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Björn SC Deigner zu seinem Stück »der Reichskanzler von Atlantis«

Wie kam es zur Auseinandersetzung mit dem brisanten Thema »Reichsbürger« und wie hat es sich in der gesellschaftlichen Einschätzung verändert?

Neulich erzählte mir eine Person, die im Finanzamt arbeitet, dass es dort mittlerweile Handreichungen für den Umgang mit stadtbekannten Reichsbürgern gibt. Man werde geschult, wie man auf deren Ansagen und Forderungen reagieren müsse; wie man damit umgehen müsse, wenn wieder über Nacht unzählige Seiten mit kruden Aussagen und Ansprüchen per Fax an die Amtsstelle gesendet wurden; und welche Personen als gefährlich einzustufen seien und wie man sich vor ihnen schützen könne.

Als das Stück 2018 entstand, gab es noch keine sonderliche Wahrnehmung des Phänomens »Reichsbürger« in der deutschen Gesellschaft. Ein befreundeter Dramaturg fragte mich damals, ob ich mir sicher sei, darüber einen Theatertext schreiben zu wollen, schließlich handle es sich ja nur um »ein paar Verrückte«. Diese Einschätzung teilten damals viele Menschen in der Bundesrepublik: wenn man denn überhaupt Notiz nahm von den Reichsbürgern, so schaute man doch mehrheitlich augenreibend auf diese seltsam versprengte Bewegung, die sich mit einem Hang zur Verkleidung mal mehr esoterisch, mal mehr militärisch ausnahm.

Foto: Martin Kaufhold

Zugleich waren dies die Elemente, die mich bei der Suche nach einem Theaterstoff recht schnell zu dieser Bewegung zogen. Zum einen waren die damals auffälligen Gestalten in höchstem Maße theatral: Sie kleideten sich in fantasievolle Uniformen und selbst gemachte Schärpen. Sie zelebrierten seltsame Rituale, die einem Science-Fiction Roman entsprungen schienen, und gaben sich staatsmännisch, obgleich von einer Mietwohnung aus. Zum anderen waren für mich Parallelen zu Hitlers Nazi-Bewegung relativ schnell offenkundig: der Faschismus hatte immer schon einen Hang zur Kostümierung und Ordens-Dekoration. Und auch der esoterische Glaube, war unter den Nazis weit verbreitet, ja Teil der Ideologie.

Kurz: ich fand die Reichsbürger trotz – oder gerade wegen – ihrer skurrilen Art mehr als beunruhigend und war auch besorgt darüber, dass die deutsche Gesellschaft die Bewegung als versprengte Spinner abtat. Auch der Polizistenmord von 2016, bei dem der Reichsbürger Wolfgang Plan im bayrischen Georgensgmünd vier SEK-Beamte verletzten (einen davon tödlich), führte noch zu keinem bundesweiten Umdenken. Es brauchte erst wiederholt gewalttätige Übergriffe, damit die Ansichten der Bundesbürger sich änderten. Und die Einsicht, dass es sich bei den Reichsbürgern eben nicht nur um spinnerte Einzelgänger handelt, sondern teilweise um gut vernetzte Rechtsradikale, die nicht nur vom Staatsstreich träumen, sondern immer wieder besondere Verbindungen zum deutschen Militär aufweisen, um diesen Putsch auch durchzuführen – wie zuletzt die »Gruppe Reuß«, der in diesem Jahr der Prozess gemacht wird.

Wie lustig oder gefährlich ist die krude Ideologie der sogenannten »Reichsbürger« mit all ihren Splittergruppen und wie bist Du auf den schönen Titel gekommen?

Für »Der Reichskanzler von Atlantis« wollte ich eine Textform finden, die diese Entwicklung nachvollzieht: Im ersten Teil ist das Stück die skurrile Zeichnung eines Reichsbürger-Paares, das in den eigenen vier Wänden nach sehr eigenen Gesetzmäßigkeiten lebt und das sehr zum Lachen animieren kann. Im zweiten Teil aber folgt der Umbruch und aus dem, was Spaß gewesen ist, wird bitterer Ernst. Hier folgt auch eine deutlichere Anbindung des Gedankenguts der Reichsbürger an die Nazi-Ideologie und die Rolle der Frau darin.

Trotz aller Leichtigkeit des Textes war mir daran gelegen, dass er immer auf mehreren Ebenen funktioniert: Zum einen ist er Rede der Figuren. Zum anderen ist er aber auch ein Strickwerk aus Verweisen auf Geschichtliches aus dem Faschismus, um die Anbindung der Reichsbürger-Bewegung an die Historie implizit zu erzählen. So ist beispielsweise der Titel eine Referenz auf den esoterischen Glauben vieler Mitglieder der Reichsbürger-Bewegung, dass der arische Mensch vor Urzeiten auf Atlantis heimisch gewesen ist, dieses Eiland jedoch dem Untergang geweiht war und seitdem die Menschheit wieder zurück finden müsse zu ihrer »ursprünglichen Reinheit«. Zugleich verweist der Titel aber auch auf »Der Kaiser von Atlantis« – eine Kammeroper, die 1944 von Inhaftierten im Konzentrationslager Theresienstadt geschrieben wurde.

Bis heute ist die Reichsbürger-Bewegung schwer zu fassen. Zu divers sind die Splittergruppen: Von militanten Rechtsextremen, die sich mit Gewalt vor der BRD-GmbH schützen wollen, bis hin zu esoterischen Aussteigern auf ländlichen Gehöften, die sich nicht »fernsteuern« lassen wollen, ist die Schnittmenge sehr groß.

