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Auf ein Wort Theaterblog

Realität wird dekonstruiert und neu zusammengesetzt

Yannick Meisberger ist Mitarbeiter des Adolf-Bender-Zentrums für Demokratie und Menschenrechte in St. Wendel. Aus Anlass der Uraufführung von »Ich, Akira« sprach Simone Kranz mit ihm über die Entstehung von Verschwörungserzählungen. Am Mittwoch den 5. Oktober wird es vor der Vorstellung »Ich, Akira« um 19 Uhr einen Vortrag von Yannick Meisberger zum Thema »Fake News, Hate Speech und Verschwörungserzählungen« in der sparte4 geben. Der Eintritt zum Vortrag ist frei.

Collage des Regieteams (Lea Jansen, Lorenz Nolting, Martha Szymkowiak) zu »Ich, Akira«.

Laut einer Statistik des Bundeskriminalamtes stieg die Anzahl der politisch motivierten Straftaten im Kontext der Covid-19-Pandemie in Deutschland von 3559 in 2020 um 159% auf 9201 Fälle in 2021. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?

Die Proteste gegen Politik und die Corona-Hygieneschutz-Maßnahmen brachten in den letzten zweieinhalb Jahren bundesweit viele Menschen auf die Straße. Menschen machten ihren Ängsten und Sorgen ― auch existentieller Art ― Luft und mobilisierten sich bis zuletzt zu Tausenden in vielen deutschen Städten. Die Demonstrationen und Kundgebungsveranstaltungen waren geprägt von Teilnehmer:innen unterschiedlichster Hintergründe und Szenen.
So sammelten sich von Menschen der bürgerlichen Mitte über Esoteriker:innen, Verschwörungsideolog:innen, rechtspopulistischen und -extremen Personen und Initiativen verschiedenste Motive auf der Straße. Dabei ist der Anstieg politisch motivierter Straftaten aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen.
Zunächst brachten Menschen auf diese Veranstaltungen vermehrt Symbole und Parolen, die antisemitische und volksverhetzende Inhalte propagierten oder auch den Holocaust verharmlosten oder gar leugneten. Hier wurden von kritischen Beobachter:innen der Demos vermehrt Strafanzeige gestellt auf Grundlage des §130 StGB. Ebenso potenzierten sich diese und ähnliche Straftaten auch im Internet.
Des Weiteren häuften sich in den letzten beiden Jahren die Angriffe auf staatliche Institutionen durch Feind:innen der Demokratie. Politisch motivierte Sachbeschädigungen, Beleidigungen im Netz (aber auch offline) und Angriffe auf Polizei oder Journalist:innen sind seit 2020 bei den Corona-Protesten allgegenwärtig.

Attila Hildmann wurde zunächst als Star der veganen Kochszene berühmt, bevor er sich ab 2020 an Demonstrationen des Querdenker-Milieus und der Corona-Leugner Szene beteiligte. Dabei kam es auch zu der im Stück zitierten Äußerung »Hitler war ein Segen im Vergleich zur Kommunistin Merkel, denn sie plant mit Gates einen globalen Völkermord von sieben Milliarden Menschen.« (Quelle: YouTube, Videotitel: Attila Hildmann verteidigt Hitler, greift Bundeskanzlerin und die Grünen auf seiner Kundgebung an, hochgeladen von: Jüdisches Forum, Link: https://www.youtube.com/watch?v=_lRFjPrwVFA ).
Ist diese Verquickung von Historie und politischen Vorgängen heute, typisch für die Thesen von Verschwörungserzählungen?

Collage von Thorsten Köhler zu »Ich, Akira«

Die Thesen der Verschwörungsideolog:innen sind keine neuen und auch wenig bis überhaupt nicht modern in ihren Inhalten. Sogenannte »Verschwörungserzählungen« erzählen seit Jahrhunderten altbekannte Inhalte weiter. In der extremen Rechten hält sich seit vielen Jahrzehnten die Verschwörungserzählung des »großen Austausches«, in dem behauptet wird, dass die Europäer:innen durch arabische Menschen ausgetauscht werden sollen – ein angeblicher Plan der »Elite«. Allein dieses Beispiel zeigt, wie sehr die Rechtsextreme mit Angst und Panik »arbeitet«, um politisch Stimmung zu machen. Verschwörungserzählungen beinhalten nicht zuletzt Narrative von »die da oben« gegen »uns hier unten«. Somit wird ein dichotomes Weltbild generiert und Menschen werden in Gut und Böse aufgeteilt.
Verschwörungsglaubende vermuten sich natürlich immer in der Gruppe der Guten und Aufgeweckten und sehen hinter allem staatlichem die Verschwörung gegen das Volk. Attila Hildmann ist ein spannendes und ebenso gefährliches Beispiel, wie sich Menschen radikalisieren und somit keine Gegenrede mehr zulassen wollen und können. In Krisenzeiten berufen sich Menschen nicht selten dann auch noch auf Zeiten in denen es »dem eigenen Volk« vermeintlich besser ging. Somit ist der Bezug Hildmanns auf den Nationalsozialismus mitunter zu erklären.

Inzwischen liegt ein Haftbefehl wegen Volksverhetzung, Beleidigung, Bedrohung und öffentlicher Aufforderung zu Straftaten gegen Attila Hildmann vor, der nicht vollstreckt werden kann, weil er sich in die Türkei abgesetzt hat und als türkischer Staatsbürger nicht ausgeliefert wird. Trotzdem ist er noch im Netz, vor allem über den Messenger Dienst Telegram aktiv. Kann man dagegen nicht vorgehen?

