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Schlimmer geht immer?

Szenarien über das Ende der Welt faszinieren die Menschheit schon immer. Obwohl der Weltuntergang schon zigmal prophezeit wurde, gibt es die Erde und uns immer noch. Die Lust an Untergängen liegt in der Natur des Menschen – gestillt wird sie in Gedichten, in der Musik, im Kino. Können wir uns ein wirkliches Ende überhaupt noch vorstellen, oder haben wir es zu oft auf der Leinwand gesehen? Die Autorin und Regisseurin Rebekka David im Gespräch.

Gesa Oetting Es gibt unzählige Lieder, Filme, Gemälde, Gedichte über die Apokalypse – was fasziniert dich an den Erzählungen, an den unterschiedlichsten Vorstellungen über das Ende der Welt?

Rebekka David Dass es so viele sind und dass sie schon immer da waren – der Weltuntergang als anthropologische Konstante fasziniert mich. Menschen haben sich schon immer von ihrem eigenen Ende erzählt, und wenn wir auf die lange Geschichte dieses Narrativs zurückblicken, ist es spannend zu sehen, wie sehr konkrete Ereignisse in der Realität darauf einwirken, welche Art von Dystopie wir uns ausmalen. Und auch andersherum funktioniert diese Wechselwirkung: Wenn wir ein bestimmtes Szenario, von dem wir nie dachten, dass es uns jemals direkt betreffen könnte, oft genug im Kino gesehen haben, und es dann aber wider Erwarten doch Realität wird (Beispiel: Triage bei COVID 19), beruhen unsere Entscheidungen und Bewertungen auf dem, was wir nur aus der Fiktion kennen. Und wenn wiederum Klimawissenschaftlerinnen versuchen, potenzielle Zukunftsszenarien so verständlich wie möglich zu formulieren, zeichnen sie ein Bild, das zum Großteil auf Fakten basiert, aber in den kleinen Details, in den Ausschmückungen die es für uns konkret vorstellbar machen, greifen sie zwangsläufig auf das kollektive Imaginäre zurück, das uns alle prägt und sich aus der Masse all dieser Erzählungen zusammensetzt. Diese Geschichten wirken also direkt darauf ein, wie wir uns das Ende der Menschheit durch den Klimawandel vorstellen können und über alle Fragen, die sich daraus ergeben, sollten wir unbedingt miteinander ins Gespräch kommen! 

»Fiktionen über die Zukunft organisieren ja das kollektive Imaginäre, und das wiederum bestimmt, was wir als Wirklichkeit anerkennen, (…)  und wie ich mir wiederum etwas vorstelle, also wie ich die Welt wahrnehme, prägt, wie die Welt ist – Leute, vielleicht müssen wir mehr manifestieren!« (Leo in »The end, my friend«)

GO Warum hat die Menschheit so viel Vergnügen daran, sich ihr Ende auszumalen?

RD Ich glaube, dafür gibt es sehr unterschiedliche Motivationen. Welche ich am interessantesten finde, ist die der Auslagerung der eigenen Angst: Ich kann einer Figur dabei zusehen, wie sie sich durch einen zerstörten Planeten kämpft, vor Zombies oder den außer Kontrolle geratenen Nachbarinnen flieht und den Kometeneinschlag erwartet, ich kann mitfiebern und leiden, ich kann diese Figur bestimmte Ängste durchleben lassen, die ich selbst unterbewusst habe, ja ich könnte sogar fast diese Figur sein, aber ich bin es eben nicht, denn am Schluss kann ich den Laptop einfach zuklappen. Und dann sitze ich da, auf meiner Couch, und bin sehr froh, dass es bei mir noch nicht so schlimm ist, dass das alles denen da passiert, denen in dem kleinen Apparat, und gegen deren Katastrophen sehen unsere realen für den Moment vielleicht etwas weniger dunkel aus.

GO Die Figuren in »The end, my friend« reagieren alle ganz verschieden auf ein möglicherweise nahendes Ende – wie habt du und dein Ensemble die Figuren und ihre jeweilige Position gefunden?

