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Der Dramaturgieschreibtisch

Hashtag #SoWar’s.So ist’s.So wird es sein.

Es gab Austausch oder vielmehr Rückmeldung zu den einzelnen Umsetzungen. Autorinnen und Autoren, die beglückt waren, trotz Pandemie, gezeigt, gespielt, gelesen zu werden, öffentlich.
Schauspielerinnen und Schauspieler, die sich – der gesamtgesellschaftlichen Müdigkeit zum Trotz – inbrünstig in ihre szenische Phantasie katapultiert haben.
Zoom-Sitzungen unter den Partnern des Festivals, die Austausch, Lösungsansätze und Freude gebracht haben.
Nochmal Autorinnen und Autoren, die das Spiel des Selbstinterviews gespielt haben.
Leidenschaftliche Beurteilungsarbeit unserer Fachjury.
Nächte des Schnitts (herrlich übernächtigte Gespräche danach).
Nächte der Untertitelung (herrlich übernächtigte Gespräche danach).
Betrachten von Klick-Zahlen.
Sich-Fragen, wer sich die gesamte szenische Lesung angeschaut hat.
Sich-Ausmalen, es waren alle.
Sich-Ausmalen, welche Stimmung an welchem Premierenabend wohl entstanden wäre, während man sich als Schauspielensemble im Heimkino bei CO2-Messgerät die filmischen Umsetzungen von Bühnenwort und Bühnenarbeit ansieht.
Von einem Zoom-Meeting unter den beteiligten Dramatikern träumen.
Und von Verlagsangeboten für die besonderen Stücke.

– Das war sie also, die 14. Festivalausgabe; eine anregende Ausgabe mit viel digitaler und telefonischer Begegnung, aber eben doch auch Begegnung mit Kunst und rund um Kunst; der Bestmöglichen, in Anbetracht der Gesamtsituation.

Begegnung mit Berührung. Face à face. Maskenlos. Und in direktem Kontakt zum Bühnengeschehen, alle in einem Raum. Es könnten hashtags meiner Vision für die Jubiläumsausgabe sein. Auch für die kommenden Produktionen und Theaterabende. Und: sie könnten für viele weitere Momente im täglichen Januartreiben gelten.

Auf meinem Schreibtisch nun: neue Dramatik, die darauf wartet entdeckt zu werden, französische und deutsche, auch Übersetzungen – darunter eine Altmeisterin die seit 180 Jahren auf eine deutschsprachige Erstaufführung wartet –, die Fassung eines Shakespeare-Abends über die Utopie von Liebe als Ort von würdiger Vereselung,
von Liebe, die alles darf,
die nichts bewertet,
eine Utopie des Individuums, das liebend und geliebt-werdend immer genügt.
Fragmente einer Sprache der Liebe.
Nüsse.
Küsse.
Staub.
(Auf meinem Schreibtisch.)

Bettina Schuster-Gäb,
Schauspieldramaturgin

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Hinter dem Vorhang

Wiedergeboren, nicht neugeboren.

»Die Auflehnung ist keine Bedrohung des Systems, sie ist das System.«
Joseph Heath/Andrew Potter, The Rebell Sell: Why the Culture can’t be slammed

Das Zitat hat Olivier Choniére seinem Stück »Manifest der Jungen Frau« vorangestellt.
Sie versuchen es schon, die sieben »Jungen Frauen« in Chonières Text: Das System, den Kapitalismus, den Konsum zu hinterfragen. Vom sonnengeküssten Gesicht zur Maske des Widerstands.

Anfangs sind sie noch totaler Teil einer Welt der Selbstoptimierung, in der alles gelingt: Erfüllte Partnerschaft, perfektes Mutterglück, Erfolg im Beruf, in kritischer Auseinandersetzung mit sich und der Welt, und dabei noch richtig gut aussehen.