Wieso schreibst Du für das Theater bzw. welche Chance gibst Du diesem Medium?

Mein Versuch, für das Theater zu schreiben, ist immer ein politischer. Denn ich glaube, wenn an einem Abend Menschen zusammenkommen, um einer Geschichte zu folgen, birgt das automatisch politisches Potential. Das soll aber nicht bedeuten, dass meine Stoffe versuchen, Dinge besser zu wissen als die Zuschauenden. Ich möchte mit meinem Schreiben auch niemanden belehren. Viel mehr möchte ich meinen Wissensvorsprung, der durch lange Recherche entsteht, in eine ästhetische Erfahrung überformen, die im besten Fall unterhält und zum Denken anregt. Wenn das bei mehreren Menschen an einem Abend gelingt, ist für mich der Auftrag des Theaters erfüllt.

Die Fragen stellte Horst Busch.

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Zwischen Probebühne und Lichtpult: FSJ in der sparte4

In der Reihe »Journal einer FSJlerin« teilt Lenke Nagy regelmäßig ihre Erfahrungen und Gedanken.

Es war länger ruhig in meiner Reihe »Journal einer FSJlerin« – zwischen Endproben für »The end, my friend«, spinnendem Drucker, Zuschauen bei Kostümabgaben und meinem ersten Filmschnitt (Das Ergebnis findet ihr unter der Überschrift Straßenumfrage zu »The end, my friend« ebenfalls auf dem BLOG.) ist das Schreiben leider etwas kurz gekommen. Höchste Zeit also für Teil 7 meiner Serie, für den ich mir – zugegeben – Hilfe geholt habe. Und zwar bei jemandem, der theoretisch auch hinter den letzten Artikeln des Journals hätte stecken können. Als FSJlerin des Saarländischen Staatstheaters bin ich nämlich nicht alleine: Schon vor meiner Zusage war eine andere Person fest für die Spielzeit eingeplant: Charlotte Mohr, oder auch Charly, Freiwillige in der sparte4. Damit ihr euch auch ihren Alltag vorstellen könnt, der sich doch maßgeblich von dem meinen unterscheidet, habe ich ein Gespräch mit ihr geführt. Es geht unter anderem um Planänderungen, Senfspender und BWL – Bühne frei für Charly:

Lenke Nagy: Fangen wir doch mit einer sehr naheliegenden Frage an: Wie bist du auf die Idee gekommen, dich für das FSJ in der sparte4 zu bewerben?

Charlotte Mohr: Eigentlich wollte ich ins Ausland. Ich habe mich da für ein paar Sachen beworben, kam auch in Warteschleifen, aber irgendwann war dann klar: Das wird nichts mehr. Und dann waren wir mit unserem Kurs »Darstellendes Spiel« als Abschluss vor dem Abitur im Staatstheater und meine DS-Lehrerin meinte: »Hier gibt es eine FSJ-Stelle, da kann man sich auch bewerben.« Das hat mich neugierig gemacht, also habe ich mich beworben und bin nach einem erfolgreichen Vorstellungsgespräch in die sparte4 gekommen.

LN: Kanntest du die sparte4 vor deiner Bewerbung bereits?

CM: Nein. Ich war noch nie dort. Beim Bewerbungsgespräch wurde ich dann eingeladen mal vorbeizukommen und dann war ich bei »Ich, Akira« zum ersten Mal da und durfte mir auch den Backstage-Bereich angucken. Und dann stand ich vor der Entscheidung, ob ich Bock drauf habe, mich für ein ganzes Jahr zu verpflichten, ob ich mir das vorstellen kann. Den Ausschlag hat dann ein Probenbesuch bei der Produktion »Die Bettwurst« gegeben. Das war total cool mitzuerleben und ich habe entschieden: Ja, ich habe Lust drauf und mache das jetzt.

LN: Welche Aufgaben übernimmst du?

CM: Ich helfe der Regieassistenz sehr viel. Das ist in der sparte4 ein bisschen anders als im Großen Haus oder in der Alten Feuerwache, weil es dort keine zusätzlichen Ausstattungsassistent*innen gibt. Das heißt, die Regieassistenz muss sich neben der Probenorganisation auch um die Requisite und manchmal sogar um die Kostüme kümmern. Eigentlich macht man ein bisschen von allem. Auch mit den Lichttechniker*innen zusammenarbeiten und sowas. Ich bin meistens von 10:00 bis 14:00 Uhr bei der Probe und dann von 18:00 bis 22:00 nochmal bei der Probe oder halt bei Vorstellungen in der sparte4.

LN: Du bist dort auch bei allen Vorstellungen anwesend, oder?

CM: Ja, ich bin bei allen Vorstellungen dabei. Am Ende des FSJs ist es sogar üblich, eine Produktion alleine zu betreuen. Bei mir war das »Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat«.

LN: Ich verbringe im Rahmen meines FSJ auch viel Zeit im Büro am Schreibtisch. An welchem Arbeitsplatz trifft man dich am häufigsten an?

CM: In der sparte4 natürlich. Dann gibt es noch die Probebühne am Eschberg und bei Luca Pauer im Büro gibt es auch einen Schreibtisch für mich, da bin ich aber relativ selten. Dort arbeite ich nur manchmal an Applausordnungen, Listen mit allen benötigten Requisiten oder ähnlichem oder drucke den Stücktext für die Spieler*innen aus.

LN: Hättest du dir denn auch vorstellen können, meine Stelle zu besetzen? Also in der Dramaturgie zu arbeiten?