RD Im steten Dialog. Mir war wichtig, fünf unterschiedliche Perspektiven und Verhaltensweisen zu finden, die miteinander in ein fruchtbares Gespräch treten können. Dabei geht es mir nicht darum, den kompletten Diskurs abbilden zu wollen, sondern Positionen zu suchen, die für uns in ihrer Art auch nachvollziehbar sind, deren Ängsten und Verdrängungsmechanismen wir nicht sofort zu unseren eigenen auf Distanz halten können. Und mit diesem Ansatz habe ich mit den Spielenden und dem Team die Figuren entworfen und weiterentwickelt.

GO Was denkst du, was passieren muss, damit endlich was passiert in unseren Köpfen, und vor allem in unserem Handeln?

RD Wenn ich das wüsste, würde ich diesen Abend nicht machen.

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Die lieben Eltern und das liebe Geld

Eine Videoeinführung zu »Die lieben Eltern«
(einfach auf den Pfeil klicken!)

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Was Oscar Wilde mit Hyaluron zu tun hat – Journal einer FSjlerin

Was haben Instagram, Pflegecremes und Fitnessstudios gemeinsam? Gut, ich gebe zu – das war einfach. Alle drei haben in irgendeiner Form mit dem zu tun, dem ich mich in diesem Artikel widmen möchte: der gesellschaftlichen Auffassung von Schönheit, dem Selbstoptimierungswahn und (ungesunden) Körperbildern.

Man könnte meinen, dass der Hype um diese Thematiken gegenwärtig seinen historischen Höhepunkt erreicht hat. Und tatsächlich finden sich eine Vielzahl von Ereignissen aus dem 21. Jahrhundert, die diese These stützen. Um mal einige Beispiele zu nennen: 2002 wurde Botox offiziell als Einsatzmittel für kosmetische Zwecke zugelassen. 2006 wurde die erste Staffel von Heidi Klums Castingshow Germanys next Topmodel ausgestrahlt. 2011 wurde Snapchat, die App die neben lustigen Hundezungen auch eine Menge von vermeintlich optimierenden und hautglättenden Filtern beinhaltet, gelauncht.

Doch ist der Wahn, sich einem gesellschaftlichen Bild von Schönheit anpassen zu wollen, tatsächlich ein Phänomen der Gegenwart? Ist er nicht vielmehr seit Anbeginn der Zeit ein Impuls, für den die Menschheit bereit ist hohe Preise zu zahlen? Dies scheint nicht nur im Hinblick auf bei archäologischen Ausgrabungen gefundene Spiegel oder jahrzehntealte Diätkonzepte schlüssig, sondern auch bei einem Blick auf die Literaturgeschichte, in der sich Schönheitsideale und die Manipulation des eigenen Äußeren wie ein roter Faden durch eine Vielzahl von Werken ziehen, wie z.B. in Schneewittchen, dem Märchen, in dem Schneewittchens Stiefmutter die Prinzessin umbringen lassen möchte, da diese »tausendmal schöner« ist als sie.

Der Kostümentwurf für Basil Hallward (©Zana Bosnjak)

Im November 2023 hat in der Alten Feuerwache eine vom Regisseur Alexander Nerlich gefertigte Bühnenadaption von Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray Premiere gefeiert. Und auch darin geht es um das Thema Sehnsucht nach ewiger Schönheit und Jugendlichkeit. Dem Protagonisten Dorian Gray bietet sich die Möglichkeit, diese Sehnsucht zu stillen, als sein Freund, der Maler Basil Hallward, ein Portrait von ihm anfertigt. Dorians Wunsch, das Bild möge an seiner Stelle altern, damit er niemals den Verfall seiner eigenen Attraktivität zu spüren bekommen muss, wird auf unerklärliche Art und Weise erhört. Doch zu spät findet der junge Mann heraus, womit er sein neues Leben bezahlen muss: Er wird zum Narzissten, Heimlichtuer und schließlich sogar zum grausamen Mörder.

Die erste Veröffentlichung von »Das Bildnis des Dorian Gray«

Ist die Moral der Geschichte also, dass es verwerflich ist, sich Schönheit zu wünschen? Falls ja, legt Wilde sich mit dieser These mit einer Vielzahl von Menschen an – um nicht zu sagen, mit allen. Denn der Wunsch nach vermeintlicher Schönheit, diesem Begriff, der mir mit zunehmendem Reflektieren immer ungreifbarer zu werden scheint, ist so tief in uns und der Gesellschaft verankert, dass man sich fragen muss, ob es überhaupt noch möglich ist, sich von dem Ziel möglichst »schön« zu sein, zu distanzieren. Denn selbst wenn man in seinem Leben noch keinen einzigen Gedanken an sein Äußeres verschwendet haben sollte, ist der gesellschaftlich genormte Begriff von Schönheit so eng mit Erfolg und Privilegien verknüpft, dass der Wunsch sie zu erlangen in Wünschen nach einer erfolgreichen Karriere, Familiengründung oder einer gehobenen Position in der Gesellschaft aus meiner Sicht inkludiert ist.

