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Hinter dem Vorhang

Wiedergeboren, nicht neugeboren.

Wie soll Ausbrechen aus dem System funktionieren, wenn jede Form der Auflehnung systeminhärent ist? Gesa Oetting, einrichtende Regisseurin der szenischen Lesung MANIFEST DER JUNGEN FRAU von Olivier Choinière, teilt ihre Stückgedanken mit uns. Das Stück ist eines von sechs frankophonen Stücken, die auf dem diesjährigen digital stattfindenden Festival Primeurs vorgestellt werden.

»Die Auflehnung ist keine Bedrohung des Systems, sie ist das System.«
Joseph Heath/Andrew Potter, The Rebell Sell: Why the Culture can’t be slammed

Das Zitat hat Olivier Choniére seinem Stück »Manifest der Jungen Frau« vorangestellt.
Sie versuchen es schon, die sieben »Jungen Frauen« in Chonières Text: Das System, den Kapitalismus, den Konsum zu hinterfragen. Vom sonnengeküssten Gesicht zur Maske des Widerstands.

Anfangs sind sie noch totaler Teil einer Welt der Selbstoptimierung, in der alles gelingt: Erfüllte Partnerschaft, perfektes Mutterglück, Erfolg im Beruf, in kritischer Auseinandersetzung mit sich und der Welt, und dabei noch richtig gut aussehen.

Doch was, wenn der alte weiße Mann und die Fleischbeschau nerven, die Objektivierung ankotzt? Man vor lauter Lauter nicht zum Selbstmanagement kommt, keine tollen Bücher und Zeitschriften konsumiert, sondern es gerade so schafft, auf dem Weg zur Arbeit die Schilder über dem Geschäft zu lesen? Wenn man Blumen pflanzt und Obdachlosen hilft, aber durch den vermaledeiten Frischhaltefolie-Verbrauch trotzdem Ökosysteme zerstört? Wenn man jeglichen Besitz ablehnt, aber selbst Atmung Luftverschmutzung ist? Wenn man gerne die Welt verbessern würde, aber die Kinder auf dem Rücksitz brüllen und man einfach nicht dazu kommt, alle hehren Ideale umzusetzen?

Sie radikalisieren sich. Ein Chai Latte in der Hand wird abgelöst durch Pfefferspray, das Pfefferspray durch eine Waffe. Und doch landen sie jedes Mal wieder in der Dauerschleife. Die Auflehnung ist Teil des Systems. Ehrlichkeit geht einher mit Auflösung. Wer ausschert, kathartische Momente der Wahrheit erlebt, zersetzt sich und wird wiedergeboren. Wiedergeboren, wohlgemerkt, nicht neugeboren.

1999 veröffentlichte das französische Autorenkollektiv TIQQUN seine »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens«, das Ewig-Weibliches und ewige Jugend in sich vereint, eine Ware auf zwei Beinen, die das ökonomische System in Gefühl und Geist vollkommen verinnerlicht hat.

Von der Theorie des Jungen-Mädchens inspiriert, entwirft Chonière seine »Jungen Frauen«  – sie haben »weder Alter noch Geschlecht«, sind der Jugendwahn in persona und die Verkörperung der herrschenden Ordnung.

Im aphoristischen Stil von TIQQUN lässt Chonière sie werben für ihren Lifestyle, und wer nicht mitzieht, wird unter Druck gesetzt. Widerstand ist zwecklos, sowieso keine Option, nur ein Accessoire. Jedes verbale und gedankliche Ausscheren normt sich von selbst zurück in Floskeln und perfekte Performance. Die Maske rutscht, fallen tut sie nicht. Die Alternativen zu Konsum und Kapitalismus, die die »Jungen Frau« durchspielen, festigen paradoxerweise nur deren Grundlagen.

Wie also ausbrechen aus dem System, wenn jede Form von Auflehnung systeminhärent ist? Die »Jungen Frauen« begeben sich zum Stückende in den Zuschauerraum. Auf einmal geht es um Kulturkonsum, Bespaßungserwartungen und die Frage, was Theater heute eigentlich noch soll und kann. Systemrelevanz, ick hör dir trapsen.

Vom Papier zum »Primeurs«

»Manifest der Jungen Frau« – das klingt erst mal bombastisch. Der zweite Blick fällt auf den Namen des Autors. Ein Mann, der über die »Junge Frau« schreibt? Hmmm… ich beginne zu lesen, Tempo und Sprachwitz ziehen mich sofort hinein ins Stück, es entstehen Bilder zu Körperlichkeit und Agilität der Spielerinnen und Spieler. Auch im Rahmen einer szenischen Lesung.

Ein Manifest, eine öffentliche Erklärung: Reden schwingen, sich selbst präsentieren und performen, das tun sie, die »Jungen Frauen«. Und das geht sehr gut an einem Notenpult, auf dem das Textbuch Platz findet.

Wer sprachlich aus der Reihe tanzt, sich nachdenklich, widerständig, rebellisch zeigt, nicht die der Norm entsprechende Antwort oder Haltung wählt, wird von der Gruppe in die Enge getrieben. Schwarmverhalten und Gruppendynamiken kommen mir in den Sinn, Formationen, die sich bilden gegen den Ausscherenden.

Formationen, aus denen man ausbricht und in die man sich wieder eingliedert: Positionswechsel der Spielerinnen und Spieler für eine visuelle Vereinzelung, Rückkehr in eine Aufstellung als Brücke zwischen Inhalt und Aufbau des Stücks – man kehrt immer zum Ausgangspunkt zurück.

Man kann gar nicht alles richtig machen – aber darum aufgeben? Fast wirkt es, als ob die »Jungen Frauen« degenerieren statt sich zu radikalisieren. Das dem Text vorangestellte Zitat gibt vor: Selbst eine Radikalisierung, selbst der Schritt in den Terrorismus, ist Teil des Systems. Was heißt das also? Widerstand wirklich zwecklos? Wie frei, wie mündig sind wir? Wie ernstzunehmend sind die Argumentationen auf der Suche nach Alternativen im Stück, oder sind sie nur Selbstironie und Zynismus ob der totalen Integration in das System? Und was kann Sprache, kann Kultur, und was kann Theater? Die Selbstrefenzialität, mit der das Stück endet, gibt sie eine Antwort? »Die JUNGEN FRAUEN lächeln, voller Hoffnung. Dunkel.«

Gesa Oetting,
Regieassistentin und Regisseurin

Bisher dazu erschienen:

Die Kraft der Präsenz Blogbeitrag von Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb
Besser als absagen! Blogbeitrag von Chefdramaturg Horst Busch