CM: Nein. (lacht) Ich hatte mein Bewerbungsgespräch mit Thorsten Köhler und Luca Pauer, dem Leitungsteam der sparte4. Die beiden haben mich dann gefragt, ob ich mehr Interesse an der Stelle in der sparte4 oder in der Dramaturgie hätte. Für mich war klar, dass ich die sparte4 vorziehen würde, weil mir die Schilderungen von der Arbeit dort besser gefallen haben und ich geahnt habe, dass das besser zu mir passt. Ich kann auch wirklich nicht gut schreiben, das war noch nie so mein Ding. Texte lesen zwar schon, aber ich mag es trotzdem lieber, dass ich mich bei den Proben direkt über den Text austauschen und zuhören kann, wie alle Beteiligten darüber philosophieren.

LN: Was gefällt dir, abgesehen davon, gut an der Stelle?

CM: Für mich verbindet die Arbeit sehr gut Kopfarbeit mit körperlicher Arbeit. Also dass man manchmal Sachen rumschleppen muss, aber auch auf eine besondere Art kreativ sein kann. Zum Beispiel gibt es bei einem Stück einen Senfspender und ich stand vor Fragen wie »Wie mache ich den am besten sauber?« und es gab noch die Überlegung, dass der Inhalt möglichst gut rausplatscht beim Runterdrücken. Für solche Dinge Lösungen zu finden, ist etwas, was mich sehr reizt. Aber auch, dass man ganz am Anfang von den Proben wirklich nur über den Text redet und ihn dann immer mehr mit Leben füllt. Das ist eine coole Kombi. Und man setzt sich auch ganz anders mit Themen auseinander, einfach weil da viel mehr Menschen in einem Raum mit dir sind, als wenn du nur für dich selbst am Tisch denkst.

LN: Im Gegensatz zu mir, bist du ja fast ausnahmslos bei allen Proben für eine Produktion in der sparte4 dabei. Fühlst du dich dabei als fester Bestandteil des Teams?

CM: Ja. Es ist ja dann immer wieder eine neue Produktion mit anderen Leuten, aber man merkt, wie am Ende alle richtig krass zusammenwachsen, wenn der Endspurt losgeht.

LN: Hand aufs Herz: Was hast du dir im Vorfeld anders vorgestellt?

CM: Ich weiß es nicht… Es ist oft so, dass man sich in sehr spontanen Situationen befindet und schnell entscheiden muss: »Scheiße, wie gehen wir jetzt damit um.« Wenn z.B. die Regieassistenz krank wird und ich bei den Abendvorstellungen plötzlich für sie einspringen muss. Ich dachte im Vorfeld nicht, dass mir soviel Verantwortung übergeben wird. Aber sonst habe ich mir wenig anders vorgestellt. Ich bin gedanklich relativ unvorbereitet da reingegangen.

LN: Geht mir auch so und ich sehe das auch eher positiv, denn wenn man sich bereits im Vorfeld ein detailliertes Bild ausgemalt hätte, dann würde man bestimmt auch schneller enttäuscht…

CM: Genau, dann hat man halt schon eine gewisse Erwartungshaltung.

LN: Möchtest du dich denn nach dem FSJ weiterhin mit Theater beschäftigen?

CM: Also nicht direkt, eher nein. Ich möchte Eventmanagment studieren und bin gerade dabei mich zu bewerben, in Richtung BWL und ähnlichem. Mir ist aber schon wichtig, dass da später wieder eine künstlerische Seite dazukommt, zum Beispiel durch die Organisation von Veranstaltungen im Bereich Kunst und Theater.

LN: Was würdest du deiner Nachfolge raten?

CM: Genau die Frage wurde mir diese Woche tatsächlich bei einem Fortbildungsseminar beim Deutschen Roten Kreuz schon gestellt… Davon muss ich ja, genau wie du, im Laufe meines Freiwilligen Sozialen Jahres fünf Stück besuchen, und diese Woche ist es bei mir wieder soweit. Ich weiß gar nicht mehr, was ich da geantwortet habe, ich glaube irgendeine 0815-Lebensweisheit. (lacht) Ich glaube, ich würde der Person mitgeben, dass man sich nicht so stressen soll. Ich habe jetzt gelernt, dass alles irgendwie so kommt, wie es eben kommt und man immer eine Lösung findet. Dass man einfach versucht, entspannt zu bleiben, auch wenn die Situation stressig ist, und sich darauf konzentriert, was man gerade machen kann. Außerdem sollte man sich auf seine Stärken konzentrieren und dann kann man auch gut mit Herausforderungen umgehen.

LN: Worauf freust du dich vor dem Ende der Spielzeit und dem damit einhergehenden Ende deiner Zeit in der sparte4 noch besonders?

CM: Das ist noch top secret. (lacht) Es ist noch nicht ganz klar, aber eine Auszubildende, die genauso heißt wie ich, hat mich gefragt, ob wir zusammen bei »Melodien für Millionen« singen wollen und jetzt habe ich schon zwei Lieder im Blick, bei denen wir gucken, ob wir das vielleicht zusammen durchziehen. Wir sind beide nicht super im Singen, aber ich glaube, das ist etwas, wo ich dann zurückdenken werde: »Du hast dich getraut vor so vielen Leuten so ein bisschen schief zu singen!« Außerdem wünsche ich mir, den Rest der Spielzeit noch eine gute Zeit zu haben. Darauf freue ich mich!

LN: Das hört sich nach einem sehr guten Plan an, danke dir für das Gespräch!

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Andriy May und Ulrike Janssen übers Freisein

Andriy, was ist Freiheit für dich?
Andriy May: Frei zu sein bedeutet für mich, man selbst zu sein und seinen eigenen Weg zu gehen.

