulierend es für die Fantasie ist, ohne den Druck, etwas Gelungenes produzieren zu müssen, einfach draufloszuschreiben. Eine weitere Idee von mir für den Sommer ist also, sich regelmäßig, vielleicht sogar jeden Morgen, hinzusetzen und auf Papier zu bringen, was der eigene Gedankenstrudel so hergibt. Wem die Motivation hierfür fehlt, dem möchte ich eine Übung mitgeben, die sich mit Freund*innen, Familie, ja, theoretisch sogar mit Fremden ausprobieren lässt: Jede*r schreibt einen einzigen Satz auf und gibt das Papier dann an seine/n Nachbar*in weiter. Dieser fügt einen Satz hinzu, reicht das Papier wieder weiter und der/die nächste – ihr ahnt es sicher längst – ergänzt den Text wieder um einen Satz. Das kann man fortführen, solange man Lust hat und ich lüge nicht, wenn ich behaupte, dass einige der lustigsten Texte der »Wortakrobaten« durch diese Übung entstanden sind!
Das Theater ist insbesondere dann ein guter Arbeitsplatz, wenn man auf dem Weg in den Regen gerät… Kostümfundus sei Dank habe ich den Tag der berüchtigten Saarüberflutung trotz morgendlicher Fahrradfahrt trocken und gemütlich verbracht. Wer Interesse daran hat, den eigenen Kleiderschrank um ein paar Fundstücke zu erweitern, braucht aber keinen Regen und auch keinen Zugang zum Theater: Wie wäre es, sich mit Freund*innen zusammenzutun und eine Kleidertauschbörse zu organisieren? Was beim einen ungenutzt im Schrank herumliegt, macht jemand anderen vielleicht glücklich! Und man zahlt nicht nur wenig, wie zum Beispiel auf dem Flohmarkt, sondern gar nichts – abgesehen von den Snacks und Erfrischungen, die zu so einem gemeinsamen Event dazugehören. Viel Spaß beim Garderobe austauschen!
Eine meiner größeren Recherchen im Laufe des Jahres hat sich um die Vergangenheit der Alten Feuerwache gedreht. Dazu war ich mehrmals im Stadtarchiv in Saarbrücken, in welchem man ganz einfach online einen Termin reservieren und sich historische Dokumente bereitlegen lassen kann. Außerdem durfte ich mit Dramaturgin Simone Kranz und ihrem VHS-Kurs das Saarländische Landesarchiv besichtigen, wobei ich erfahren habe, dass es auch dort einen Lesesaal gibt. Ein Tipp für alle Geschichtsinteressierten und Vergangenheitsstöberer ist also, mal im Archiv vorbeizuschauen und sich mit der Vergangenheit der eigenen Familie, des Heimatortes oder sonst einem Thema, das einem am Herzen liegt, auseinanderzusetzen. Pluspunkt bei diesem Vorschlag: geht auch bei Regen!
Mein letzter Tipp ist ehrlich gesagt keine weltbewegende, innovative Idee und solltet ihr die Augen verdrehen und euch denken »Die hat aber ganz schön die Weisheit mit Löffeln gefressen, die 18-jährige Möchtegern-Intellektuelle!«, dann bin ich euch nicht böse, versprochen! Aber dann hoffe ich umso mehr, dass ihr über meinen abschließenden Reminder nachdenkt. Was ich nämlich nicht nur, aber auch im Theater immer wieder lernen durfte, ist, wie bereichernd und inspirierend der Austausch mit Menschen ist, die sich von einem selbst unterscheiden. Ob durch Alter, Interessen, Religion, Herkunftsland oder sonstigem ist dabei ganz egal. Noch vor einem Jahr war ich es gewöhnt, mich größtenteils Leuten meines Alters mitzuteilen, die größtenteils auch meine Meinungen haben und sich mit ähnlichen Dingen beschäftigen. Und natürlich will ich keinesfalls dazu aufrufen, sich nicht mehr mit seinen Freund*innen zu unterhalten, vielmehr will ich daran erinnern, dass man keine Scheu haben muss, sich auch auf mehr als oberflächlichen Small Talk mit Personen einzulassen, die eine andere Lebensrealität haben. Ich halte das nicht nur für sehr förderlich für die Erweiterung des eigenen Horizonts, ich würde sogar so weit gehen, es als zwingend notwendig in unserer leider immer kälter werdenden und verhärteten Gesellschaft zu bezeichnen. Denn wie sollen Demokratie und Verständnis füreinander funktionieren, wenn man nicht miteinander spricht, philosophiert, diskutiert? Mein letzter Tipp also: mal wieder ein längeres Gespräch mit jemandem führen, von dem man eigentlich gar nicht so viel weiß. Kann ein Familienmitglied, die ehemalige Kollegin oder der Nachbar, der immer so grummelig guckt, sein – hört gut zu.
