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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

Terror: Meinungen von Schüler*innen aus der Marienschule

Schüler*innen der Kursstufe 12 der Marienschule Saarbrücken waren am 30. November 2022 in der Vorstellung »Terror« in der Alten Feuerwache. An diesem Abend ist die Abstimmung 125 zu 29 für einen Freispruch von Lars Koch ausgefallen. Dieses eindeutige Ergebnis hat die Schüler*innen erstaunt. Hier einige Einblicke in den Gedanken und Argumentationen der Klasse

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Die Forderungen der Mütter

Art 6 (4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. 

Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland

Was brauchen Mütter für eine bedingungslose Selbstbestimmung? Diskussionen über das Recht auf Abtreibung, Kommentare von Familienmitgliedern bei Kinderlosigkeit, Kommentare von Fremden an öffentlichen Orten wegen „zu vielen“ Kindern, all dies sind kleine Blitzlichter im persönlichen Erfahrungsfeld einer Frau und ja, manchmal auch in der öffentlichen Diskussion. Trotzdem muss das Thema noch mehr Sichtbarkeit bekommen.

Luca Pauer hat saarländische Frauen im Rahmen des Bürger- und Bürgerinnenensembles „Ensemble4“ befragt und ihre Ansichten, Freuden, Sorgen und Forderungen für eine größere Sichtbarkeit von Elternschaft zusammengetragen – politische Forderungen und Forderungen an eine Gesellschaft.

  • Maßnahmen gegen den Gender-Pay-Gap und Altersarmut, um finanzielle Abhängigkeit von Frauen, insbesondere aufgrund von Mutterschaft, zu vermeiden (Rentenpunkte und Rentensicherung)
  • Mehr Job-Sicherheit und Ahndungen von familienbedingter Kündigung
  • Mann und Frau verhüten gleichermaßen und kostenlos
  • Mehr Aufklärung über alternative Möglichkeiten zu gebären, verbunden mit ausreichend Platzkapazität in Geburtshäusern, genug (Beleg)Hebammen
  • Verbesserung des Gesundheitssystems, um sanfte Geburten ohne kommerziellen Hintergrund und Zeitdruck zu fördern
  • Doulas (Anm. d. Red.: Eine Doula hat keine staatlich anerkannte Ausbildung als Geburtshelferin. Sie begleitet Schwangerschaft und Geburt, übernimmt aber nicht die Leitung) sollten, zusätzlich zu Hebammen, krankenkassenfinanziert werden
  • Kinder-/ Elternfreundliche Stadtplanung (Barrierefreiheit und Aufenthaltsorte für Familien mitdenken
  • Freier Eintritt in öffentlichen Verkehrsmitteln, Schwimmbädern, Theatern, Museen, Bibliotheken für Kinder mit Begleitung)
  • Wo ist das Dorf, dass für die Erziehung eines Kindes nötig ist?: Solidarische Grundhaltung mit Familien als gesellschaftlichen Wert aufbauen und Netzwerke fördern, die es der Mutter / den Eltern ermöglicht Zeit für Weiterbildung, für persönliche Entwicklung oder individuelle Bedürfnisse freizulegen – u.a. als Präventivmaßnahme gegen soziale Exklusion der Mutter, wenn die Kinder aus dem Haus sind
  • Offenheit gegenüber Teilhabe von Kindern im öffentlichen Leben sowie im Arbeitsalltag
  • Kreative Ansätze, um Familien- und Berufsalltag flexibler miteinander zu vereinbaren
  • Mehr Aufklärung von jungen Menschen über Elternschaft – durch Schule, Solzialämter,  subventionierte Initiativen, Aufklärung, Netzwerkstellen
  • Bundesweit kostenlose Betreuungsplätze, flexiblere Betreuungszeiten, bessere Bedingungen für Betreuungspersonal und bessere Ausbildung des Betreuungspersonals
  • Respektieren, dass Frauen nicht nach Lebensentscheidungen zu befragen sind: weder nach Familienplanung, noch nach Gründen für Kinderlosigkeit. Jeder Frage ist in der Tendenz übergriffig und stigmatisierend
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Programmheft plus: Weitere Links zu Elternschaft heute