Ulrike, du hast bereits mit Andriy gearbeitet. Was berührt dich am meisten in eurer Zusammenarbeit?
Ulrike Janssen: Die Arbeit mit Andriy war von Anfang an und ist natürlich immer noch vom Kriegsgeschehen in der Ukraine geprägt, das mir dadurch näher gerückt ist – mit allem, was damit zusammenhängt. Das betrifft auch die Situation der nach Deutschland geflohenen Menschen. Der Krieg hört für sie ja nicht deswegen plötzlich auf. Wie kann man sein Leben planen, leben, wenn man nicht weiß, wann und wie und ob man wieder zurückkann?
(Wobei das nicht mein einziger Berührungspunkt mit dieser Situation war; wir hatten bereits privat für ein halbes Jahr eine ukrainische Familie bei uns aufgenommen.)
Nach unserer ersten gemeinsamen Produktion hat Andriy mich zu einem Theaterfestival nach Lviv eingeladen. Mein erster Besuch in der Ukraine. Die Begegnung und Arbeit mit den Menschen dort hat mich stark beeindruckt.
In die Zusammenarbeit mit Andriy fließt immer die unmittelbar umgebende und erfahrene Wirklichkeit mit ein. Das kann manchmal auch schmerzhaft sein. Das Leben ist der Grund für die künstlerische Arbeit. Wenn das nicht gegeben ist, braucht man gar nicht weiterzumachen. Diese Position schätze ich sehr.

Warum arbeitest du in dieser Produktion mit jungen Menschen?
Andriy May: Das ist das Mindeste, was ich für die Zukunft der Jugend tun kann – ihnen die Möglichkeit zu geben, gehört zu werden. Hier liegt auch meine Verantwortung für die Zukunft und der Wunsch, jungen Menschen dabei zu helfen, sich selbst zu entdecken, von jedem Teilnehmer und jeder Teilnehmerin zu hören, was sie wirklich wollen und vielleicht zu spüren, wer man ist und in welcher Welt man lebt. Und natürlich ist dies meine Chance junge Menschen zu unterstützen.
Ulrike Janssen: Ich halte es für äußerst wichtig zu hören, was junge Menschen zu sagen haben und ihnen dafür eine Bühne zu bieten. Sie sind auch unsere Zukunft. Sie sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft, die unter starker Segmentierung leidet (finde ich). Gerade deshalb ist es toll, dass dieses Projekt auf der Bühne des Staatstheaters Saarbrücken stattfinden kann und hoffentlich ein größeres Publikum erreicht. Und das führt – hoffentlich – auch zu einer anderen Theatererfahrung.

Was sind die größten Herausforderungen bei der Arbeit?
Andriy May: Lernen zuzuhören und den Menschen nicht zu sagen, was sie tun sollen: Es war ein herausfordernder Prozess, aber ich denke, wir haben es gut hinbekommen. Wir sind unserer eigenen Freiheit ein Stück näher gekommen, indem wir die Grenzen der Freiheit erkannt haben, vor denen wir stehen.
Ulrike Janssen: Wir haben in drei Sprachen gearbeitet: Die ukrainischen Jugendlichen sprechen untereinander in ihrer Sprache und auch Andriy hat mit ihnen Ukrainisch geredet. Andriy und ich wiederum sprechen miteinander Englisch; und mit den deutschen Jugendlichen habe ich Deutsch gesprochen. Die Ukrainer waren hier deutlich in der Mehrzahl – das machte es für mich oft schwer bzw. unmöglich zu verfolgen, was genau gerade in der Gruppe passiert, was für die Arbeit aber natürlich sehr wichtig ist. Sprache, die Hürden der Sprache und auch das Erlebnis, wie unfrei es macht, wenn man die Sprache nicht versteht … genau das, was wiederum die ukrainischen Jugendlichen in ihrer ersten Zeit in Deutschland erfahren haben. Und was mit unserem Thema ja verknüpft ist. Die beiden rein deutschsprachigen Teilnehmerinnen haben hier auch oft viel Geduld aufgebracht. Wir haben uns deshalb auch sehr früh entschieden, in der Performance genauso damit umzugehen – also keine Untertitel, sondern immer wieder das Einfordern von Übersetzung auf der Bühne und die Arbeit in zwei Sprachen.

Was habt ihr von den Teilnehmenden Neues gelernt?
Andriy May: Da das Projekt langfristig angelegt war, was sich auf jeden Fall positiv auswirkte, konnten sich die Teilnehmer nach und nach öffnen und lernen, einander und uns zu vertrauen. Jeder der zehn Teilnehmer ist eine ganze Welt, in die man nicht immer hineinkommt. Wir haben viel gelacht, manchmal geweint, wir hatten stressige Momente bei der Arbeit, aber das heißt auch, dass wir eine erfüllte Zeit hatten und dabei immer versucht haben, uns Zeit zu lassen. Zu lernen sich selbst und anderen zu vertrauen, seine Gedanken zu formulieren und auszudrücken, mutig zu sein – das sind für mich wichtige Schritte in Richtung Freiheit.
Kostiantyn, Yurii, Oleksandra, Arina, Sofiia, Mariia, Liv, Anastasia, Alona, Lavinia – das sind zehn verschiedene Lebensgeschichten, die sich untereinander und Ulrike und mich bereichert haben.
Das Wichtigste, wovon ich überzeugt war und was ich gelernt habe, ist Freiheit. Jeder unserer Teilnehmer hat sie und unser Ensemble hat dem Publikum etwas zum Thema Freiheit zu sagen! Vielen Dank an das Saarländische Staatstheater für diese Möglichkeit.
Ulrike Janssen: Da gäbe es jetzt sehr viel zu erzählen … es sind zehn verschiedene Charaktere mit ihren eigenen Geschichten, Erfahrungen … von jedem Einzelnen und jeder Einzelnen kann ich da sehr viel lernen.
Wenn ich etwas Allgemeines sagen sollte: Diese Art intensiver Begegnung mit Jugendlichen ist extrem bereichernd, weil man als „Erwachsene“ vieles – gern – vergessen und verdrängt hat, das einen in dieser Lebensphase beschäftigt und auch geprägt hat. Manches nehmen sie scheinbar viel gelassener hin, was wir vielleicht schlimm finden, und umgekehrt. Speziell die ukrainischen Jugendlichen haben teilweise äußerst verstörende Dinge erlebt. Mit welcher Kraft diese Jugendlichen versuchen, sich ihre Jugend nicht wegnehmen zu lassen – auf die sie ein Recht haben -, sondern ihr Teenagerleben zu leben, mit allem, was dazugehört, das beeindruckt mich. Davon möchte ich mir gern eine Scheibe abschneiden.