So, kommen wir doch langsam mal zum Ende! Ich finde nämlich, sieben Tipps reichen absolut aus, schließlich kann man damit schon eine ganze Woche füllen und dann in der darauffolgenden Woche einfach nochmal von vorne anfangen! Und außerdem möchte ich noch einen ausgesprochen theatralen Abgang machen, also Achtung:
crescendo in der Musik Spotlight Glitzerregen aus dem Schnürboden dramatischer Bühnentod hörbares Atemanhalten im Publikum Black frenetischer Applaus (hoffentlich) Alles Gute eure Lenke
Mit »Aida« inszenierst du deine erste Oper von Verdi. Wie hast du dich Stoff und Werk genähert?
Schon bevor »Aida« konkret auf meinem Schreibtisch lag, hat mich das Stück sehr interessiert. Zum einen durch meine persönliche Verbindung zu Ägypten, wo ich bereits zwei Mal inszeniert habe. Zunächst haben mich, sehr die Beziehungen Ägyptens mit Europa beschäftigt. Zum anderen wird auf inhaltlicher Ebene ein Konflikt zweier Staaten verhandelt, ein mächtiges Imperium gegen eine kleinere Nation. Das hat gegenwärtig eine ziemliche Brisanz.
Wie inszenierst du diesen Konflikt?
Der Krieg zwischen den zwei Staaten ist die Basis, auf der die Liebesgeschichte zwischen Aida und Radamès erst erzählt werden kann. Was macht diese Liebe unmöglich? Der Kriegszustand besteht schon, bevor die Handlung einsetzt. Wenn man im Text der Ursache des Krieges auf die Spur kommen will, stößt man immer auf den Nil: der heilige Nil, die Nilufer, die Verteidigung des Nils. Es geht vermutlich nicht einmal mehr um Territorien, aber um die Hoheit am Wasser. Ich lese das als eine notwendige Verteidigung des Flusses als der Lebensader eines Landes, das zum Großteil aus Wüste besteht. Dass mit der Bedrohung des Flusses die Existenz auf dem Spiel steht, das schien mir wahnsinnig relevant. Konflikte um den Nil haben sich bis heute massiv zugespitzt und werden sich auch in Zukunft möglicherweise verschärfen, jüngst durch den Bau des GERD-Staudamms in Äthiopien. Wasser ist eine existenzielle Ressource. Wie viel Wasser braucht ein rasant wachsendes Land, um die Bevölkerung zu ernähren, Landwirtschaft und Industrie zu betreiben und Elektrizität zu erzeugen? Einerseits hat in Kairo jetzt schon jeder Haushalt mehrere Stunden täglich keinen Strom zur Verfügung. Andererseits baut Ägypten mitten in der Wüste eine neue Hauptstadt, die komplett auf künstliche Bewässerung angewiesen ist, ein immens teures Projekt für eine Elite.
Ein absurdes Unternehmen. Ohne Wasser würde das System kollabieren.
