Kategorien
Theaterblog

Wir sind alle eine Bettwurst.

Zusammen ist man weniger allein

Es war in Kiel am Kai, da begegnen Luzi und Dietmar sich. Sie zeigt ihm die Stadt, beim Tanztee wird geschwoft, man beschnuppert sich, kommt sich näher im Schrebergarten, wie eine Liebe beginnt eben! Sie beschließen: Jetzt fängt ein neues Leben an. Und zwar gemeinsam, nicht mehr allein. Dietmar zieht bei Luzi ein, wird in die Geheimnisse des Staubsaugens eingeweiht, beim Weihnachtsfest liegt die berühmte Bettwurst (eine Nackenrolle, natürlich!) unter dem Baum und verloben tut man sich auch noch! Voller Enthusiasmus tanzen und singen Luzi, Dietmar und ihr Chor durch die Freuden des kleinbürgerlichen Liebesglücks, tanzen in die Liebe hinein. Alles könnte so schön sein, wären da nicht Dietmars kleinkriminelle Komplizen, die Luzi entführen.

Mehr ist mehr

1971 ist er erschienen, Rosa von Praunheims Film »Die Bettwurst«, und avancierte schnell zum Kultfilm. Nicht zuletzt wegen seiner Hauptdarsteller*innen, beides Laien: von Praunheims Tante Luzi Kryn und Dietmar Kracht, den von Praunheim in der Berliner Stricherszene »entdeckte«. Schonungslos exaltiert und höchst amüsant reiht sich »Die Bettwurst« in von Praunheims Filmästhetik im »Camp«-Stil ein. »Camp« ist die Liebe zur Übertreibung, die richtige Mischung aus Phantastik, Leidenschaftlichkeit und Naivität. »Camp« ist Leben als Theater, ist Parodie und Selbstparodie, immer gepaart mit Eigenliebe. »Es ist gut, weil es schrecklich ist …« (1) schreibt Susan Sontag 1964 in ihren Essay Anmerkungen zu ›Camp‹. Vermeintlich lächerlich, dilettantisch und eine Zurschaustellung des Banalen, zeichnet »Die Bettwurst« ein selbstironisch-scharfes und zugleich liebevoll-verspieltes Bild einer Liebesbeziehung.
Im Herbst 2022 kam das Musical in der Bar jeder Vernunft in Berlin zur Uraufführung. Inszeniert hat Rosa von Praunheim selbst, als Hommage an seinen Film, und an seine immer etwas zu laute, immer etwas zu schrille Tante »Luzi Superstar« und ihre unbeirrbare Selbstliebe.

Hemmungslose Hingabe

Da ist Luzi, Sekretärin in der Gerichtsmedizin, lebenslustig, in bunten Kleidern und einer Wohnung mit noch bunteren Tapeten. Den zweiten Weltkrieg und große Armut hat sie erlebt, bis sie aus Polen mit ihrer Mutter nach Kiel gekommen ist. Und da ist Dietmar – homosexuell, die Jugend im Erziehungsheim verbracht –, der seine kleinkriminelle Vergangenheit und Berlin hinter sich lassen will. Das Leben ist ein Abenteuer. Beide passen nicht so richtig rein in die Gesellschaft, und ins heteronormative Bild einer kleinbürgerlichen Partnerschaft passen sie schon gar nicht. Beide sind sie irgendwie auf der Flucht und auf der Suche nach Liebe und Glück, auf der Suche nach einem Platz – und finden ihn beieinander.
Und auf einmal gibt es Aussicht auf Verbundenheit. Ich habe ein Recht auf Liebe. Das übermäßige Streben nach Harmonie vereint, das Trennende wird ignoriert. Aus Not, aber auch aus Sehnsucht, denn: Zusammen ist man weniger allein. Zweckgemeinschaft im positivsten Sinne. Wir heilen alle Wunden nur mit Liebe. Behütet und beobachtet von ihrem Chor, Schicksalsgöttinnen gleich, malen Luzi und Dietmar mit großer Freude und noch größerer Hingabe über den Rand sämtlicher Klischee-Schablonen einer Paarbeziehung – und stoßen dabei auf ihre ganz eigene Art von Verbindung.
Die Bettwurst war ein Traum. Ein Traum von Akzeptanz: Lass das Gegenüber sein, wie es ist, ob schrill, ob bunt, ob laut, ob leise – wir sind alle eine Bettwurst. Egal wie und egal wen: Lieben ist erlaubt. Am besten fängt man gleich bei sich selbst an, denn was gibt’s Schöneres, als sich selbst zu lieben. Und so treffen sich Luzi und Dietmar im Himmel wieder, feiern sich und das Leben und ihre Liebe.