Andriy May ist Regisseur, Schauspieler und Theaterfestivaldirektor. 1976 wurde er in Cherson, Ukraine, geboren. Nach dem Abitur studierte er an der Technischen Universität Finanzen. Zu dieser Zeit war er als Schauspieler und Model tätig. Im Jahr 2001 gründete er das New Drama Theatre Studio, wo er sich mit der Produktion neuer dramatischer Texte beschäftigte.
2003 nahm er ein Studium an der Ivan Karpenko-Kary National University of Theatre, Cinema and Television in Kyiw auf, wo er sich auf Theaterregie spezialisierte, und setzte nach seinem Abschluss sein Studium im Rahmen des internationalen Masterprogramms an der Moscow Art Theatre School-Studio in Moskau fort. Während seines Studiums absolvierte er ein Praktikum in London am Royal Court Theatre.
Im Jahr 2008 gründete er in Cherson das Vsevolod-Meyerhold-Zentrum und das Lyutyi-Theaterfestival und begann seine Arbeit im Bereich des dokumentarischen und ortsspezifischen Theaters. Im Jahr 2011 erhielt er einen Master-Abschluss in Theaterwissenschaften. Im selben Jahr organisiert er zusammen mit seinen Kollegen in Kiew den Schauspielwettbewerb Contemporary Play Week und das Documentary Theatre Festival.
2014 wurde er Mitglied des Internationalen Forums Teathertreffen und des Oxford University New Play Forum. Von 2013 bis 2016 war er Regisseur und Schauspieler am Nationaltheater Ivan Franko in Kyiw. Im Jahr 2018 erhielt er ein Stipendium an der Kunstakademie Schloss Solitude.
Seit 2020 ist er Direktor des Mykola-Kulisch-Theaters in Cherson und hat rund 50 Vorstellungen in verschiedenen Theatern und Ländern inszeniert.
Ende März 2022 verließ er das von russischen Truppen besetzte Cherson mit seiner Mutter und seinem 7-jährigen Sohn in Richtung Deutschland, wo er 2022 Aufführungen und Projekte am Kölner Schauspielhaus, am Hans Otto Theater Potsdam und am Theater der Keller realisierte.

Ulrike Janssen studierte Germanistik, Philosophie und Französisch in Köln und promovierte 2001. Seitdem arbeitete sie frei als Autorin und Regisseurin von Hörstücken, meist an der Schnittstelle zwischen Feature und Hörspiel, u.a. für WDR, SWR, DLF und DLF Kultur. 2014 entstand die erste Arbeit für das Theater. Ihre Arbeiten wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Kölner Theaterpreis 2017 und dem Karl-Sczuka-Preis für avancierte Radiokunst 2019.
Sie ist Teil des Kollektivs TheaterBlackBoxKöln und seit der Spielzeit 2018/19 auch Dramaturgin am Theater der Keller.

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Das Ensemble der Freiheit

Die Spielerinnen und Spieler der Produktion stellen sich vor.

Alona Lut

Alona Lut, 12 Jahre alt
geboren in Kramatorsk, Ukraine
wohnt jetzt in Saarbrücken, Deutschland

Wo fühlst du dich zuhause? Wo ist deine Heimat?
In unserem Haus oder mit Freunden fühle ich mich zuhause. Meine Heimat ist dort wo meine Familie ist.

Was hast du Neues gelernt?
Ich habe gelernt, dass Freiheit für jeden etwas anderes bedeutet und ich habe noch eine weitere Sprache gelernt.

Hattest du eine Erkenntnis?
Ich habe verstanden, dass man vorsichtig mit Wünschen sein sollte, denn ich wollte ins Ausland reisen und jetzt musste ich nach Deutschland aufgrund des Krieges.

Was ist für dich schwierig im Moment?
Für mich ist es im Moment schwierig zu lernen, aufgrund der fremden Sprache.

Bist du frei?
Ja, ich fühle mich frei, aber mehr mit Freunden als zuhause.

Anastasia Kovalchuk

Anastasia Kovalchuk, 14 Jahre alt
geboren in Luzk, Ukraine
wohnt jetzt in Saarbrücken, Deutschland

Wo fühlst du dich zuhause? Wo ist deine Heimat?
Mir geht es gut in Saarbrücken.

Was hast du Neues gelernt?
Ich habe viel über Dokumentartheater gelernt.

Was ist für dich schwierig im Moment?
Für mich ist im Moment nichts zu schwer.

Bist du frei?
Nein, ich bin nicht frei.