Wenn der Nil kein Wasser mehr führt, dann wird ein Leben in Ägypten kaum noch möglich sein. Das wäre ein dystopisches, vor-apokalyptisches Szenario. In unserer unmittelbaren Gegenwart, in der wir uns mit Kriegen auseinandersetzen müssen, sind diese Fragen alles andere als abstrakt: Darf ich mich militärisch verteidigen, wenn meine Lebensader bedroht ist, wenn ich angegriffen werde? Ist es legitim, dass Amonasro in Ägypten einfällt, um seine Tochter und die äthiopischen Sklaven zu befreien? Krieg abzulehnen ist richtig, aber leider ist die Situation 2024 komplexer. Gäbe es das Recht auf Verteidigung, wenn das Wasser abgedreht wird? Wem das Wasser eines Flusses gehört, lässt sich nicht eindeutig beantworten.
In der Oper wird immer wieder der heilige Boden, das Vaterland besungen. Wie gehst du mit dem Patriotismus und Nationalismus um?
Krieg funktioniert vor allem in der Abgrenzung einer Gruppe gegen eine andere. Patriotismus und Nationalgefühl verstärken diese Abgrenzung und suggerieren Zugehörigkeit, ein absurdes Phänomen. Jede Nation setzt seine eigene Narration dafür auf. Und dabei sind die wirklichen Kriegsgründe oft gar nicht mehr klar nachvollziehbar. Und wie so ein »Apparat« im Kriegszustand anspringt, das versuche ich im »Guerra«-Bild im ersten Akt darzustellen: Dinge werden vernichtet, auf der Landkarte wird mal eben eine Grenze neu gezogen. Der Bote stirbt kurz nach seiner Ankunft und kann nicht mehr befragt werden. Die Informationen, die uns Verdi und sein Librettist Ghislanzoni geben, sind vage. Wir wissen weder, wer angefangen hat, noch wie lange der Krieg schon andauert, noch ob der Botenbericht stimmt. Es ist undurchschaubar. Und diese Ambivalenz verbindet sich sehr gut mit unserer Gegenwart, in der andere Berichterstattungen, Verkürzungen, kulturelle Prägungen schnell zu anderen vermeintlichen Wahrheiten führen.
Was für eine Gesellschaft zeigst du?
Wir haben uns bewusst dafür entschieden, fast alles Militärische auszuklammern, weil es mir vielmehr darum geht, zu zeigen, wie sich eine Bevölkerung dazu verhält, wie ein Volk seinen Sieg feiert. Und wie sich eine Notsituation durch plötzlichen Wohlstand für die unterschiedlichen sozialen Gruppen verändert. Und davon erzähle ich anhand der Verfügbarkeit bzw. Nicht-Verfügbarkeit von Wasser. Eigentlich sind alle Protagonist*innen zerrissen zwischen Herrschen und Privatinteressen, ihrer gesellschaftlichen Verantwortung und ihrem persönlichen Begehren. Und in dieser Ambivalenz kann man ihr Verhalten auch nachvollziehen. Ich kann Amonasro verstehen, der seine Tochter aus der Gefangenschaft befreien will, sie aber auch an ihre Verantwortung für ihr Land erinnert. Natürlich instrumentalisiert er sie, aber sie ist eben nicht nur Privatperson, sondern muss auch ihrer Aufgabe als Königstochter gerecht werden.
Bleibt in dieser Situation Raum für Intimität?
Eigentlich recht wenig. Das ist hochspannend bei Verdi. Die Trompeten sind ja fast »Leitmotiv« bzw. Signal dafür, wie sehr die Figuren in Machtstrukturen verstrickt sind. Mindestens drei Mal stören sie das intime Gespräch: Im Terzett im 1. Akt, bevor Aida, Amneris und Radamès dazu kommen, die Situation aufzudecken, dann im 2. Akt, als Amneris herausgefunden hat, dass Aida die Rivalin ist, aber bevor sie den Konflikt austragen können, kündigen die Fanfaren die Triumphfeier an. Als Aida nur noch im Tod einen Ausweg sieht, bricht der Triumphmarsch über sie herein. Und hier schafft Verdi einen Moment des maximalen Kontrastes, wenn das zarte, extrem auf die Sopranstimme fokussierte Gebet von dem Lärmen der Siegesfeier überrollt wird.