Lokale Expertise

Genderkompetenzzentrum Saar
https://gps-rps.de/standorte/saarbruecken/genderkompetenz-zentrum
FrauenGenderBibliothek Saar
https://frauengenderbibliothek-saar.de/
Schoenaker Institut Saar – Ermutigungstraining für Eltern
https://schoenaker-institut-saar.de/
Die Kinderflüsterei – systemisches Familiencoaching
https://kinderfluesterei.de/
Die Körperschule – Cantienica-Training
https://www.koerperschule.com/

Kampagnen & Vereine

#Gleiches Recht für Eltern
https://www.brigitte.de/aktuell/gleiches-recht-fuer-eltern/
Mehr Mütter für die Kunst
http://mehrmütterfürdiekunst.net/index.php?s=news
Wunschkind – bundesweiter gemeinnütziger Verein der
Selbsthilfegruppen für ungewollt Kinderlose
https://www.wunschkind.de/
Kinderfreilos – eine Plattform für Ohne-Kind-Menschen
https://kinderfreilos.ch/

Portale zur Erforschung der eigenen (weiblichen) Lust

OMGYes
https://www.omgyes.com/de/
Akademie der Weiblichkeit
https://akademie-der-weiblichkeit.de/
3D-Modell der Klitoris von Odile Fillod zum Ausdrucken:
https://carrefour-numerique.cite-sciences.fr/fablab/wiki/doku.php?id=projets:clitoris

Literatur zu Elternschaft heute

Teresa Bücker: Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit/2022, Ullstein
Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän/2018, Campus Verlag
Frigga Haug: Die Vier-in-einem-Perspektive – Politik von Frauen für eine neue Linke/2009, Argument Verlag
Mareice Kaiser: Das Unwohlsein der modernen Mutter/2021, Rowohlt
Barbara Peveling, Nikola Richter (Hg.): Kinder kriegen – Reproduktion Reloaded/2020, Edition Nautilus
Franziska Schutzbach: Die Erschöpfung der Frauen – Wider die weibliche Verfügbarkeit/2021, Droemer Knaur
Liv Strömquist: Der Ursprung der Welt/2018, Avant-Verlag
Alisa Tretau (Hg.): Nicht nur Mütter waren schwanger – Unerhörte Perspektiven auf die vermeintlich natürlichste Sache der Welt/2018, Edition Assemblage

Neunter Familienbericht. Eltern sein in Deutschland – Ansprüche, Anforderungen und Angebote bei wachsender Vielfalt mit Stellungnahme der Bundesregierung
https://www.bmfsfj.de/resource/blob/179392/195baf88f8c3ac7134347d2e19f1cdc0/neunter-familienbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf

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DER GROSSKOMPLEX MUTTERSCHAFT UND FRAUSEIN

Von nicht auslebbaren Zuschreibungen und echten Wünschen

Zumindest die Beschäftigung mit Mutterschaft sollte eine respektvolle öffentliche sein, die ein kollektives Bewusstsein über den sensiblen Umgang mit dem Großkomplex „Frau und Reproduktion“ schafft. Dass dies nicht der Fall ist, weiß jede Frau. Reproduktion, weibliche Lust, Rollenerwartungen, ökonomische Realität, Biologie – erschlagend dröhnen die Diskurse, folgen Zuschreibungen, nicht selten einhergehend mit Ausgrenzungen und resultierender Überforderung diesen Anforderungen „Frau sein zu müssen“. Hier durchzublicken, zu schauen, was den Komplex Frausein & Mutterschaft ausmacht und welche neuen Betrachtungen möglich sind, das wär’s. Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb spricht mit der Leiterin des Jungen Staatstheaters Luca Pauer, die dazu – innerhalb des Inszenierungsprojekts OH, MAMA! von Regisseurin Rebekka David – mit dem Bürger*innenensemble, dem Ensemble4, arbeitet.

Ein Kind reift in einer einzelnen Gebärmutter heran, aber in der gesellschaftlichen Realität gibt es seit jeher eine Übereinkunft, dass dieser individuelle Fakt eigentlich kollektiv behandelt wird und damit rechtmäßiger Gegenstand politischer Verhandlungen ist. Die äußeren Erwartungen einer Gesellschaft von den inneren, persönlichen Einstellungen der Mutter oder Eltern getrennt zu betrachten, ist in dieser wechselseitigen, sich bedingenden Dynamik unmöglich.