Doch was, wenn der alte weiße Mann und die Fleischbeschau nerven, die Objektivierung ankotzt? Man vor lauter Lauter nicht zum Selbstmanagement kommt, keine tollen Bücher und Zeitschriften konsumiert, sondern es gerade so schafft, auf dem Weg zur Arbeit die Schilder über dem Geschäft zu lesen? Wenn man Blumen pflanzt und Obdachlosen hilft, aber durch den vermaledeiten Frischhaltefolie-Verbrauch trotzdem Ökosysteme zerstört? Wenn man jeglichen Besitz ablehnt, aber selbst Atmung Luftverschmutzung ist? Wenn man gerne die Welt verbessern würde, aber die Kinder auf dem Rücksitz brüllen und man einfach nicht dazu kommt, alle hehren Ideale umzusetzen?

Sie radikalisieren sich. Ein Chai Latte in der Hand wird abgelöst durch Pfefferspray, das Pfefferspray durch eine Waffe. Und doch landen sie jedes Mal wieder in der Dauerschleife. Die Auflehnung ist Teil des Systems. Ehrlichkeit geht einher mit Auflösung. Wer ausschert, kathartische Momente der Wahrheit erlebt, zersetzt sich und wird wiedergeboren. Wiedergeboren, wohlgemerkt, nicht neugeboren.

1999 veröffentlichte das französische Autorenkollektiv TIQQUN seine »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens«, das Ewig-Weibliches und ewige Jugend in sich vereint, eine Ware auf zwei Beinen, die das ökonomische System in Gefühl und Geist vollkommen verinnerlicht hat.

Von der Theorie des Jungen-Mädchens inspiriert, entwirft Chonière seine »Jungen Frauen«  – sie haben »weder Alter noch Geschlecht«, sind der Jugendwahn in persona und die Verkörperung der herrschenden Ordnung.

Im aphoristischen Stil von TIQQUN lässt Chonière sie werben für ihren Lifestyle, und wer nicht mitzieht, wird unter Druck gesetzt. Widerstand ist zwecklos, sowieso keine Option, nur ein Accessoire. Jedes verbale und gedankliche Ausscheren normt sich von selbst zurück in Floskeln und perfekte Performance. Die Maske rutscht, fallen tut sie nicht. Die Alternativen zu Konsum und Kapitalismus, die die »Jungen Frau« durchspielen, festigen paradoxerweise nur deren Grundlagen.

Wie also ausbrechen aus dem System, wenn jede Form von Auflehnung systeminhärent ist? Die »Jungen Frauen« begeben sich zum Stückende in den Zuschauerraum. Auf einmal geht es um Kulturkonsum, Bespaßungserwartungen und die Frage, was Theater heute eigentlich noch soll und kann. Systemrelevanz, ick hör dir trapsen.

Vom Papier zum »Primeurs«

»Manifest der Jungen Frau« – das klingt erst mal bombastisch. Der zweite Blick fällt auf den Namen des Autors. Ein Mann, der über die »Junge Frau« schreibt? Hmmm… ich beginne zu lesen, Tempo und Sprachwitz ziehen mich sofort hinein ins Stück, es entstehen Bilder zu Körperlichkeit und Agilität der Spielerinnen und Spieler. Auch im Rahmen einer szenischen Lesung.

Ein Manifest, eine öffentliche Erklärung: Reden schwingen, sich selbst präsentieren und performen, das tun sie, die »Jungen Frauen«. Und das geht sehr gut an einem Notenpult, auf dem das Textbuch Platz findet.

Wer sprachlich aus der Reihe tanzt, sich nachdenklich, widerständig, rebellisch zeigt, nicht die der Norm entsprechende Antwort oder Haltung wählt, wird von der Gruppe in die Enge getrieben. Schwarmverhalten und Gruppendynamiken kommen mir in den Sinn, Formationen, die sich bilden gegen den Ausscherenden.

Formationen, aus denen man ausbricht und in die man sich wieder eingliedert: Positionswechsel der Spielerinnen und Spieler für eine visuelle Vereinzelung, Rückkehr in eine Aufstellung als Brücke zwischen Inhalt und Aufbau des Stücks – man kehrt immer zum Ausgangspunkt zurück.