Gerade der Kontrast zwischen dem Monumentalen und dem Intimen, großer Oper und Kammerspiel bestimmt »Aida«. Wie verbindet sich das mit der Geschichte des Wassers?
Die Triumphfeier ist eine Parallelsituation, in der sich das Private und das Politische treffen. Amneris benutzt dieses Fest, um ihren eigenen, privaten Triumph über Aida auszuspielen. Das Wasser ist zurückerobert, die Sklavin muss im Staube sitzen. Der Kampf um die Ressource Wasser findet eben auch in einem großen staatlichen Rahmen statt genauso wie in einem privaten. Wie viel steht dem Einzelnen zu? Warum darf Amneris Trinkwasser für ihr Badevergnügen verschwenden, während andere mit einer unzureichenden Menge an verdrecktem Wasser auskommen müssen? Die politische Erzählung zieht sich immer ins Private. Was den Konflikt zwischen zwei Staaten ausmacht, findet sich letztendlich auch zwischen zwei Menschen wieder. Amonasro sagt den entscheidenden Satz: »Heute sind wir die Leidtragenden, aber morgen könnte es euch treffen.« Und das ist eine kollektive Warnung.
Welche ästhetische Setzung findest du für diese Welt?
Wir zeigen ja weder das alte, noch das unmittelbar gegenwärtige Ägypten, sondern vielmehr eine fiktive, dystopische Welt, in der heutige Krisen zugespitzt und Kriege um Wasser Realität geworden sind. Eine Vorahnung vielleicht, wie es in einigen Jahren auch in Europa aussehen könnte: Hitzewellen, Dürren, ausgetrocknete Flussbette, Mangel. In Bühne und Kostüm verbinden verschiedene Ideen, Epochen, auch reale, historische Momente, wie die 2500-Jahr-Feier des Schahs von Persien, einem Höhepunkt der Dekadenz, die teuerste Party der Welt inmitten der Wüste. Der Klimawandel und unser Umgang mit Ressourcen sind wahrscheinlich Kern der ganzen Inszenierung. Wasser ist so wertvoll und knapp geworden, weil die Menschheit in den letzten hundert Jahren so massiv in den Kreislauf der Natur eingegriffen hat und immer weiter eingreift. Und die Konsequenzen der aus dem Gleichgewicht gebrachten Natur sehen wir gerade überall – in Indien, in Ägypten oder auch an der Saar.
Ich liebe die Alpen, die Königin der Gebirge, zusammen mit dem Himalaya. Sie strahlen für mich gleichzeitig ein Gefühl von Stärke und Ruhe aus. Leider habe ich nur selten Gelegenheit, sie zu besuchen. Auf Reisen komme ich oft an ihnen vorbei, vor allem in der Schweiz, wo ich, wenn ich mich richtig erinnere, das letzte Mal gewandert bin.
Lässt sich das Dirigieren der »Alpensinfonie« mit dem Erklimmen eines Gipfels vergleichen?
Die Orchestrierung von Strauss ist enorm, aber wenn man von den 12 Hörnern des Blasorchesters hinter der Bühne absieht, vergleichbar mit Wagner. Dazu kommen besondere Instrumente, wie das Heckelphon, eine Art Oboe mit tieferem Register. Es bleibt ein musikalisches Meisterwerk und eine Herausforderung für mich als Dirigenten, die so überwältigend ist wie für einen Bergsteiger, der den Mont Blanc oder den Mount Everest besteigen will!
Welche Etappe der Bergexpedition, die Strauss vertont, »gehen« Sie am liebsten?
Mir gefällt besonders der »Eintritt in den Wald«. Das Thema, zum ersten Mal von den Blechbläsern vorgetragen und von Streicherarpeggien begleitet, ist von großer Schönheit. Gleichzeitig klar und überwältigend, wie es Strauss so einmalig beherrschte.
Interessierte sich Strauss fürs Bergsteigen – oder was haben Berge mit Kunst zu tun?