So oder so ähnlich sagt es Gaia in Rebekka Davids Rechercheprojekt und die Figur Aphrodite folgt mit folgender Aussage: „ich wollte, wollte wirklich, aber hätte nicht mit Klarheit sagen können, wie freiwillig ich wollte.“ Um dieses Ausloten der verschiedenen Positionen „der“ Frau in Bezug auf Mutterschaft (auch Nicht-Mutterschaft, auch Weder-Noch-Kategorisierung) geht es in der Arbeit OH, MAMA!.

Die Arbeitsweise von David ist eine unterhaltsame Mischung aus dokumentarischer Recherche im Öffentlichen wie Privaten, gepaart mit einer fiktionalen Ebene ihrer Figuren – in diesem Fall mit diversen Göttinnen der Antike. Mit dabei nebst dem Schauspielensemble aus Verena Bukal, Silvio Kretschmer, Johanna Lemke und Hannah Schutsch ist das Bürger*innenensemble Ensemble4 um Leiterin Luca Pauer. Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb befragt sie zu ihrer Motivation und ihrem Angang und wie die vertretenen Saarländerinnen über das Thema reden.

Du bist quasi die Initiatorin der Projektidee: was hat dich wann schon dazu bewegt dieses Thema theatral bearbeiten zu wollen?

Diese Frage bringt mich jetzt in einen Zwiespalt. Natürlich war es wahrscheinlich meine eigene Mutterschaft, die mir das Thema der Vereinbarkeit mit Kunst förmlich auf die Nase gebunden hat. Daneben gibt es aber auch ganz viele Bewegungen in der „Szene“, die spannend für mich waren in Bezug auf meine berufliche Aufgabe, Themen aus der Gesellschaft auf die Bühne zu bringen. Die Initiative „Mehr Mütter für die Kunst“ wurde 2018 ins Leben gerufen, es folgte die Gründung der „Bühnenmütter“. Es wurden Fragen gestellt: Fragen, die auch Kunstinstitutionen in die Pflicht nehmen Menschen mit Kindern zu fördern.

Sind die Forderungen auch über die Kunstinstitutionen hinaus auf andere Bereiche der Gesellschaft übertragbar?

Absolut. Nehmen wir nur als Beispiel dieses Zitat aus dem Manifest „Mehr Mütter für die Kunst“, das mich auch heute noch beschäftigt – „Kunst-“ ließen sich hier auch durchaus ersetzen:

„WOLLEN WIR IN EINER GESELLSCHAFT LEBEN, DIE FRAUEN IN DER KUNSTPRODUKTION IHRER MUTTERSCHAFT WEGEN DISQUALIFIZIERT?

WOLLEN WIR AUF DIE KÜNSTLERISCHEN ERZEUGNISSE JENER FRAUEN, DIE SICH DURCH IHRE MUTTERSCHAFT EIN WEITERES ERFAHRUNGSFELD ZUGÄNGLICH GEMACHT HABEN, VERZICHTEN?

IST DIE KUNSTWELT HEUTE NACH WIE VOR DERART MÄNNLICH DOMINERT? AKZEPTIEREN WIR DAS?

UND: WIE KÖNNTEN DIE FORDERUNGEN DER BETRACHTER*INNEN AN DIE SELEKTIONSMECHANISMEN INNERHALB DES KUNSTBETRIEBS LAUTEN?“

(www.mehrmütterfürdiekunst.net)

                                                                                                                

Wo stehen wir deiner Meinung nach heute?

Ich habe keine Ahnung… Es gibt auf jeden Fall noch viel zu tun und der Redebedarf innerhalb der Produktion ist immens. Vielleicht machen wir mit unserer Arbeit zumindest einen Schritt in Richtung einer größeren Sichtbarkeit des Themas.

Wie wird das Ensemble4 diese Arbeit begleiten?

Normalerweise arbeitet das Ensemble4 mit mir auf der Bühne. Wenn sie nicht gerade als Bürger*innenchor im Schauspiel eingesetzt werden, erarbeiten wir eigene Stücke in der sparte4 oder Alten Feuerwache. Diesmal ist es etwas anders. Auf der Bühne stehen professionelle Spieler*innen, die mit Rebekka David zusammen ein Stück erarbeiten. Die Texte schreibt Rebekka David und extrahiert dafür feministische Literatur und Interviews mit Müttern, Nicht-Mütter und jenen, die Weder-noch sein wollen. Und hier komme ich ins Spiel. Die Perspektive auf dieses Thema in der Saarbrücker Stadtgesellschaft zu suchen und aufzuzeichnen ist meine Aufgabe. Ich suche Initiativen, die bereits engagiert sind auf diesem Gebiet. Ich suche Menschen, die möglichst unterschiedliche Standpunkte aufweisen: Mütter, die zuhause bleiben, die voll arbeiten; Eltern, die ein Kind adoptiert haben; queere Frauen, die ihre Familie gezielt planen müssen; Familien in gewollter und nicht-gewollter Kinderlosigkeit, usw.