Gesa Oetting

(1) Anmerkungen zu ›Camp‹ in Susan Sontag: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt, 1982.

Kategorien
Theaterblog

ZUM SPIELEN: Zauberer von OZ – Memory

Unser Familienstück »Der Zauberer von Oz«  hat euch verzaubert, doch Ihr habt noch nicht genug? Hier findet Ihr unser zauberhaftes Memory, entworfen und gestaltet von unserer FSJlerin Jule Sophie Sattler! Einfach die PDF 2x ausdrucken, auf Pappe kleben, ausschneiden und los geht`s!

Foto: Martin Kaufhold

Hier klicken und Memory-Vorlage öffnen:

>>> Das verzauberte Memory

Viel Spaß !

Kategorien
Theaterblog

Mystische Klangwelten

Benjamin Wäntig Wie bereitest du dich auf eine Uraufführung vor, deren Musik noch niemand gehört hat?

Stefan Neubert Der größte Unterschied ist, dass es keinerlei Aufführungstradition gibt, geschweige denn Aufnahmen. Dadurch kann man sich viel frischer an ein Stück annähern. Wo sind die dramatischen Höhepunkte? Wie sind die einzelnen Teile gewichtet? Das Kennerlernen und Verstehen der Struktur ist ein spannender Prozess. Für mich waren die Leitmotive ein großer Baustein dabei. Holsts Umgang damit ist einzigartig. Es gibt natürlich auch Leitmotive bei anderen Komponisten, aber bei Holst durchziehen sie fast jeden Takt, überlagern sich. Wenn man die Charaktere dieser Motive begreift, ergeben sich daraus organisch die Temporelationen. Dabei ist außerdem wichtig, dass die Musik nah an der Sprache ist. Wenn man den Gesangsstimmen mit dem natürlichen Sprechrhythmus folgt, ergeben sich Rückschlüsse für Tempo und Rubato.

Original Manuskriptseite zur Oper »Sita« | Foto: Holst Foundation/British Library, London

BW Vokal-, insbesondere Chorwerke machen ja auch einen Großteil von Holsts Œuvre aus.

SN Gerade die Chorpassagen sind hochinteressant, besonders die Stellen, die aus dem Off klingen. Dazu zählen die Stimmen der Erde als vierstimmiger Frauenchor, die mit kühnen Harmonien eine mystische Atmosphäre verströmen und nach typischem Holst klingen.

BW Noch zwei Beobachtungen zu Holsts Leitmotiven: Einerseits sind sie häufig relativ kurz, aber Holst gelingt es trotzdem, aus ihnen größere Teile und Zwischenspiele zu entwickeln, ihnen geradezu sinfonische Dimensionen zu verleihen. Andererseits entwickelt er Motive aus anderen heraus, schafft also auf diese Art musikalisch-dramaturgische Zusammenhänge im Stück.

SN Sinfonischen Charakter erhalten die Leitmotive durch ihre Harmonisierung und Instrumentierung. Das Vorspiel zum 2. Akt besteht nur aus dem dreitaktigen Motiv der Treue von Sita und Rama, das vom Hornquartett in die übrigen Blech- und Holzbläser wandert. Dazu wird es harmonisch immer komplexer: von einfachem Dur hin zu einer Folge von schwebenden Septakkorden. Im 3. Akt erscheint das Treuethema wiederum in veränderter Form, wenn Rama von Sita als Gefangener spricht. Nun steht es in Moll mit einer dissonanten Basslinie dazu und nimmt so die Bedrohung des Treueversprechens am Ende musikalisch voraus.

Holsts Leitmotive stehen also nicht einfach eins zu eins für eine Figur oder ein Gefühl, sondern sie sind in permanenter Entwicklung – ein Verfahren, dass in dieser Komplexität nur wenigen Komponisten in der Nachfolge Wagners gelungen ist.

BW Welche Vorbilder hörst du sonst in der Partitur heraus? Auch wenn Holst selbst das Werk im Nachhinein als »wagnerianisches Gebell« abgetan haben soll, finde ich, dass sich dieser Vergleich am Ende gar nicht so sehr aufdrängt.