Soweit mir bekannt ist, hat Strauss gerne ausgedehnte Spaziergänge in der Natur gemacht, aber er verfolgte auch eine andere, metaphysischere Interpretation der Bergbesteigung. In seinem Tagebuch notierte er, dass er seine Komposition in Anlehnung an Friedrich Nietzsche als »Antichrist« untertiteln wollte.
Warum sollte man dieses Werk unbedingt kennenlernen?
Das Hören der »Alpensinfonie« ist ein einzigartiger Moment, der die Phantasie anregt, die Sinne schärft und die tiefsten Gefühle weckt. Es ist ein überwältigendes Schauspiel!
Am 07. Juni wird Philipp Löhles »Firnis« in der Alten Feuerwache uraufgeführt. Lenke Nagy hat mit den Mitwirkenden über ihren Bezug zu der bitterbösen Komödie gesprochen.
Was hat dich beim ersten Lesen des Stückes besonders gefesselt?
David Rimsky-Korsakow (Musik): Also was ich mag, ist, dass so große, existenzielle und anthropologische Themen, die an große Theatertheoretiker wie Marquis de Sade angelehnt sind, in dem Gewand von einer extrem fetzigen Komödie verhandelt werden. Das finde ich das Bestechende, dass Löhle solche großen Themen bearbeitet, sie aber total leicht, schnell, dynamisch und modern in einer skurrilen Realsatire daherkommen.
Jan Hutter (Frank Gitter): Ich habe ein paar Mal alleine laut beim Lesen gelacht, das passiert mir selten.
Gaby Pochert (Karo Fischer): Ich fand es einfach eine tolle Satire. Ein ziemlich flockig geschriebenes Stück, bei dem man lacht und einem gleichzeitig das Lachen im Halse stecken bleibt. Das finde ich das Tolle daran. Bei der Leseprobe haben wir das ratzfatz runtergelesen, einfach nur was da steht, ohne groß zu überlegen, wie man das spielt, und es war wahnsinnig komisch. Es war sehr schwer, das dann auf die Bühne zu kriegen, weil man dort natürlich das Tempo gar nicht haben kann, was wir bei der Leseprobe hatten.
Stefano Di Buduo (Bühnenbild und Video): Mich hat natürlich sofort angesprochen, dass das Stück so pseudonormal, relativ heutig anfängt, aber relativ schnell klar wird, dass da so ein Löhle-Humor drüber liegt und es absurd wird. Spätestens bei der Szene in Italien oder bei der Therapiesession merkt man »Okay, alles klar, das ist jetzt aber was anderes hier.« Und da wurde es für mich spannend. Natürlich denkst du als Bühnenbildner gleich: »Was für ein Setting ist das? Das ist ja gar nicht machbar, weil die jede Szene das Setting wechseln.« Aber was mich immer bei einem Stück anspricht ist, wenn man schnell reinkommt und weiterlesen will.
Wenn sich die Gesellschaft in Unterdrückte und Unterdrücker unterteilen würde – zu welcher Gruppe würdest du vermutlich gehören?
Verena Bukal (Jennifer Hoffmann-Wolf): Ich glaube, ich würde zu den Unterdrückten gehören. Vielleicht aber auch zu den Unterdrückern. Bei Corona und diesen ganzen Maßnahmen dachte man ja, man wäre auf der richtigen Seite und im Nachhinein merkt man, man war zu extrem und hat die anderen praktisch unterdrückt. Das war echt nicht okay so.
Jan Hutter (Frank Gitter): Ich glaube, ich gehöre jetzt schon ganz unfreiwillig zu den Unterdrückern, einfach aufgrund von den Privilegien, in die ich geboren wurde, was für eine Hautfarbe ich habe, als was für ein Geschlecht ich gelesen werde… Ja, ich glaube, da muss man gar nicht im Futur reden, tragischerweise ist das schon so.