Ich zeichne Videos mit ihnen auf und versuche während des Probenprozesses immer wieder mit ihnen ins Gespräch zu kommen über den aktuellen Stand. Das Produkt des Ensemble4 wäre auch eine Aufzeichnung aller Forderungen der Beteiligten, aller Perspektiven auf das Thema. So könnte es einen Ausblick geben auf das, was werden könnte. Hier, vor Ort. Und auch in Deutschland.

Gibt es schon eine bestimmte Richtung, eine Tendenz in den Aussagen, eine Beobachtung aus dem Ensemble4 heraus, die du teilen magst?

Dieses Thema interessiert alle auf eine sehr emotionale Art. Wenn man nicht über die eigene Mutterschaft spricht, dann kommt man ganz schnell ins Reflektieren über „die gute Mutter“ und wie die Beziehung zur eigenen Mutter war. Es geht jeden an und früher oder später hat man damit sehr persönlich zu tun. Vor allem als Frau sieht man sich mit dieser Entscheidung konfrontiert, da die Möglichkeit Kinder zu bekommen zeitlich begrenzt ist. Ich habe selten so viele wirklich intime Gespräche mit Unbekannten geführt. Man ist sofort in Verbindung und manchmal habe ich auch das Gefühl, dass endlich die Dämme brechen, dass die meisten darauf gewartet haben, endlich mal reden zu dürfen, endlich tiefe Zusammenhänge herzustellen. Das ist wunderbar. Ich bin sehr dankbar, dass ich in diesem Moment die Zuhörerin sein darf. Das ist auch etwas, das ich an Rebekka David so wahnsinnig beeindruckend finde: Sie lässt im Prozess diesen Raum der persönlichen Befindlichkeit und setzt es genial in einen theatralen Kontext um. Dass Rebekka David auch das Thema Mutterschaft in der Schublade hatte, war ein riesen Glück für mich. Jetzt gilt es, sich Forderungen zu erspielen, mit theatralen Mitteln, durch das Ensemble4; Forderungen, die Frauen in der Gesellschaft ein erweiteres Weiblichkeits-Spektrum und weniger Zuschreibung ermöglichen.

Wer sich aus dem Saarland angesprochen fühlt, sich dem Projekt anzuschließen, sei herzlich eingeladen sich zu melden – Luca Pauer, l.pauer@staatstheater.saarland.

OH, MAMA!

Manchmal sitze ich zuhause und google meine Kinder

Schauspiel von Rebekka David und Ensemble / In Zusammenarbeit mit dem Ensemble4Ab dem 21. Januar 2023 in der sparte4, www.sparte4.de

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Wer sind wir?

Als Theaterschaffende werde ich – und sicherlich auch viele meiner KollegInnen – oft gefragt, was ich eigentlich so tagsüber mache. Diese Frage möchte ich an dieser Stelle gerne ausweiten – was passiert eigentlich, bis der Vorhang am Abend einer Vorstellung hochgeht? Was geht hinter diesem Vorhang vor sich, im buchstäblichen, aber auch im übertragenen Sinne?

Ein Theater lebt von den vielen verschiedenen Ideen, Inspirationen, Meinungen, Diskussionen und Visionen. Und all diese unterschiedlichen Vorgänge, Diskurse, diese vielfältigen Ideenwelten sammeln sich auf dem Schreibtisch der Dramaturgie, werden hinterfragt, verworfen, konkretisiert, umgesetzt. Es wird gegrübelt, gegraben, gesprochen, gedacht.