Wer Karriere machen will, hat laut Studien von z.B. dem »Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit« einen Vorteil, wenn er oder sie als attraktiv und ansehnlich gilt. Auf Dating-Apps wie Tinder wird ein möglicher Partner/eine mögliche Partnerin nur aufgrund des Äußeren innerhalb von Sekunden abgelehnt. Und dem gängigen Schönheitsideal entsprechende Menschen erhalten sogar bessere Noten, ein hilfsbereiteres soziales Umfeld und mildere Urteile in Gerichtsprozessen.

Der Schönheitswahn ist also ein gesellschaftliches Phänomen und im kollektiven Gedächtnis internalisiert. Interessant, dass wir ihn dennoch als verwerflich und unsympathisch brandmarken und die Maxime gilt: Gib dir Mühe schön zu sein, aber zeig niemandem wie viel Arbeit es dir wirklich bereitet. Und eben jene Maxime ist, wie schon angedeutet, kein neues Phänomen – erinnern wir uns doch mal an umschminkte Augen im alten Ägypten, wallende Lockenperücken im Barock, die Erfindung des Korsetts und ähnliches. Auf der einen Seite beängstigend, da es unmöglich erscheint, dass unsere Gesellschaft jemals ihre oberflächliche Beurteilung des Menschen aufgibt.

Auf der anderen Seite ist der Gedanke beruhigend, dass es vollkommen menschlich ist, sich von Schönheitsidealen unter Druck gesetzt zu fühlen, da die gesellschaftliche Erwartungshaltung, in sein Äußeres investieren zu müssen, Jahrhunderte Zeit hatte zu wachsen. Außerdem erinnert einen die Tatsache, dass innerhalb der letzten Jahrzehnte permanent unterschiedliche Körperformen als Ideal angepriesen wurden, daran, dass auch die aktuell geltenden vermeintlichen Schönheitsmerkmale nur eine Modewelle sind, die in einigen Jahren vielleicht schon von neuen abgelöst werden.

Wozu also einem Ideal nachrennen, das sowieso unerreichbar und ständig im Wandel ist? Leichter gesagt als getan, aber vielleicht können wir versuchen, uns diese Frage in Zukunft vor Augen zu halten, wenn wir mal wieder an unseren scheinbaren Makeln verzweifeln.

Der Kostümentwurf für Sibyl Vane (©Zana Bosnjak)

Doch zurück zu Dorian Gray: Der Klassiker aus dem Jahr 1890 bleibt thematisch zeitgemäß, was sich auch in der Inszenierung in der Feuerwache zeigt. So lassen sich zum Beispiel die Kostüme, entworfen von Zana Bosnjak, weder in eine Epoche, noch in einen Stil, ein Land oder eine Gesellschaftsschicht einordnen. Sie dienen eher dazu die Zeitlosigkeit der Handlung zu unterstreichen und können gleichzeitig Mittel zur Abstrahierung der Geschichte werden: Ist es nicht auch möglich, dass Komponenten der Handlung sich nur in Dorians Kopf abspielen? Sind nicht einige der Figuren nur eine Projektionsfläche von Teilen seiner selbst?

Auch das Bühnenbild von Thea Hoffmann-Axthelm, bestehend aus einem vollgestellten Dachboden mit einem leuchtenden Quadrat in der Mitte und einem beweglichen Plafond, ist abstrakt gehalten und kann als Stellvertreter für das Chaos in Dorians Psyche verstanden werden. Die Atmosphäre, die bei diesem Ausflug in Dorians Gedankenwelt herrscht, wird maßgeblich beeinflusst von der Musik, die Malte Preuss beigesteuert hat. Sie wird im Laufe des Stückes immer mystischer und bedrohlicher, sowie auch Dorian sich vom Unschuldslamm zur Gefahr für sich und seine Mitmenschen entwickelt.