Man kann gar nicht alles richtig machen – aber darum aufgeben? Fast wirkt es, als ob die »Jungen Frauen« degenerieren statt sich zu radikalisieren. Das dem Text vorangestellte Zitat gibt vor: Selbst eine Radikalisierung, selbst der Schritt in den Terrorismus, ist Teil des Systems. Was heißt das also? Widerstand wirklich zwecklos? Wie frei, wie mündig sind wir? Wie ernstzunehmend sind die Argumentationen auf der Suche nach Alternativen im Stück, oder sind sie nur Selbstironie und Zynismus ob der totalen Integration in das System? Und was kann Sprache, kann Kultur, und was kann Theater? Die Selbstrefenzialität, mit der das Stück endet, gibt sie eine Antwort? »Die JUNGEN FRAUEN lächeln, voller Hoffnung. Dunkel.«

Gesa Oetting,
Regieassistentin und Regisseurin

Bisher dazu erschienen:

Die Kraft der Präsenz Blogbeitrag von Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb
Besser als absagen! Blogbeitrag von Chefdramaturg Horst Busch

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Hinter dem Vorhang

DIE KRAFT DER PRÄSENZ

Vom digitalen Stattfinden der 14. Ausgabe des »Festival Primeurs« und Körper-Wünschen.

Was Theater ja ausmacht, ist die Bühne. Corona nimmt sie den Machern von Theaterkunst nicht gänzlich, aber doch die Möglichkeit, Theaterarbeit mit den bühneneigenen Mitteln zu erfahren. Die Pandemie nimmt der Theaterarbeit den Raum geteilter Erfahrung. Für das aktuell stattfindende – ja: stattfindende! – Autorentheaterfestival »Primeurs« ist die Bühne glücklicherweise nur die zweitwichtigste Etappe.

Denn hier geht es um den Text, genauer, um 6 Texte frankophoner Autoren, die von einer Fachjury in Form eines Autor*innen- & eines Übersetzer*innen-Preises, textbasiert, prämiert und in Werkstattarbeiten vorgestellt werden. In diesem Jahr findet die 14. Ausgabe des Festivals nicht öffentlich, sondern im Digitalen statt – zwei Monate lang, ab dem 19.11. wird wöchentlich frankophone, ins Deutsche übertragene Dramatik in Videoarbeiten gezeigt, begleitet von Autor*innenbotschaften.

Zu den beiden Erzählkünsten der Literatur und des Theaters gesellt sich nun also erstmalig auch der Film. Von Science Fiction über die zarte Liebesgeschichte, ein Jugendamtsdrama, eine Familienfarce bis hin zur Wut-Ode und zum antikapitalistischen Manifest in Dialogform ist alles vertreten, steht das politisierte Ich und die Gesellschaft als Gestaltungsprojekt im Zentrum des Schreibens (Näheres unter www.festivalprimeurs.eu).

Intern beschäftigt uns die Ästhetik der diesjährigen digitalen Formate aus diesem Grund noch stärker als sonst – auch im Hinblick auf die uns, unter Berücksichtigung des »digitale «, bestmögliche Präsentation der einzelnen Dramentexte. In den kommenden Wochen stellen wir Erfahrungen mit dieser ästhetischen Herausforderung sowie festivalbegleitend einige Perspektiven auf Text & Umsetzung, auf Übersetzung & Autorenschaft auf unserem Blog vor.

Raum mit (zuschauenden) Körpern teilen, Raum nicht mit (zuschauenden) Körpern teilen. Der Unterschied ist frappierend. Er ist groß und klein zugleich. Er wird von einem Kribbeln begleitet, das bedeutet »spannend, diese Distanz, dieses Filmische« und hinterlässt doch einen schlechten Bühnenkunst-Fußabdruck, ein Schuldgefühl unabgesprochen »fremd zu gehen« überkommt mich.

Es ist Tag 3 der Proben, der Tisch, die Probebühnen sind schon verlassen, das Dunkel der Alten Feuerwache umgibt mich, konzentrierter Aufbau des Bühnen-Filmsets vor mir: Stühle, Raummikros, Sprechmikros, Mikroports nummeriert von 1 – 4, dezente Beleuchtungseinrichtung, geschäftiges Wispern der technischen Mannschaften und bevor ich gedanklich endgültig in der Aufbauinstallation verschwinde, retten mich schon die hineinschneienden Ensemblekollegen mit ihrem figürlichen Entdeckungsdrang, ihrer Spielfreude, mit ihrer Vitalität, ihrer Präsenz. Da ist Wärme, Humor, Traurigkeit, Aggression, all das zwischen uns und nicht nur in mir als Zuschauer einer abgefilmten Szenerie, alleine in einem anderen Raum.