Mit diesem Blog möchten wir all das sichtbar, lesbar, nahbar machen. Welche Ideen, welche Gedanken kreisen, ehe eine Inszenierung auf die Bühne kommt? Welche politischen wie sozialen Ideen und Visionen stecken hinter der Auswahl eines Bühnenwerkes? Es soll all das sichtbar werden, was sonst nicht unmittelbar sichtbar oder erkennbar ist. Der BLOG gibt Impulse zum Über-Denken, zum Nach-Denken, zum Voraus-Denken. Vielleicht auch zum Träumen, zum Schmunzeln, zum Hoffen und Sehnen. Eben all das, was wir tun. Jeden Tag. Hinter dem Vorhang.

Und wer sind die Personen hinter diesem BLOG?

Bettina Schuster-Gäb (Schauspieldramaturgie), Frederike Krüger (Musikdramaturgie), Klaus Kieser (Compagnie Manager und Ballettdramaturg), Anna Maria Jurisch (Musikdramaturgie), Johanna Knauf (Theaterpädagogik Schwerpunkt Musiktheater und Konzert), Simone Kranz (Schauspieldramaturgie), Horst Busch (Chefdramaturg und künstlerische Leitung Schauspiel), Luca Pauer (Leitung Theaterpädagogik und künstlerische Leitung sparte4), Anna Arnould-Chilloux (Theaterpädagogik Schwerpunkt Schauspiel und Ballett).

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

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Warum zur Hölle Theaterpädagogik?

Eine Annäherung an die Theatervermittlung

Warum brauchen wir Vermittlung von Theater? Wie kümmert sich die Theaterpädagogik darum?  Sollte sich das Theaterstück nicht selbst erklären? Was läuft mit Zuschauer*innen falsch, wenn sie »nichts verstehen«? Was läuft mit Theaterschaffenden falsch, wenn sie Kunst produzieren, die »keiner versteht«?

Und was ist Theaterpädagogik eigentlich?

Ganz kurz vorab: Es gibt insgesamt drei Theaterpädagoginnen am Saarländischen Staatstheater. Sie vermitteln Theater jeden Tag auf unterschiedlichste Weise. Sie geben Einblicke in den Theateralltag und die Institution. Sie leiten Theaterübungen an, um Theaterabende in ihrer Entstehung verständlich zu machen. Sie machen Stücke mit nichtprofessionellen Spieler*innen. Sie vermitteln Treffen und Erlebnisse mit den Künstler*innen des Staatstheaters, mit Musiker*innen, Schauspieler*innen, Sänger*innen, Tänzer*innen und Regisseur*innen.

Warum eigentlich?

Drei Punkte könnten hierbei eine Rolle spielen:

  1. Theaterpädagogik, weil Bildungsauftrag
  2. Theaterpädagogik, weil ohne Publikum ist alles nichts
  3. Theaterpädagogik, weil Erfahrung mehr wiegt als theoretisches Wissen

Die Bundesrepublik Deutschland versteht sich selbst als »Kulturstaat«. Dies hat zwar bis jetzt keinen ausdrücklichen Eingang in das Grundgesetz gefunden, es definieren aber mehrere Rechtsprechungen des Bundesverfassungsgerichts Deutschland explizit als »Kulturstaat«. Auch aus dem Artikel 35 des Einigungsvertrages leitet sich der kulturelle Bildungsauftrag ab. Darin wird ebenso der Begriff »Kulturstaat« verwendet.
Der Spielplan eines Theaters, die Formate oder interaktiven Workshops sind reiches Material für die Bildung der Menschheit. Der Fähigkeit des Umgangs mit sich selbst im Spiegel der Gesellschaft ist ein demokratisches Ideal, das das Theater in seinem reflektierten Angebot perfekt bedient.

Das ist auch der Grund, weshalb die öffentliche Hand (in diesem Fall zu gewissen Teilen der Bund, die einzelnen Bundesländer und Kommunen) in Deutschland Kunst und Kultur jedes Jahr mit rund acht Milliarden Euro subventioniert. Daraus resultiert eine reiche Theaterlandschaft in Deutschland, die ihresgleichen sucht und einer breiten Masse an Menschen zur Verfügung steht.

Der kulturelle Bildungsauftrag, der mit diesen Subventionen verbunden ist, kann allerdings nur dann konsequent erfüllt werden, wenn der jeweilige Kulturbetrieb möglichst viele Besucher*innen erreicht. Die Theater müssen selbst Besucher*innen bzw. Nutzer*innen finden, die ihre Leistungen und Angebote in Anspruch nehmen, weil ansonsten der kulturpolitische Auftrag abstrakt bleibt. Für Besucher*innen können dabei folgende Fragen zur Hürde werden: Wie sind die Preise für Theaterkarten und kann ich mir das überhaupt leisten? Wie sieht das Angebot des Theaters aus und wie kann ich davon erfahren? Aber vor allem auch: Kann ich Theater verstehen? Habe ich etwas davon? Und genau bei dieser Nutzenfrage kommt die Theaterpädagogik ins Spiel.