Trotz all dieser künstlerischen Mittel versucht Nerlichs Inszenierung nicht mit dem Finger auf eine Kernaussage zu zeigen oder den Zuschauer*innen eine Moralpredigt zu halten. Vielmehr darf und soll jeder für sich merken, welche Gedanken das Werk in einem anstößt. Dieser Artikel konnte vielleicht einen kleinen Einblick in die meinen geben.

Ach ja, seid nett zu euch und euren Körpern. Kein Schönheitsideal dieser Welt ist eine Gefährdung eurer psychischen sowie physischen Gesundheit wert. Zum Schluss noch ein Fun Fact: Tatsächlich haben Forscher*innen des »British Medical Journal« herausgefunden, dass Menschen, die regelmäßig Kulturveranstaltungen beiwohnen, eine höhere Lebenserwartung haben! Wenn das mal nicht noch ein Grund mehr ist, ins Theater zu gehen.

Lenke Nagy

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Die Freiheit des Erscheinens

Gedanken zu »Das Bildnis des Dorian Gray«

11891 erschien Oscar Wildes einziger Roman »Das Bildnis des Dorian Gray«. Der Roman, der zunächst als Forstsetzungsgeschichte in »Lippincott`s Monthly Magazine«  herauskam, veränderte, wie sein Übersetzer Lutz-W. Wolff im Nachwort schreibt, »die englische Literatur des 19. Jahrhunderts nachhaltig«. In einer Bühnenadaption von Regisseur Alexander Nerlich ist »Das Bildnis des Dorian Gray« nun in der Alten Feuerwache zu sehen. Der folgende Text von Simone Kranz ist collagiert mit (in Großbuchstaben gesetzten) Notizen von Alexander Nerlich.

»Ich verkünde die Wahrheiten von Morgen«, lässt Oscar Wilde Lord Henry Wotton, einen der Protagonisten von »Das Bildnis des Dorian Gray« sagen. Die Figur, vielleicht ein Alter Ego des Autors, scheint Recht zu haben. Die Geschichte des jungen Dorian, dessen Jugend und Schönheit jedermann in Bann schlägt und der Macht über andere erlangt, indem er sich zur Projektionsfläche für ihre Wünsche und Sehnsüchte macht, zu einer Abfolge von Bildern stilisiert, scheint der Welt der Selfies und Instagram Accounts entsprungen zu sein.

Aber der Reihe nach. Schon zu Beginn des Romans steht die Erschaffung eines Bildes. Es ist der Maler Basil Hallward der Dorian portraitiert und in ihm eine Inspirationsquelle sieht, die seiner Kunst radikal erneuert. Basil stilisiert Dorian zur utopisch reinen Seele, die gleichzeitig »einen schwarzen undurchdringlichen Hintergrund« habe. Das verwirrt den jungen Dorian – als Waise bei seinem Großvater dem strengen und kaltherzigen Lord Kenzo aufgewachsen, hat er keinerlei Selbstwertgefühl, er sehnt sich nach Zuwendung und einer stärkenden Außenbindung. Das macht es auch Lord Henry Wotton leicht, der Dorian in Basils Atelier trifft und der in ihm »weißen zu allem formbaren Marmor« sieht. Um den Reagenzprozess seines Dorian-Experimentes zu starten, konfrontiert Lord Henry Dorian mit der Endlichkeit seiner Jugend und Schönheit und dem Auftrag sein Leben, allen Erfahrungen zu öffnen, solange ihm seine Jugend noch gegeben sei. Dorian stürzt die Erkenntnis seiner eigenen Vergänglichkeit in Verzweiflung, er wünscht, das Portrait möge an seiner Stelle altern und ihm sei stattdessen die ewige Jugend des Abbildes gegeben. Mysteriöser Weise erfüllt sich dieser Wunsch.

»DER FLUSS, IN DEN NARZISS SCHAUT, DAS FLUIDE, DAS GLITZERNDE, DAS UNGREIFBARE, IST DIE FREIHEIT DES ERSCHEINENS: UNVERBINDLICHKEIT, VERWANDLUNGSFÄHIGKEIT UND LUSTVOLLE SELBSTREPRODUKTION. DIE ARBEIT AN DER EIGENEN LEBENSERZÄHLUNG.« 

Das Postulat Lord Henrys, dass man »die Seele durch die Sinne heilen« könne, ist ihm von nun an Lebensmaxime, denn Dorian sehnt sich nach Heilung. Er beginnt ein Leben in Ausschweifungen, das getreu den Vorgaben Lord Henrys ganz dem Augenblick gewidmet ist.