Angesichts möglicher kulturpolitischer Argumentationen einer nahen post-pandemischen Zukunft wünsche ich mir plötzlich, dass die Qualität des anwesenden Körpers, der affektiven Ergriffenheit, die durch anwesende Körper aufkommt und geteilt werden kann, dass das eben doch als etwas Anderes wahrgenommen wird. Dass Theater und abgefilmte Theaterarbeit, vermischt mit filmischen Techniken, als zwei verschiedene Paar Schuhe gehandhabt werden. Dass der Zuschauer sich an die Theater-Wirkung erinnert und weiß, dass Theatermittel in echt anders funktionieren.

Dennoch: die Freude mittels abgefilmter Bühnenarbeit – für das Netz gedachte Bühnen-Film-Arbeit – als Festival herauskommen zu können, ist groß. Mit dem spontan vollzogenen Schritt die aktuelle Festivalausgabe ins Digitale zu verlagern, wagen wir etwas Neues, wagen wir eine rettende Ausweichbewegung, angepasst an die derzeitige pandemische Situation. Es entsteht eine Chimäre aus Präsenzkunst und Videoregie. Es zeichnen sich bei den unterschiedlich aufgebauten Stücktexten schon jetzt sehr diverse Umsetzungsweisen an. Die verführen, zu Entdeckungen neuer Stimmen, neuer Erzähl- und Sichtweisen. Das genießen, wissend, dass es nicht an die Kraft geteilter Präsenz heranreicht, nicht im Theatersinne, ist die Aufgabe – intern wie auch fürs Publikum.

Bettina Schuster-Gäb,
Schauspieldramaturgin

Bisher dazu erschienen:
Besser als absagen! Blogbeitrag von Chefdramaturg Horst Busch

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Hinter dem Vorhang

BLÄTTERN IN HISTORISCHEN FOTOGRAFIEN

Das Baugrundstück im Oktober 1936.

Gefunden wurden die Fotografien durch einen Zufall: Beim Aufräumen des Dekorationslagers in Gersweiler tauchten Anfang der 2000er Jahre Fotoalben mit über 500 Aufnahmen aus den Jahren 1935-42 auf, die Bau, Planung, Einweihung und Zerstörung des Theaters dokumentieren. Damals wären die Fotos beinahe im Müllcontainer gelandet. Jetzt stellt sie das Staatstheater im Rahmen des Kultur Hackathons »Coding da Vinci-Saar-Lor-Lux 2020« zur freien Nutzung für jedermann online.

Das Eingangsportal im September 1937.

Das digitale Kulturevent »Coding da Vinci« will Kultureinrichtungen aus der gesamten Großregion sowie Digital Entwickler und Akteure aus Technikwelten zusammenbringen. Ziel ist es, den reichen Schatz an historischem und kulturellem Material, einem breiten Publikum online zugänglich zu machen. Dabei kann und soll – wenn es das Datenmaterial erlaubt – auch ein freier, spielerischen Umgang mit den Daten angestoßen werden.

Bombenschäden im 30. April 1942.

So hat sich beispielsweise eine junge Entwicklergruppe gefunden, die im Setting des Staatstheaters ein Computerspiel programmiert. Ermöglicht wurde dies durch filmische Rundgänge, die das Staatstheater im Rahmen von »Coding da Vinci« ebenfalls zur freien Nutzung online gestellt hat. Am 4. Juli werden dann die entstandenen Projekte bei »Coding da Vinci« online präsentiert und prämiert.

Wer bei diesem Abschluss Event dabei sein möchte, kann sich kostenlos unter https://codingdavinci.de zur Preisverleihung anmelden. Sämtliche Datensätze der beteiligten Kultureinrichtungen findet man unter https://codingdavinci.de/daten/. Man darf gespannt sein!

Simone Kranz,
Schauspieldramaturgin

Alle Fotos: CC-BY-SA.4.0 Saarländisches Staatstheater