Ohne Publikum ist alles nichts: Wollen Alle an Kultur teilhaben?

Das große Ziel: Die intrinsische Motivation ein Theater zu besuchen. Aus sich selbst heraus die Motivation spüren Kunst zu konsumieren. Wer den Genuss oder den persönlichen Nutzen eines Theaterbesuchs für sich nicht erkennt, der hat keinen Grund ins Theater zu gehen.

Gute Gründe beruhen oft auf positiven Erfahrungen. Hier sollen nun einige Gründe genannt werden, die für einen Theaterbesuch sprechen. Es besteht keine Garantie auf Vollständigkeit (Die Autorin freut sich über Ergänzungen).

Da wäre zum einen der soziale Faktor. Freunde finden, Unterhaltungen führen, Sehen und Gesehen werden, ein romantischer Abend zu zweit. Das Theater als Ort der Begegnung.

Dann wäre da natürlich der künstlerische Genuss, den die Darbietung auf der Bühne mit sich bringt. Das wohlige Kribbeln, das sich einstellt, wenn man ein schönes Bild oder eine weite Landschaft sieht, eine wundervolle Melodie hört oder sich Puzzleteile in einem spannenden Buch zusammenfügen, euphorisiert und beglückt.

Den dritten Faktor könnte man als »Anregung« oder »Aufregung« bezeichnen. Ein Thema, eine Geschichte, ein Bild oder eine Darstellung, die aufwühlen, berühren oder tief ins Herz treffen. Das kann starke Rührung sein, wenn man sich an persönliche Situationen erinnert fühlt oder aber auch Wut und Ärger über das Gezeigte. In diesem Moment spürt man Widerstand und ist nicht einverstanden mit dem Gesagten, fühlt sich vielleicht sogar provoziert. Positiv wäre daran die eigene starke Meinung zu einem Thema zu erkennen und danach in Diskussion mit anderen zu kommen. Solche Diskurse und bereichern den kritischen Austausch über Werte und gesellschaftliche Themen und das Zusammenleben.

Als letzten Punkt nenne ich hier den Zauber der Präsenz aller Künstler*innen und Zuschauer*innen und das Wissen, dass man jederzeit Zeuge eines unvorhergesehenem Ereignisses werden könnte. Man könnte es auch als »Live-Erlebnis« bezeichnen. Der berühmte Kitzel dabei ist nicht nur die Einzigartigkeit des Moments, sondern auch die Möglichkeit das Geschehen auf der Bühne zu beeinflussen (durch Gelächter, Rufe oder Türenschlagen). Es ist spürbar, dass auch die Darsteller*innen vom Publikum beeinflusst werden. Daraus resultiert ein einzigartiger Moment, eine gemeinsame Zeit die man teilt.

Es braucht für Theatergenuss möglicherweise doch noch eine Voraussetzung. Man könnte annehmen, dass ein gutes Theatererlebnis aus 50% bekannten und 50% unbekannten Zeichen besteht. Damit herrscht eine perfekte Harmonie zwischen Wissen und Lernen. Ein Ungleichgewicht würde einerseits zu Langeweile, weile man alles kennt, und andererseits zu Überforderung führen, weil alles verschlüsselt bleibt. Beides ist weniger unterhaltsam und ein Folgebesuch wird unwahrscheinlicher.

Die Aufgabe der Theaterpädagogik besteht darin, das Gleichgewicht herzustellen zwischen unlesbaren und bekannten „Zeichen“ auf der Bühne. Hier kommt auch wieder der kulturelle Bildungsauftrag des Theaters ins Spiel. Theater sind nicht nur für die künstlerischen Inhalte auf der Bühne verantwortlich, sondern auch für deren Vermittlung und „Publikumsverträglichkeit“. In gewisser Form müssen also genügend Impulse und Neuheiten vorhanden sein, dass man das Publikum fordert und bildet, man muss es aber auch abholen und an vorhandene Sehgewohnheiten anknüpfen.