Fabian Gröver (Daniel Wagner): Wahrscheinlich würde es mir passieren, dass ich bei den Unterdrückten lande, weil ich kein Unterdrücker bin. Vermutlich eher das, leider. Obwohl: zur anderen Seite möchte ich auch nicht gehören. Wenn es einen Widerstand gäbe, würde ich da mitmachen.
Stefano Di Buduo (Bühnenbild und Video): Ich bin Teil der europäischen Gesellschaft, die andere jetzt schon unterdrückt. Ich lebe in einer Demokratie, ich lebe in einer reichen Gesellschaft und ich bin geschützt durch den Sozialstaat, aber um diesen Wohlstand zu haben, den unsere Gesellschaft besitzt, werden andere Völker unterdrückt. Deshalb heißt es in meinem Alltag, jeden Tag in kleinen Gesten zu versuchen, eben nicht zu unterdrücken oder die Situation auszunutzen. Man muss sich das nicht ständig präsent machen, weil man so nicht leben kann, aber man kann im Kleinen anfangen, sich richtig zu verhalten. Und dann kann man sich größere Missions setzen, wie zum Beispiel auch in der Kunst zu arbeiten und dort von Unterdrückung zu erzählen, und das tue ich ja auch.
Wie nah ist deine Rolle deinem privaten Ich bzw. könnte dir dasselbe passieren wie deiner Rolle?
Jan Hutter (Frank Gitter): Also von der Struktur her sind wir gar nicht so unähnlich. Nach außen laut und nach innen hin ganz anders… Passieren könnte mir aber nicht dasselbe wie Frank Gitter, weil ich mir nie im Leben ein Autohaus zulegen würde und vermutlich vor meiner Frau an Krebs sterben würde. Und meine Frau wäre ein Mann, aber dafür müsste ich beziehungsfähig sein, also ist auch das sehr unwahrscheinlich… Also eigentlich sind wir uns überhaupt nicht ähnlich.
Jonathan Lutz (Paul Wagner): Ich glaube ja. Sowas könnte mir passieren, wenn ich jetzt nochmal so acht, neun Jahre in der Zeit zurückgehen würde. Dann könnte ich mir vorstellen, mich so zu entwickeln wie Paul. Aber aktuell bin ich privat an einem anderen Punkt, in einer anderen Reflektion übers Leben. Ob ich Flaschensammler werden könnte, weiß ich nicht, könnte passieren!
Gaby Pochert (Karo Fischer): Ich hoffe, mir passiert das nicht. Das ist ja schon sehr extrem, was Karo Fischer macht. Da arbeitet man mit aller Kraft dagegen, dass man auf gar keinen Fall so wird, aber letztendlich glaube ich, dass das in jedem Menschen drin ist. Ich spiele sie deshalb so gerne, weil ich viele aus meiner Heimat kenne, die so entgleisen.
Muss man im Kampf gegen Klimawandel, Überbevölkerung und Co. die Grenzen von richtig und falsch anpassen und gegebenenfalls moralisch verwerfliches Handeln zum Wohle der Allgemeinheit straffrei passieren lassen?
David Rimsky-Korsakow (Musik): Ich glaube, die Frage ist immer, wie eine Revolution oder eine Auflehnung organisiert werden… Ich kann Leute, die z.B. die letzte Generation ausmachen und die sagen »Wir haben ein Anliegen, das ist uns extremst wichtig und wir gehen dafür über Grenzen.« total verstehen. Ich würde das aber aus einer größeren Perspektive sehen und sagen, es ist alles Natur. Wir sind Natur, der Planet ist Natur und wir schaffen es gerade nicht, in Symbiose mit den anderen natürlichen Organismen zu leben. Dann bleibt uns nur die Quittung, Teil eines evolutionären Moments zu sein, in dem wir ausgelöscht werden. Das ist etwas Existenzielles, aber das verdienen wir, wenn wir nicht in der Lage sind, uns zusammenzureißen. Ich glaube aber, dass Zusammenreißen nicht bedeutet, dass man Leute abschlachten muss, es gibt genug andere Dinge, die man tun kann, man muss nur anfangen.