Was habt ihr alle gemeinsam?
Ich denke, der Wunsch, etwas zu tun und sich zu beweisen.

Arina Kryvosheieva

Arina Kryvosheieva , 14 Jahre alt
geboren in Kyiv, Ukraine
wohnt jetzt in Saarbrücken, Deutschland

Wo fühlst du dich zuhause? Wo ist deine Heimat?
Ich fühle mich in der Ukraine zuhause. Meine Heimat ist auch Ukraine.

Was hast du Neues gelernt?
Ich habe gut Deutsch gelernt und dass die Auffassung von Freiheit für jeden individuell ist. Dabei habe ich habe viele neue Leute kennengelernt.

Hattest du eine Erkenntnis?
Ich bin mir jetzt sicher, dass ich im Theaterbereich arbeiten möchte und dieses Hobby nicht aufgeben werde. Ich hoffe auch, dass es nicht nur ein Hobby bleibt, sondern zu etwas mehr wird.

Was ist für dich schwierig im Moment?
Im Alltag finde ich es schwierig, deutsche Freunde zu finden, und im Theaterprojekt ist es herausfordernd, mit allen Leuten eine gute Kommunikation zu finden.

Bist du frei?
In Deutschland fühle ich mich jetzt besser als zuvor, aber ich kann noch nicht alles sagen. Jetzt geht es mir wirklich besser, und natürlich fühle ich mich gut bei meinen Freunden und meiner Familie.

Kostiantyn Maslov

Kostiantyn Maslov, 15 Jahre alt
geboren in Charkiw, Ukraine
wohnt jetzt in Saarbrücken, Deutschland

Wo fühlst du dich zuhause? Wo ist deine Heimat?
Ich fühle mich hier zuhause. Meine Heimat ist die Ukraine und meine Heimatstadt ist Lugansk.

Was hast du Neues gelernt?
Man kann jemandem, der einem nahe steht, nicht vertrauen. Man muss sich auf die Arbeit konzentrieren und versuchen zu ignorieren.  Ich habe gelernt, dass der Schein trügen kann.

Was ist für dich momentan schwierig im Theaterprojekt?
Im Moment ist es für mich schwierig, ein freundliches Team zu bilden und die Situationen loszulassen, die mir vor nicht allzu langer Zeit passiert sind.

Bist du frei?
Ich habe Freiheit, die ich gerne mit meiner Familie und meinen Freunden teilen möchte.

Lavinia Brutty

Lavinia Brutty, 16 Jahre alt
geboren in Püttlingen, Deutschland
wohnt jetzt in Köllerbach, Deutschland

Wo fühlst du dich zuhause? Wo ist deine Heimat?
Ich fühle mich bei meiner Mutter zuhause. Meine Heimat ist in Köllerbach.

Was hast du Neues gelernt?
Ich habe gelernt, sich trotz unterschiedlicher Muttersprache mit anderen zu verständigen.

Bist du frei?
Ja, ich bin vielerlei Hinsicht frei.

Was habt ihr alle gemeinsam?
Wir haben gemeinsam, dass wir gerne Schneeballschlacht machen und wir wollen alle frei entscheiden können was wir tun wollen.

Liv Colling

Liv Colling, 18 Jahre alt
geboren in Püttlingen, Deutschland
wohnt jetzt in Karlbrunn, Deutschland

Wo fühlst du dich zuhause? Wo ist deine Heimat?
Hier, im Saarland.

Hattest du eine Erkenntnis?
Dass sich viele geöffnet haben vor allen anderen Teilnehmenden fand ich interessant und inspirierend.

Was ist für dich schwierig im Moment?
Momentan habe ich viel Stress, da ich zu vielen Interessen gleichzeitig nachgehen möchte. Das ist zwar schön, aber auch anstrengend.

Bist du frei?
Ja und nein. Ich glaube nicht, dass jemals ein Mensch komplett frei sein kann, also nein, allerdings bin ich in diesem Rahmen des Möglichen frei, daher auch ja.

Was habt ihr alle gemeinsam?
Wir sind alle unterschiedlich und sind trotzdem oder gerade deshalb eine wundervolle Gruppe geworden!

Mariia Klymenko

Mariia Klymenko, 12 Jahre alt
geboren in Kyiv, Ukraine
wohnt jetzt in Ottweiler, Deutschland

Wo fühlst du dich zuhause? Wo ist deine Heimat?
Ich fühle mich in der Ukraine zuhause. Mein Heimatland ist die Ukraine.

Was hast du Neues gelernt?
Ich habe viele neue Wörter auf Deutsch gelernt und viel neues Wissen erworben.

Was ist für dich schwierig im Moment?
Für mich ist es momentan schwierig, Deutsch zu lernen.

Bist du frei?
50/50

Oleksandra Chernetska

Oleksandra Chernetska, 14 Jahre alt
geboren in Melitopol, Ukraine
wohnt jetzt in Saarbrücken, Deutschland

Wo fühlst du dich zuhause? Wo ist deine Heimat?
Ich fühle mich in Deutschland zuhause. Meine Heimat ist aber trotzdem die Ukraine.

Was hast du Neues gelernt?
Ich habe hier viele neue Leute kennengelernt und jetzt habe ich coole Freunde. Dabei habe ich auch gelernt, wie man zum Beispiel richtig dramatische Geschichten erzählt. Allgemein ist Dokumentartheater etwas Neues für mich.

Hattest du eine Erkenntnis?
Ich hatte die Erkenntnis, dass ich jetzt zu 100% sicher bin, dass ich in der Theaterbranche arbeiten möchte.