Doch die Heilung stellt sich nicht ein, nicht in der Liebe zu der jungen Schauspielerin Sibyl Vane, die er in den Tod treibt, nicht im Ruin seines Gefolgsmanns Alan Campbell, nicht in den vielen rauschenden Partys und Drogenexzessen in die sich Dorian stürzt. Schließlich ermordet er den Maler Basil Hallward, der sich als erster ein Bild von ihm schuf. Am Ende sitzt Dorian allein in seiner Dachkammer, seinem einstigen Kinderzimmer, umringt von den Schattengestalten der Toten, deren Ende er mitverschuldet hat.

»DAS BILD IST MEHR ALS EIN VERFLUCHTES GEMÄLDE, ES IST ERINNERUNG: SPUREN UND NARBEN DES LEBENS, DIE NICHT VERSCHWINDEN SONDERN ABGESPALTEN WERDEN, VERGEBLICH NATÜRLICH.«  

In einem letzten verzweifelten Akt versucht er das verhasste Portrait, das inzwischen zur Fratze geworden ist, zu zerstören, um die Vergangenheit, die sich in dem Portrait abgezeichnet hat, endgültig auszulöschen. Doch passend zum Genre der Gothic Novel zerreißt ein markerschütternder Schrei das Haus. Kein Mensch kann seiner Vergangenheit entgehen.

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Endstation rotes Sofa

Wer kennt es nicht: Am Wochenende wünscht man sich, sich für die Mühen einer Arbeitswoche eine Belohnung zu erlauben. Was könnte besser passen, als ein Besuch im Theater? Dies gilt umso mehr, wenn es nach der Vorstellung die Möglichkeit gibt, sich nicht nur mit den ebenso »theaterstimmungserhitzten« Nachbar*innen aus dem Publikum zu unterhalten, sondern auch mit den Leuten, die wochenlang in die Marterie des Stückes ein- und mit einem fertigen Theaterstück wieder daraus aufgetaucht sind. Oder um es in drei Worten zu sagen: »Das rote Sofa«. Was zunächst nichts mit Theater zu tun haben scheint, ist am Staatstheater rundum bekannt: Bei dieser, nach ausgewählten Vorstellungen im großen Haus stattfindenden Veranstaltung, lädt Chefdramaturg Horst Busch dazu ein, Ensemblemitgliedern Fragen zu stellen und das Stück durch die Augen derjenigen zu sehen, die daran beteiligt sind.

Verena Bukal, Christiane Motter und Fabian Gröver in »Endstation Sehnsucht« (Foto: Jennifer Hörr)

In der Spielzeit 2023/2024 eröffnet Horst Busch diese Reihe von Theatergesprächen am Freitag, den 22. September nach der dritten Vorstellung von »Endstation Sehnsucht« und bittet dazu den Regisseur und neuen Schauspieldirektor des Hauses Christoph Mehler zum Gespräch. Nachdem also alle »Endstation Sehnsucht« – Nerds, die das Angebot gerne wahrnehmen wollen, im Schillerfoyer eingetrudelt sind und sich mit Getränken und Snacks versorgt haben, erzählt Mehler zunächst von seiner Motivation den Klassiker Williams´ als Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit zu wählen.

Bereits hier kristallisiert sich der Blick des Schauspieldirektors aufs Theater allgemein heraus: Er versteht es als ein Vergrößerungsglas von dem, was in der Welt vorgeht, was die Menschen bewegt und womit sie zu kämpfen haben. Und diese Dinge sind meist – und bei Tennessee Williams im Besonderen – zeitlos. Schließlich hat und wird es immer Menschen geben, die sich fühlen, als ob sie anders als der Rest der Welt sind und auch das Pendeln zwischen einer Sehnsucht nach Magie und dem Festhängen in der schmerzlichen Realität ist kein Alleinstellungsmerkmal der Protagonistin Blanche.

Mehler stellt auch fest, dass er seinen Beruf zwar für das Publikum ausübt, aber natürlich die Inszenierung aus seinem persönlichen Verständnis des Stoffes und seinen Assoziationen und Wünschen resultiert – und auch aus denen der Darsteller, für die der Schauspieldirektor sehr wertschätzende Worte findet und deren »eigener Wahrheit« er Raum lassen will.