Anna Jörgens (Maja Neumann): Ja. Wenn man schon sagt, sich am Hambacher Wald auf einem Baum einzusperren ist illegal, dann unterstütze ich das. Ich selbst würde sowas nicht machen, weil ich mich das nicht trauen würde, andererseits unterstütze ich aber Greenpeace in ihren Aktionen und hab da sehr viel Respekt vor. Aber es hat auch seine Grenzen, ich bin nicht dafür, dass Privatmenschen leiden.
Jonathan Lutz (Paul Wagner): Ich bin schon sehr dafür, dass man sich in so einer Thematik aktivistisch verhält und für das kämpft, wofür es sich zu kämpfen lohnt und gegen die Müdigkeit, die es in der Gesellschaft gegenüber dem Klimawandel gibt. Ich weiß nicht, was die Rechtsfrage angeht, aber wahrscheinlich würde ich moralisch darüber hinwegsehen, es problematisch zu finden, wenn Leute für eine sinnvolle Sache kämpfen, ja.
Was ist die Herausforderung als Spieler*in in Firnis?
Verena Bukal (Jennifer Hoffmann-Wolf): Der Text. Sich den Text zu merken und den dann in eine Geläufigkeit zu kriegen. Tiefe Gefühle in einer großen Leichtigkeit zu bekommen und zu greifen und trotzdem noch mit dem anderen/der anderen zu spielen.
Anna Jörgens (Maja Neumann): Im richtigen Moment aufzutreten und anzufangen, ich bin immer noch mit meinem Textbuch hinter der Bühne und muss rausfinden, welche Szene als nächstes kommt.
Jonathan Lutz (Paul Wagner): Ich glaube, als Spieler*in ist die größte Herausforderung, so schnell in unterschiedliche Teilsequenzen und Kurzszenen reinzuspringen, ohne sich jetzt total figurengetreu da reinzufühlen, und immer einfach die Situation mit den Kolleg*innen zusammen so echt und so im Moment wie möglich zu verhandeln.
Macht es Spaß, auf der Bühne grausam sein zu dürfen?
Fabian Gröver (Daniel Wagner): Ja. Ja, natürlich. Einfach weil das besondere Momente und Ausnahmezustände sind, mit denen man im Alltag nicht konfrontiert wird. Und es ist ja auch nur ein Spiel, wie wir es auch im Stück sagen, und diese kleinen Grenzüberschreitungen sind einfach toll, wenn man sie mal machen darf.
Lucas Janson (Papa Buggy): Ja, das macht richtig Bock. Doch, grausam zu sein macht Spaß. Und auch mal ein Choleriker zu sein, der das dann so ganz primitiv auslebt, das ist eine schöne Rolle.
Gaby Pochert (Karo Fischer): Mega. Das sind für mich die viel interessanteren Figuren, wenn man mal so richtig vom Leder ziehen kann, weil man das natürlich im Alltag nicht macht. Ich sehe es auch gerne auf der Bühne, wenn andere das machen.
Steckt in jedem Menschen die Veranlagung dazu, seine Mitmenschen zu unterdrücken?
Fabian Gröver (Daniel Wagner): Leider ja. Im Endeffekt steckt ein animalischer Teil, auch wenn man sich unsere Evolutionsgeschichte anschaut, in uns. Durch unseren Wertekodex sind diese Teile gedeckelt und man möchte da natürlich nicht drauf zurückgreifen, aber ich glaube, das ist da, absolut.
David Rimsky-Korsakow (Musik): Es gab doch diese Elektroschocktests, die in den sechziger Jahren gemacht wurden, bei denen Ottonormalbürger*innen andere durch einen Druck auf einen Knopf gequält haben, nachdem ihnen gesagt wurde »Drück den Knopf.« Also solange Leute Verantwortung aussparen können, weitergeben können, sie auf irgendwelche anderen Umstände schieben können, glaube ich schon, dass Leute zur Unterdrückung fähig sind. Das ist natürlich auch eine totale Parabel auf das, was bei uns auf der Welt passiert, dass die Leute Ängste, die sie haben, auf Migration, Globalisierung und Klimawandel auslagern und sich ein Mittel zur Kompensation suchen. Und ich bin ja auch nur ein Säugetier und deshalb glaube ich, dass mir das auch passieren kann, wenn ich nicht aufpasse.