SN Für mich auch nicht. Holst hat hier weitgehend einen eigenen Stil gefunden, auch wenn er ihn später weit über das spätromantische Idiom hinaus entwickelt hat. Manche verminderten oder halbverminderten Akkorde oder große Ausbrüche erinnern etwas an Wagner. Ein größeres Vorbild, vor allem in Bezug auf die changierende Harmonik, sehe ich aber etwa bei Richard Strauss.

BW Wobei mich die musikalische Klammer von »Sita« an »Tristan und Isolde« erinnert: Während man in letzterem – vereinfacht gesagt – fünf Stunden auf die richtige Auflösung des rätselhaften Tristanakkords wartet, liegt auch »Sita« eine übergeordnete Kadenz von Des nach C zugrunde, die als kosmologische Idee von Anfang bis Ende über dem ganzen Stück steht.

SN So wichtig Wagner für Holsts strukturelle Überlegungen sicher gewesen ist, so ist doch Holsts musikalisches Idiom ganz anders und eigen. Man findet immer wieder etwas, das ich nur unspezifisch als britischen Klang bezeichnen kann: fanfarenartige Blechbläsersätze und eine gewisse Noblesse à la Elgar oder auch Vaughan Williams, mit dem Holst ja in engem Austausch stand. Anderes erinnert mich an Debussy, etwa die vielen leisen Stellen mit feinen dynamischen Abstufungen zwischen zwei- und dreifachem Pianissimo oder auch der häufig stark aufgefächerte Streichersatz. Holst scheut aber auch nicht die große Operngeste, sodass an den melodiösen Höhepunkten Puccini durchscheint. Es ist insgesamt eine Musik zum Genießen, die immer klangvoll, melodienreich und durch ihre Instrumentierung und Harmonik sehr farbig ist.

BW Bei aller kompositorischer Reife handelt es sich ja um ein frühes Stück im Œuvre des Komponisten. Was weist für dich auf den späteren Holst voraus?

SN Immer wieder finden sich solche Stellen. Am Ende des 2. Akts bei Ravanas Beschwörung der Finsternis tauchen stark dissonante Orgelpunkte in den Posaunen auf, die schon deutlich nach »The Planets«, vor allem »Mars«, klingen. Genauso das Intermezzo im 3. Akt, das konsequent in einem schwankenden 5/4-Takt geschrieben ist und so den offenen Ausgang der Situation der Angriffssituation in Musik fasst.

Die modernste Stelle des ganzen Stücks ist wenig später im 3. Akt, wo zum rhythmischen Hämmern des Brückenbaus verschiedene Motive geschichtet werden: das Lied der Holzfäller aus dem Off, Ravanas Beschwörung, Sitas Sonnengruß – alles gleichzeitig übereinander montiert.

BW Noch eine spekulative Frage: Warum hat Holst »Sita« liegengelassen, nachdem die Oper den ersehnten Wettbewerbspreis verfehlt hatte?

SN Ich kann mir vorstellen, dass eine solche Enttäuschung jemanden dazu veranlassen kann, radikal mit etwas Vorherigem abzuschließen, um sich auf Neues zu konzentrieren. Obwohl ich »Sita« für sehr originell und keineswegs epigonenhaft halte: Holst hat sich im Folgenden auf der Suche nach seinem individuellen Stil immer mehr von den Vorbildern der Romantik gelöst und mit anderen Formen und vor allem auch kleineren Besetzungen experimentiert. Nur in wenigen Werken wie »The Planets« hat er auf große Orchesterbesetzungen zurückgegriffen. Auf diesem Weg ist »Sita« eine wichtige Etappe: Die Oper hat es aber verdient, nicht nur als bloße Zwischenstufe betrachtet zu werden, sondern als spannendes Werk mit eigenen (Klang-)Qualitäten.