Was ist für dich schwierig im Moment?
Im Moment gibt es in dem Theaterprojekt eigentlich nichts Schwieriges. Im Alltag auch nicht.

Bist du frei?
Ich bin frei, besonders erlebe ich Freiheit im Theater und mit meinen Freunden.

Was habt ihr alle gemeinsam?
Wir haben ein gemeinsames Ziel und teilen die Liebe zum Theater.

Sofiia Drobush

Sofiia Drobush, 12 Jahre alt
geboren in Riwne, Ukraine
wohnt jetzt in Saarbrücken, Deutschland

Wo fühlst du dich zuhause? Wo ist deine Heimat?
Ich fühle mich in der Ukraine zuhause. Meine Heimat ist die Ukraine.

Was hast du Neues gelernt?
Ich habe gelernt, dass das Leben unvorhersehbar ist.

Hattest du eine Erkenntnis?
Es ist wichtig, die Zeit zu schätzen.

Was ist für dich schwierig im Moment?
In dem Theaterprojekt gibt es nichts Schwieriges. Im Alltag nur das Lernen.

Bist du frei?
Ja, ich fühle mich frei und entspannt in Deutschland.

Was habt ihr alle gemeinsam?
Gemeinsam haben wir, dass jeder Freiheit erlangen will.

Yurii Voitovych (re.)

Yurii Voitovych, 14 Jahre alt
geboren in Kryschopil, Ukraine
wohnt jetzt in Sulzbach, Deutschland

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Märchen, Mythen, Meuterei

»Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön…« – für die Bewohner eines Städtchens am Deister wohl eher nicht: Zur Schuldentilgung des Landes Niedersachsen wurden sie samt Infrastruktur verkauft und in Containern auf ein Frachtschiff geladen. An einem noch unbekannten Ort soll die Gemeinde als Freizeitpark wiederaufgebaut und begehbar gemacht werden.

Nicht lange, und der Lagerkoller setzt ein. Mitten auf dem Ozean ist man einander hemmungslos ausgeliefert. Dem Gegenüber, und vor allem sich selbst. So manche Beziehung, so manche Geschichte hätte man lieber zurückgelassen, nun drängt sie sich auf. Jakob Noltes Text zeigt das Miteinander, das Reden über das Reden. Was gibt man von sich Preis, was verbirgt man, was projiziert man auf den anderen? Man verrät mehr über sich selbst, als einem lieb ist – wenn man genau hinhört und, in Thorsten Köhlers Inszenierung, hinsieht. Gemeinsam mit Grigory Shklyar (Video und Bildregie) schafft er eine Bildwelt konzentriert auf die nonverbale Reaktion. Nur Hände, Beine, der Körper im Bild, nicht das Gesicht, gerät jedes Zittern der Hände, jedes Ballen zur Faust, unter das Brennglas. Das Ungesagte und das Gesagte verschmelzen.

»…denn da kann man fremde Länder und noch manches andre sehn«, geht das Lied weiter. So manch einer auf dem Frachtschiff sehnt sich aber eher nach der Heimat, nach dem Bekannten. Über den Tellerrand schauen lässt einen allzu oft über das Bisherige und Gewohnte grübeln. Wie geht man mit dem Neuen, mit dem Fremden um? Was ist typisch deutsch? Sonst sind es doch »die Deutschen«, die als Touristen andere Länder und Kulturen bestaunen, die vom Erbe des Kolonialismus bis heute profitieren. Und jetzt wird man verkauft? Im Freizeitpark ausgestellt? Die Ausstattung von Justus Saretz spielt genau damit – mit kultureller Aneignung, mit Alltagsrassismus, mit Vergangenheitsbewältigung. Und mit dem »typisch Deutschen«, mit dem Bild, das man von sich selbst hat, wie man sich gerne präsentieren möchte, und mit dem Bild, das sich die anderen machen.

Bühne und Kostüme schaffen zugleich eine geheimnisvolle Welt, fast mythen- und märchenhaft. Auch Prolog und Epilog des Stücks erinnern an ein Märchen, und bei Thorsten Köhler erklingt »Scheherazade« von Nikolai Rimski-Korsakow dazu. Man erzählt sich Geschichten, vielleicht eben auch Märchen, über sich selbst und die Vergangenheit, so eingepfercht auf einem Schiff. Und dieses Schiff wird, auch ganz Märchen, auf einmal zum Geisterschiff. Die Investorin möchte lieber ein südamerikanisches Pueblo als eine niedersächsische Kleinstadt. Eine Rückführung ist zu teuer. Ohne Kapitän und Crew treibt das Schiff auf dem Ozean, und die Passagiere beginnen zu meutern. Verkauft und nicht abgeholt, orientierungs- und ziellos, frustriert, misstrauisch. Wie wird ihre Geschichte weitergehen, wer wird sich ihrer annehmen, und wo wird man stranden? Ihre Ängste manifestieren sich in einer geheimnisvollen Gestalt, die jede*r gesehen haben will, die aber keiner genau beschreiben kann. Eine mythenhafte Gestalt des Ozeans.

Erlösung naht durch eine Cola, trinkbarer Konsum. Die süßen Perlen des Softgetränks lassen einen Heimat, Herkunft und die eigene Geschichte vergessen. Der Mensch ist längst Ware geworden, nutzbar, verfügbar, sein Schicksal der Ökonomie unterworfen.  »Ein Gespenst geht um in Europa. Es heißt Gute Laune.« Gelenkt von der merkwürdigen Sehnsucht, stets glücklich zu sein, irren die Glücklichen und die Traurigen über die Meere und durch ihre Gedanken. Eine melancholische, verdichtete Suche danach, was das Leben lebenswert macht, was den einzelnen ausmacht und was – und vor allem: wer – davon übrigbleibt im Wechselspiel mit Befindlichkeiten, Wirtschaft, Politik und Macht.