Ob es diese Einstellung ist, wegen derer Mehler so entspannt damit umgeht, als auch ein kritisches Feedback aus den Reihen der gesprächsfreudigen Zuschauer*innen kommt? Selbst wenn nicht, ist Mehlers Umgang damit genau richtig; schließlich darf und soll das »rote Sofa« mehr sein, als ein Platz für Selbstbeweihräucherung und Lobeshymnen.

Fabian Gröver und Gregor Trakis als Mitch und Stanley  (Foto: Jennifer Hörr)                                                                                   

Am 22. September ist es sogar kurz Bühne für ein klares Statement in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung, da Mehler nach Ansprechen der Figur Stanley klarstellt: »Wir müssen uns von solchen Männern befreien!« und betont, dass Stanley keinesfalls eine Vorbildfunktion oder eine das Männerbild prägende Stellung einnehmen darf. Weitere Themen im Laufe des Gesprächs sind die Lautstärke des Stückes, die Angst vorm Scheitern, der Einsatz des Bürger*innenensembles und der Rahmen, in dem das Stück neu interpretierbar ist.

Am Ende, nachdem selbst den enthusiastischsten Theaterliebhaber*innen die Fragen ausgehen, versucht eine Dame den Spieß rumzudrehen: »Möchten Sie denn noch was von Ihrem Publikum wissen?«. Eine Frau einen Tisch weiter schließt den Abend schließlich mit dem schönen Appell ab, öfter ins Theater zu gehen und auch mal ein Stück mehrfach anzuschauen, denn »das ist gut für das Theater und gut für uns selbst«.

Theater dürfe auch mal unangenehm sein, betont Mehler an dem Abend, von dem hier die Rede ist. Die Endstation des Abends, das »Rote Sofa« im Schillerfoyer ist dies jedoch nicht. Im Gegenteil, gerade nach so einem aufwühlenden Erlebnis, wie es »Endstation Sehnsucht« sein kann, tut es gut, sich mit seinen Fragen und Anregungen nicht alleine zu wissen.

Und um den Kreis zum Anfang hin zu schließen: Wochenenden sind ja bekanntlich sowieso für jede Geselligkeit zu haben. Damit: Bis bald, wenn vielleicht auch Sie Lust haben, ihren Fragen an »Theatermacher*innen« freien Lauf zu lassen. Lenke Nagy

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TERROR von Ferdinand von Schirach: Die Grundlage des Urteils

Die Bühne ist ein Gerichtssaal. Der Angeklagte, Lars Koch, wird des 164fachen Mordes beschuldigt. Den folgenden Tathergang hat er bereits gestanden: Als Pilot eines Kampfjets der Bundeswehr hatte er den Befehl, eine Passagiermaschine, die von Terroristen entführt wurde, zu eskortieren. Als das Flugzeug Kurs auf ein mit 70.000 Zuschauern besetztes Fußballstadion nimmt, schießt Lars Koch das Flugzeug, gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzen, ab. Seine Begründung: er habe die 70 000 Menschen im Stadion retten wollen und dafür die 164 Passagiere des Linienfluges opfern müssen. Ist dieses Motiv mit der im Grundgesetz Artikel 1 verankerten »Würde des Menschen« vereinbar, die vorgibt, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden dürfen?

Foto: Martin Kaufhold

Schon zu Beginn der Theatervorstellung erklärt die Vorsitzende die Zuschauer zu Schöffen, also Laienrichtern. Das Publikum soll nach Zeugenvernehmung und Plädoyers über die Schuld des Angeklagten richten. Je nach der Entscheidung der Zuschauer, ob Lars Koch schuldig oder nicht-schuldig gesprochen wird, nimmt der Theaterabend einen anderen Verlauf. Der Urteilsspruch richtet sich jeweils nach dem Votum des an diesem Abend anwesenden Theaterpublikums.

Im Laufe der Verhandlung wird die Rechtslage erläutert, das Grundgesetz zitiert, werden Zeugen vernommen. Mit Frau Meiser, der Nebenklägern, kommt eine Angehörige der Opfer zu Wort. Entsprechen die juristischen Vorgaben dem moralischen Empfinden des Publikums, das nun Recht sprechen soll? War der Absturz der Passagiermaschine wirklich die einzige Möglichkeit, das Leben der Stadion-Besucher zu retten? Wie kommt das Urteil der Zuschauer zustande?