Kulturelle Bildung und somit die Theaterpädagogik mit ihren Mitteln ist Voraussetzung für kulturelle Teilhabe. Sie ist Allgemeinbildung, weil sie Menschen dazu befähigt, sich mit Kunst und Kultur zu sich selbst und zur Welt zu verhalten. Sie ist Persönlichkeitsbildung mit kulturellen Ausdrucksformen, mit Künsten und im Spiel.

Die Institution Theater ist Schnittstelle zwischen Kunst und Gesellschaft. Die Produktionen des Saarländischen Staatstheaters werden durch moderierten Kontakt mit den Künstlern, methodisch-didaktische Aufbereitungen in Form von Workshops der Theaterpädagogik und angeleiteten Theatergruppen zugänglich und diskutierbar gemacht.

Erfahrung wiegt mehr als theoretisches Wissen: Sollten Alle an Kultur teilhaben?

Ja! Jeder wirklich jeder sollte teilhaben können. Die Theaterpädagogik versteht sich dabei weniger als Vermittlerin von Wissen, sondern als Erfahrungsvermittlung. Das macht es möglich auf alle Bedürfnisse einzugehen. Das „Einfach-Tun“ steht vor dem intellektuellen Hinterfragen und „Zerdenken“. Wir geben praktische Einblicke in den Theateralltag, vermitteln Gespräche mit Künstler*innen, Dramaturg*innen und Bühnenhandwerker*innen. Kunst und Kultur werden auf einer Ebene zugänglich gemacht, die jede und jeden gleichermaßen fordert wie fördert.

Dabei wird sowohl Kritikfähigkeit vermittelt, als auch Demokratisierung ermöglicht. Die Theaterpädagogik bietet Vokabeln an, um über das Gesehene ins Gespräch zu kommen und persönliche Eindrücke in Worte fassen zu können.

Wir sind direkte Ansprechpartner*innen für Lehrer*innen und Multiplikator*innen und nehmen die Angst vor einem „komplizierten“ Theaterbesuch. Dazu stellen wir Material zur Verfügung, dass wir gegebenenfalls an Bedürfnisse und Wünsche anpassen und bieten Workshops an.

Diese Workshops sind dabei das wichtigste Werkzeug: In praktischen Unterrichtseinheiten findet das Kerngeschäft der Theaterpädagogik statt. Hier werden persönliche Erfahrung produziert und neue Sichtweisen durch Ungewohntes präsentiert. Ziel ist es, einen bestimmten Fokus auf einen Theaterabend zu lenken, um der Überforderung entgegen zu wirken, aber auch neue Details zu entdecken und eine größere Spannung zu erzeugen. Durch verschiedene Themen, wie Bühnenkomposition, Körperhaltung, Körperlichkeit, Figuren, klare Sprache, Chöre oder musikalische und literarische Motive wird ein Wiedererkennen generiert, Verknüpfungen zwischen künstlerischem Produkt und Alltag werden hergestellt und die Zuschauer*innen fühlen sich mit den Geschehnissen auf Bühne verbunden.

Ein Workshop grenzt sich klar zu theoretischem Unterricht und einer reinen Wissensvermittlung ab. Er beginnt immer mit einem Warm-up, dem sogenannten „Icebreaker“. Hier wird das zentrale Thema erfasst und das Vorwissen der Gruppe einbezogen. Danach werden innerhalb der Gruppe Mittel der Inszenierung oder Material spielerisch, erprobt und kennengelernt. Das können Körperhaltungen, Spielweisen oder bildliche Motive aus dem bevorstehenden Theaterabend sein. Nach diesem Kennenlernen werden die Teilnehmer*innen selbst zu Kunstschaffenden, indem sie das Erprobte selbst umsetzen und kreativ werden können. Die Ergebnisse werden am Ende des Workshops in einer Präsentation vorgestellt und es schließen sich kurze Gespräche darüber an.

Also ganz kurz: Was ist Theaterpädagogik?

Theaterpädagogik vermittelt wie Kritik geäußert werden kann, wie bestimmte Zeichen gelesen werden, begeistert für die Außergewöhnlichkeit von Kunst, vermittelt einen Blick auf Profession und wird so zur Grundlage eines genussvollen Theaterbesuchs.

Luca Pauer,
Leiterin der Theaterpädagogin und künstlerische Leiterin sparte4