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Auf ein Wort Im Gespräch mit … Theaterblog

Fragen an ULRICHSundGROSCHEN

In eurem Stück »Der lange Weg zum Wissen« geht es um Apollo 11 und die erste bemannte Mondlandung von 1969. Was interessiert euch an diesem Stoff?

Wir sind zwei dreißigjährige Frauen. Das bedeutet, dass wir mit diesem Ereignis, dass wir da ausgewählt haben, über etwas sprechen, was wir selbst nicht miterlebt haben. Wir greifen auf Erinnerungen zurück, die nicht unsere sind. Die Mondlandung ist ein historisches Ereignis und emotional sehr aufgeladen. Menschen, die wir kennen, die älter sind als wir, erzählen uns davon, wie sie die Mondlandung erlebt haben. Das hat uns interessiert und bildet schon den Kern der Frage, die uns überhaupt zum Schreiben dieses Stücks gebracht hat: Wie konstituiert sich Wissen?
Gerade die Mondlandung ist ja ein Ereignis, bei dem jeder auf der Welt hundertprozentig Mensch sein darf, auch die, denen man das sonst vielleicht abspricht, denn es heißt ja: Wir waren auf dem Mond. Der Mensch ist dazu in der Lage! Und die Freude und das Staunen darüber darf von allen Menschen auf der Welt geteilt werden. Das ist natürlich total zu hinterfragen, schließlich war die Mondlandung Teil der Dynamik des Kalten Kriegs aus Wettrüsten, Drohgebärden und vorgetäuschter Stärke. Aber uns hat interessiert, welche Rolle das kollektive Gedächtnis einnimmt, bei der Bereitstellung von Wissen.

Ihr geht das Thema sehr phantasievoll und spielerisch an. Die Astronauten sind fast kindliche Wesen, die mit ihrem eigenen Gehirn sprechen und versuchen, sich nicht von ihren Ängsten überrollen zu lassen. Gleichzeitig sind in den Text wissenschaftliche Erkenntnisse und Fakten eingeflochten.

Jaja, wir sind neugierige Frauen. Wir versuchen, uns selbst immerzu in Verbindung zu bringen mit dem Wissen, der Welt und dem Theater.

Foto@Timotheé Deliah Spiegelbach

Den Mythos der Mondlandung verbindet man vor allem mit dem Astronauten Neil Armstrong, der als erster Mensch den Mond betreten hat. Die Namen der beiden anderen Astronauten gerieten in Vergessenheit. Im Hintergrund der Mission agierten Personen, deren Namen heute kaum geläufig sind. Wird eurer Meinung nach das Narrativ, das zu Ereignissen im kollektiven Gedächtnis abgespeichert wird, gesellschaftlich gesteuert? 

Der Ausdruck „gesellschaftlich gesteuert“ ist etwas heimtückisch. Da vermutet man ja direkt eine Verschwörungstheorie oder -Praxis. Aber wir sind ja die Gesellschaft, auch. Wir sind eine Masse von kleinen Menschen mit fehlerhaften Gedächtnissen.
Und leider ist es so, dass sich das Wissen über Epochen und Ereignisse verengt, und bestimmte Ereignisse an einzelnen Personen festgemacht wird. Ein Narrativ entspringt ja aus einer Geschichte. Und beim weiter Erzählen der Geschichte gehen oft leider einige Details verloren. Stille Post sozusagen. Das ist natürlich ärgerlich, wenn man auf die sogenannte Wahrheit aus ist, aber zunächst steckt da kein böser, kleiner Mensch mit einer großen, bösen Absicht dahinter. Wir finden aber: Narrative hinterfragen ist eh eine gute Sache, wir hinterfragen im »Langen Weg zum Wissen«  aber nicht unbedingt das historische Narrativ, sondern das Narrativ im Zusammenhang von Glücklichsein und Fortschritt.
Es geht auch um das Vergessen, das ein natürlicher Prozess ist, den man natürlich trotzdem verfluchen und bedauern kann. Aber das Wissen geht ja nicht verloren, nur der Zugang zu den Informationen, der Weg zum Wissen bricht ab oder geht verschüttet. Aber früher oder später kommt irgendein Kamel und frisst das Gras herunter, das über die Sache gewachsen ist. In der Hinsicht hat das kollektive Gedächtnis auch utopisches Potenzial.

Ihr nennt euch »Kollektiv für angewandte Literatur«.  Was kann man sich darunter vorstellen?

Zwei Frauen, die ihre Gehirne aneinander reiben, daraus entstehen Texte und die streuen wir uns auf die Hände und daraus machen diese Hände dann was auf Papier Oft tragen wir das dann ins Theater, manchmal vertonen wir sie oder machen aus ihnen Film. Auf jeden Fall wenden wir es an, denn Literatur, und das wissen viele nicht, kann man wunderbar ANWENDEN.
Bald wollen wir sie auf Servietten drucken für Serviettentechnik.

Wie schreibt man gemeinsam Texte?

Man nehme zwei Frauen, die ganz viel reden. Und die in ihrem endlosen Diskurs dann an einen Punkt kommen, an dem sie absolut nicht mehr weiterkommen. Die dann nach Hause gehen müssen, in die Tasten hauen müssen, um diesen toten Punkt einzukreisen wie einen Punkt, der tot ist. Und dann findet man da Krümel in diesem toten Punkt und aus dem entsteht ein Kunststoffstab zum Hochsprungshochleistungssport.