Kategorien
Theaterblog

»Von Mensch zu Monster – handgemacht«

Die Monster in unseren Köpfen

Über die Jahrhunderte veränderten sich Bild und Bedeutung eines »monstrum« (lat.) stetig – bis heute bleibt das »Monster« eine Bezeichnung mit zwei Gesichtern, ist sowohl negativ als auch positiv konnotiert. Verwendet zur Umschreibung von Fehlbildungen, Hybridwesen bis zu Menschen bzw. Wesen, die gegen Natur und Gesetz handeln, wird der Begriff »Monster« je nach Religion, Vorstellung und Kultur anders interpretiert: Einige Hybridwesen wie Einhörner oder Feen gelten als ein märchenhaftes Fabelwesen, die Unschuld und Schönheit verkörpern. Menschen und Tiere mit Fehlbildungen werden in manchen Religionen und Kulturen als Auserwählte oder Reinkarnation der Götter gesehen. »Du bist ein Monster« können wir zu Menschen sagen, deren Stärke uns übernatürlich vorkommt, oder zu Menschen, die böse im Sinne unserer Wert- und Normvorstellungen sind. Bei Nacht werden Gegenstände in unserem Zimmer zu Monstern, die bei näherer Betrachtung lediglich die Schatten der Äste oder die langen Gardinen waren. Alles kann zum Monster werden, solange wir es für eines halten.

Gwynplaine (Jan Hutter) Foto: © Martin Sigmund

»L’Homme qui rit« von Victor Hugo

Der Autor Victor Hugo (1802-1885) gilt als einer der berühmtesten Autoren Frankreichs. Bekannt für »Der Glöckner von Notre-Dame« (1831), »Les Misérables« (1862) und »L’Homme qui rit« (1869) und viele weitere literarische Werke, gleichen sich die Protagonisten seiner Werke: von der Gesellschaft abgestoßene oder als »Monster« bezeichnete Figuren, die zum Nachdenken anregen.
Das im Saarländischen Staatstheater aufgeführte Stück »Der Mann, der lacht« entstand frei nach Hugos Roman »L`Homme qui rit«, in dem der Autor die sozialen Gegensätze im England des 17. Jahrhunderts kritisiert. Der von Ursus aufgenommene Gwynplaine, durch eine Operation entstellt, wird durch sein fratzenhaftes Lachen zum Spektakel der Jahrmärkte.

Die Verfilmung von 1928: Inspiration für den »Joker«

Der amerikanische Stummfilm »The Man who laughs« aus dem Jahr 1928 des deutschen Regisseurs Paul Leni ist eine Adaption von Victor Hugos historischem Roman. In der Verfilmung entstand der Look, der zu Batmans Nemesis, dem »Joker« inspirierte und seine Darstellung prägte. Der Maskenbildner Jack Pierce, bekannt für die berühmte Maske und das Maskenbild in »Frankenstein« (1931), war auch zuständig für das »ewige Lachen« von Conrad Veidt,der Gwynplaine im Stummfilm spielte. Pierce nutzte eine Vorrichtung, die sein Lachen fixierte, und gab ihm rote Lippen. Im Film in schwarz-weiß gaben diese Lippen ihm einen Look mit Wiedererkennungswert. Sein Lachen prägte sich in die Köpfe der Zuschauenden ein und war 1940 die grundlegende Idee für das Aussehen des ersten »Joker« im US-Comic »Batman #1« (1940). Der Name bezieht sich auf den Joker der bekannten Kartenspiele wie Rommé und Canasta mit dem abgebildeten Hofnarren. Über die Jahre hinweg gab es unterschiedlichste Interpretationen seines Looks, doch Veidts Lachen bleibt bis heute unvergesslich.

Das ewige Lachen auf der Bühne

»À la Gwynplaine« bezeichnet Königin Anna bei Hugo und im Stück die Operation, die die »Comprachicos« an Gwynplaine vollzogen haben und die ihn für immer zu einer Witzfigur der Gesellschaft machte. Das Stück erinnert uns daran, hinter das Aussehen der Menschen zu sehen und daran, wer die wahren »Gaukler« sind: Figuren wie Königin Anna täuschen die Menschen mit ihren Tricks, um zu bekommen, was sie wollen. Sie geben vor, etwas zu sein, das sie nicht sind, täuschen andere, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Moodboard von Kostümbilderin Jennifer Hörr für das »ewige Lachen« der Saarbrücker Inszenierung

Sabrina Neukirch stellte die Maske nach den Vorstellungen der Kostümbildnerin Jennifer Hörr her. Inspiration hierfür waren unter anderem die Grillz von Lady Gaga sowie der Protagonist Willy Wonka aus »Charlie und die Schokoladenfabrik« nach Tim Burton. Sabrina ist gelernte Damenschneiderin und bildete sich in Kursen zur Hutmacherin weiter.