Anna Jörgens (Maja Neumann): Ja, aber das kann unterschiedliche Formen haben. Wenn ich zu einem Menschen kurz ein Arschloch bin, weil ich gerade keine Energie habe, dann ist das ja schon etwas zwischenzeitlich Bösartiges. Das ist schon, glaube ich, Teil des Menschen.
Lucas Janson (Papa Buggy): Schwierig, richtig schwierig… Glaube ich nicht. Ich glaube, dass eine Form von Macht oder eine bestimmte Form von Hierarchie bestimmten Leuten etwas gibt, daher kommt so eine Machtgier, wie sie irgendwelche großen Politiker wie Bolsonaro oder Erdoğan haben. Ich glaube, dass die sich an Macht aufgeilen und das dann eine Eigendynamik entwickelt, aber ich denke nicht, dass das in mir ist, dieses Machtbedürfnis. Aber bestimmt ein Bedürfnis nach Anerkennung. Nach Geliebtwerden. Nach Erfolg. Das schon. Aber das ist für mich entkoppelt von diesem Macht- und Unterdrückungssystem, ich glaube nicht, dass das in uns allen ist.
Als Firnis bezeichnet man eine dünne Schicht, die als letztes auf ein Gemälde aufgetragen wird, um es vor äußeren Einflüssen zu schützen. Wo ist der Firnis zwischen Moral und Missgunst in unserer heutigen Gesellschaft schon »abgebröckelt«?
Verena Bukal (Jennifer Hoffmann-Wolf): Ich finde, man hat das total bei den Reaktionen auf den CSD-Beitrag vom Saarländischen Staatstheater bei Facebook gesehen, wo Leute einfach ungestraft anderen den Tod wünschen. Ich finde, da bricht das gerade auf. Diese ganzen rechten Strömungen, weltweit diese Autokraten, dass ein Verurteilter immer noch Präsident werden kann… Diese ganzen Sachen, das ist das für mich.
Fabian Gröver (Daniel Wagner): Naja, dass es im Moment anscheinend gang und gäbe ist, dass offen auf Leute Gewalt ausgeübt wird, die für uns Politik machen. Das ist einfach ein No-Go. Das sind gewählte Volksvertreter, die haben wir dahin gewählt, damit sie sich für uns streiten und damit sie auch vielleicht unpopuläre Entscheidungen treffen, und dass die auf offener Straße angegangen werden und so weiter, das finde ich zum Beispiel extrem krass.
Lucas Janson (Papa Buggy): Ehrlich gesagt schon überall eigentlich. Also wenn ich bestimmte Leute sehe und was die denken oder auch sagen, dann habe ich das Gefühl, es bröckelt schon überall. Was für ein Rechtspopulismus mir auch so entgegenschlägt in bestimmten Punkten, was die Leute sich trauen zu sagen, was durch die AfD alles salonfähig geworden ist… Meine Figur, der Papa Buggy, ist auf jeden Fall ein Rechtskonservativer, wahrscheinlich ein AfD-Wähler, und die sieht man an jeder Ecke, es passiert einem ständig, dass einer einen im Supermarkt blöd anpöbelt oder so. Deshalb habe ich das Gefühl, die Membran ist schön zerbröckelt, beziehungsweise die Brandmauer gegen rechts, bei der man vor ein paar Jahren noch gesagt hat, sie würde noch stehen, die ist längst eingerissen. Vor ein paar Jahren hatte ich das Gefühl, dass das noch zurückhaltender war oder es einzelne Leute waren, die Fremdenhass oder so einen Bullshit von sich gegeben haben, und jetzt machen das so viele. Deshalb trifft das Stück auch genau den Nerv der Zeit, gerade so kurz vor Wahlen wie der Europawahl.