In einem Interview äußerte sich der studierte Jurist Ferdinand von Schirach über die Wirkung seines Erfolgsstückes Terror: »Ich habe erlebt, wie Zuschauer nach der Aufführung im Foyer blieben, um weiter miteinander zu diskutieren. Alle redeten über den Staat, über unsere Gesellschaft und unsere Zukunft, die Verfassung wurde plötzlich lebendig. Das genau ist es, wofür ich schreibe, für diesen Moment, der alles ermöglicht.«

Foto: Martin Kaufhold

Die Saarbrücker Inszenierung in der Regie von Jonas Knecht unterstreicht die Künstlichkeit des Theaterabends, will nicht vorgeben, ein Gerichtverfahren zu sein. Angefangen bei dem blubbernden Wasserspender über das orchestral gesetzte Rascheln der Gerichtsakten, dem Klackern der Tastatur der Gerichtsschreiberin bis hin zu dem sich drehenden Zeugenstuhl werden akustische und optische Mittel eingesetzt, die den Spannungsbogen der Inszenierung rhythmisieren. Hinzu kommen die überdimensional projizierten Filmaufnahmen der Live-Kamera, die das psychologische Spiel der Schauspieler vergrößern und sie ganz nah an die Zuschauer bringen. Gleichzeitig manipulieren die Filmbilder die Blickrichtung, bestimmen den Fokus der Aufmerksamkeit. Ist der Appell der Vorsitzenden am Anfang des Theaterabends »ausschließlich über das (zu) urteilen, was Sie hier in der Verhandlung hören« nicht eine Illusion? Können wirklich »nur die Beweise, die wir hier erheben«, Grundlage des Urteils sein?

Ferdinand von Schirachs Stück ist eine Versuchsanordnung, ein Spiel, das perfekt durchkomponiert ein ethisch moralisches Dilemma präsentiert. Der eingebaute Entscheidungsprozess macht das Publikum zu Mitspielern und verhilft dem Stück zu seiner Popularität: Terror wurde bereits in elf Ländern auf fünf Kontinenten gezeigt.  Simone Kranz

Salzburger Rede

Unser einziger sicherer Halt, meine Damen und Herren, sind die Verfassungen der freien Länder. Auch wenn es langweilig klingt: nur ihre komplizierten Regeln, nur ihre Ausgewogenheit und Langsamkeit, ordnen unsere schwankenden Gefühle, sie lehnen Wut und Rache als Ratgeber ab, sie achten den Schwächeren, und am Ende sind sie es, die uns vor uns selber schützen.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich ein Theaterstück geschrieben habe, in dem das Publikum ein Urteil fällen soll, wenn ich doch gegen Volksentscheide bin. Theater und Literatur haben ganz andere Aufgaben als Politik und Justiz. Im Theater begegnen wir uns selbst, unseren Reflexen, Gefühlen, Gedanken. Wir ringen mit uns, sind hin- und hergerissen, wir streiten, zweifeln, verwerfen und suchen nach der richtigen Lösung. Das Theater wird so zu einem Forum, auf dem »res publica«, die öffentliche Sache, verhandelt wird. Die Abstimmung dient nur der Anregung, nicht mehr und nicht weniger.

(…) Kein Mensch, auch nicht der Wähler, ist im Besitz der Wahrheit, unsere Zukunft ist niemals alternativlos – im Gegenteil, sie ist offen. Wir können – und dürfen deshalb nur kleine Schritte gehen, jede Veränderung muss korrigierbar sein. Einfache Wahrheiten gibt es nicht, sie gab es noch nie, und Schwarm Intelligenz, zumindest in der Politik, ist am Ende nur ein weiterer Modebegriff für die hässliche Macht des Stärkeren. Tyrannei entsteht durch die Aufhebung der Gewaltenteilung. Und dabei ist es ganz gleichgültig, ob das – wie in der Oper – ein Tyrann selbst tut oder ob es der angebliche Wille des Volkes ist. Gerade in diesen aufgeregten Zeiten müssen wir das Recht gegen die Macht stellen.

Auszüge aus der Festrede von Ferdinand von Schirach zur Eröffnung der Salzburger Festspiel 2017