Grillz – ein Schmuck, der normalerweise auf den Zähnen liegt – sind im Theater wenig praktisch: Sie würden die spielende Person am Sprechen hindern und ihre Spielweise beeinträchtigen. Anders als in Filmen, in denen mehrere Pausen gemacht werden können, muss die spielende Person im Theater ständig beweglich bleiben. Die Maske von Gwynplaine ist nicht nur deswegen außerhalb seines Mundes: Es macht sein Lächeln bewusst skurril, abschreckend und furchteinflößend. Sein fratzenhaftes Lachen wirkt, egal, was er tut, wie ein permanenter Fremdkörper und grenzt ihn auffällig von den anderen, von der Gesellschaft ab. Sein Lachen ist ständig unter Spannung – egal, was er fühlt, er bleibt der lachende Mann.

Der Prozess der Herstellung der Maske dauerte drei Stunden. Die aus Plastik und Keramik bestehenden Zähne der Maske stammen aus der Requisite – sie wurden aus einem alten Zahnarztbestand an das Theater gespendet. Die einzelnen Zähne wurden auf einem Draht aufgefädelt und danach auf ein Trägermaterial aus hitzeverformbarem Material namens Worbla gedrückt. Unterlegscheiben, Schrauben und Muttern stabilisieren die Maske an den äußeren Punkten. Immer wieder wird die Maske an den Schauspieler Jan Hutter, der Gwynplaine spielt, angepasst. Um die Maske tragbar zu machen, wurde sie auf einen Metallbügel, wie man ihn vom Zahnarzt kennt, angebracht. Das ewige Lachen für die Bühne ist fertiggestellt und bereit für die Premiere!

Der Text stammt von Jule Sattler, die im August ihr FSJ in der Dramaturgie begonnen hat, in Zusammenarbeit mit der Produktionsdramaturgin Gesa Oetting.

Kategorien
Theaterblog

Die Wirkkraft von Erzählungen

Die Autorin Paula Kläy studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin.

Mit ihrem Stück »Oberland« gewann sie den Publikumspreis beim Münchner Förderpreis für neue Dramatik. 2023 wurde sie zu den Autor*innentheatertagen am Deutschen Theater Berlin eingeladen. Dramaturgin Simone Kranz sprach mit der Autorin. 

Dein Stück »Grausame Gestalten« hat etwas Rätselhaftes. In klaustrophobischer Atmosphäre haben sich vier Figuren, die sich gegenseitig mit Vater, Mutter, Kind 1 und Kind 2 ansprechen, von der Außenwelt abgeschottet. Das Draußen ist für sie etwas Feindliches – dort leben die Barbaren, mit denen man nicht in Kontakt kommen möchte. Und dann gibt es da noch eine Figur namens Sascha, von der in der dritten Person erzählt wird. Beim Lesen bleibt offen, welche Beziehung Sascha zum Rest des Geschehens hat. Ist für dich das Uneindeutige, zu Entschlüsselnde Teil der künstlerischen Setzung?   

Ich stelle keine Rätsel, die es zu knacken gibt und auf die ich die Antwort kenne, das fände ich unehrlich und langweilig. Aber ich finde es schön, wenn Texte ein Geheimnis in sich tragen, das keine Aufdeckung fordert, sondern sinnlich erfahrbar gemacht werden möchte. Da gilt es für mich zu schauen, dass die Schwebe immer wieder konterkariert wird von etwas sehr Tatsächlichem, Unmittelbaren. So verbinden sich ja auch die zwei Ebenen in einem Moment, wenn Sascha nämlich an einem Loch vorbeiläuft, in dem in 200 Meter Tiefe die Kinder sitzen, die drei nun in Dialog treten und die Erzählung der Eltern ins Taumeln gerät.

»Grausame Gestalten« ist die zweite gemeinsame Arbeit mit dem Regisseur Luis Liun Koch und ein Auftragswerk für die sparte4. Wie kann man sich eure Zusammenarbeit am Stück vorstellen?

Luis hat mir letzten Sommer das erste Mal davon erzählt, dass er gerne eine Arbeit machen würde, die sich mit dem Barbarenbegriff auseinandersetzt. Uns beide hat von Anfang an die Begriffshistorie interessiert, weil sie so viel aussagt über Zuschreibungen und Erzählmuster. Als klar wurde, dass wir die Arbeit hier realisieren können, sind wir mit dem Bühnenbildner Karl Dietrich nach Saarbrücken gefahren, saßen in der Sparte4 und haben danach ein wenig Pingpong gespielt zwischen Bühne und Text. Das war für mich total schön und neu: Tatsächlich für den Raum zu schreiben, in dem das Stück am Ende stattfindet.

Welche Rolle spielen für dich die Theaterproben als konkrete Auseinandersetzung einer Gruppe von Menschen mit deinem Text?

Ich bin gerne am Anfang bei den Proben dabei, mag es, die Fragen zu hören, die der Text aufwirft, erste Interpretationsansätze mitzubekommen und mit auf die Suche zu gehen, nach dem Abend, den wir gemeinsam erzählen wollen.

Findest du der Text spiegelt Phänomene der konkreten politischen Situation wieder?

Für mich verhandelt der Text Resignation, Rückzug aus der Gesellschaft und die Wirkkraft von Erzählungen: Wie zugehörigkeitsstiftend Geschichten (für die Figuren) sind und was passiert, wenn die konstruierte Realität zu bröckeln beginnt.

Kategorien
Theaterblog

Der Autor und Regisseur Armin Petras über seine Arbeit an »Antigone« am Saarländischen Staatstheater

Woher kommt Armin Petras Begeisterung für die Theatertexte der Antike, warum hat der die alte Tragödie von Sophokles neu bearbeitet und übertragen, was war ihm dabei wichtig und welche Rolle spielt der Chor in seiner Inszenierung?

Antike Texte

»grundsätzlich stellt die begegnung mit antiken texten einen grossen reiz dar – natürlich ist es ein zutiefst abenteuerlicher vorgang in die gedanken und vermeintlichen realwelten von menschen von vor über 2000 jahren einzutauchen – immer klarer wird dabei aber die spezifische schönheit und klarheit dieser archaischen literatur die radikale konflikte aufgreift sie künstlerisch modelliert und zum ausbruch bringt – heiner müller sagt dramatik ist eingefrorene explosion nirgendwo wird das deutlicher als bei den griechen wo sprache das potential haben musste bis zu 20000 menschen bei einer vorführung im amphitheater zu bannen und zu begeistern / und natürlich sind unsere anhaltenden probleme mit der demokratie dem konflikt zwischen jungen und alten frauen und männern der migration und vielen anderen in diesen texten längst abgebildet und eine blaupause für heutige zeiten.«

Antigone, Kreon, Wächter und der Chor Foto © Foto: Martin Sigmund

Antigone von Sophokles

»grundsätzlich war bei der neufassung der antigone von sophokles mir wichtig die kerndebatte die suche nach einer politischen diskurs- und herrschaftsform einer nachkriegsordnung darzustellen. in einer zeit des tabula rasa wo alle bisher herrschenden getötet sind wird kreon vom volk und durch sich selbst zum neuen herrscher bestellt / kreon ist zuerst aber krieger und der umgang mit zivilen personen ist ihm neu / er will die nationale und religiöse identität seines volkes/staates durch ein grundgesetz absichern – dem dass feinde nicht bestattet werden dürfen. dieses an sich sinnvolle für die staatliche konstituierung sinnvolle gesetz aber verstösst gegen göttergesetz aus heutiger sicht gegen menschenrechte – nämlich das gebot dass jedem unabhängig seiner tätigkeiten zu lebzeiten ein begräbnis zusteht / antigone stellt sich bedingungslos hinter diese regel – damit zerstört sie die bemühungen kreons auf den aufbau eines neuen staates – im endeffekt sterben nicht nur antigone sondern auch ihr bräutigam hämon und seine mutter die königin euridyke…« 

Kreon mit Hämon in seinen Armen, im Hintergrund Ismen, Eurydike, Teiresias, Wächter und der Chor Foto: Martin Sigmund

Die Rolle des Chores

»unsere mitwirkenden aus saarbrücken und umgebung stellen den antiken chor dar / dieser chor wiederum steht für das volk von theben bzw. sind sie die überlebenden thebaner nach einem langen verlustreichen kampf gegen die nachbarstadt argos – in ihnen wiederspiegelt sich die eigenschaften von massen ihre forderungen an die herrschenden ihre immerwährende hoffnung aber auch ihr opportunismus ihre bereitschaft sich durch ideologien überzeugen zu lassen wenn diese mit naheliegenden wünschen übereinstimmen / der chor selbst unterbricht die handlung kommentiert sie aber treibt sie auch voran. er ist quasi ein weiterer hauptdarsteller der unterschiedliche momente der handlung vergrössert ausstellt oder auch verdeutlicht.«

Chor und Kreon Foto: Martin Sigmund