Telegram ist ein Messenger, der sehr strenge Datenschutzrichtlinien einhält und somit keine Informationen an Strafverfolgungsbehörden regulär rausgibt. Das macht Telegram zwar nicht zu einem rechtsfreien Ort, allerdings ist es für Polizei und Staatsanwaltschaft mehr als herausfordernd Straftäter:innen ausfindig zu machen.

Am 8. September 2021 wurde in Idar-Oberstein ein 20-jähriger Tankstellenmitarbeiter von einem 49-jährigen Mann erschossen, weil er ihn aufgefordert hatte, seine Maske korrekt zu tragen. Zu seiner Tat befragt, äußerte der Angeklagte im Prozess, er habe » er habe ein Zeichen setzen« müssen. Ähnlich hat sich auch der Andres Breivik geäußert, der in Norwegen 2011, 77 Menschen aus rechtsradikalen Motiven heraus, tötete. Woher kommt dieser Wahn?

Wie zuvor schon erwähnt, fühlen sich Verschwörungsglaubende in ihrer Krise der Gruppe der Guten und Auferweckten zugehörig. Sie vermuten die Verschwörung ausgehend von Staat und »Elite«, meinen damit nicht zuletzt eine angebliche jüdische Weltverschwörung. Je nachdem wie tief sich Menschen in die Maschinerie der Verschwörungserzählungen hineinsteigern, entwickelt sich einerseits eine Art Verfolgungswahn und andererseits die Idee aktiv werden zu müssen, wenn man sich in die Ecke getrieben fühlt. Das »Zeichen setzen wolle« richtet sich dann an den Staat. Verschwörungserzählungen funktionieren mitunter so, dass sie Menschen vermeintlich leichte Erklärungsansätze für hochkomplexe (soziale) Zusammenhänge bieten, in Momenten in denen Menschen auf Sinn- und Identitätssuche sind. So wird eine Realität dekonstruiert und eigene Wahrheiten zu einer neuen Wirklichkeit zusammengebaut. Daher klingen Verschwörungserzählungen auch nicht selten so wirr und wahnhaft.

Graphik von Eric Schwarz zu »Ich, Akira«

Im Stück erzählt Akira davon, dass es nicht nur ihm als Hund unmöglich sei, mit seinem Herrchen, einem Verschwörungstheoretiker zu sprechen, sondern dass Menschen oft keine gemeinsame Sprache mehr hätten, wenn einer von ihnen Anhänger von Verschwörungstheorien sei. Ist das auch ihre Beobachtung? Kann man Anhänger:innen von Verschwörungserzählungen in Gesprächen überzeugen?

Pauschal kann man das schwer beantworten. Grundsätzlich wird es schwieriger mit Menschen im Gespräch zu bleiben, wenn sie wirre und wahnhafte Gedanken und Ideen glauben und verbreiten. Wenn das Gespräch aber erstmal abgerissen ist, wird es natürlich nicht einfacher vor allem lieb gewonnene Menschen weiterhin in seiner Nähe zu halten.
Es kommt auch darauf an, wie sehr sich Personen in diese Verschwörungserzählungen verstricken und was sie noch zulassen. Mit manchen kommt man vielleicht an den Punkt, an dem man solche Gespräche nicht weiterführen möchte und sich eine Verbindung somit verflüchtigt. Mit anderen ist die Verbindung so stark oder stark genug, um miteinander diskutieren zu können. In Diskussionen muss es immer ums überzeugen wollen und überzeugen lassen gehen. Wenn das auf der Grundlage von Fakten und Empathie geschieht, ist noch nicht alles verloren.

Mehr Infos zum Stück und den Vorstellungsterminen unter:

https://www.staatstheater.saarland/stuecke/schauspiel/detail/ich-akira

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Hinter dem Vorhang

»Spartakel« – Das sparte4 Sommerfestival

Schon 2021 hatten die sparte4 des saarländischen Staatstheaters und Studierende des Masterstudiengangs »Angewandte Kulturwissenschaften« an einer Live-Veranstaltung auf dem Uni-Campus Saarbrücken gearbeitet. Die Corona-Situation machte dem Ganzen aber einen Strich durch die Rechnung und das geplante Live-Event musste virtuell umgesetzt werden.

Im Sommer 2022 war es dann aber so weit: das ersehnte Festival auf dem Campus konnte stattfinden. Die Studentinnen des neuen Semesters haben zusammen mit der sparte4 die ursprüngliche Idee aufgegriffen und ein Kulturfestival kreiert. Unter dem Titel »Spartakel« startete am 09. Juni das sparte4 Sommerfestival.

Um die sparte4 und ihre Formate den Studierenden am Campus näher zu bringen, verwandelte sich die Campuswiese in einen Festivalplatz voller Zelte, Bierbänke und einer Bühne. Neben Food-Trucks und einer Bar füllten verschiedene Stände den Platz. So gab es einen Infostand des Studiengangs »Historisch orientierte Kulturwissenschaften (HoK)«, zu dem »Angewandte Kulturwissenschaften« gehört, sowie einen Galeriestand, der mit Bildern aus diversen Theaterstücken der sparte4 dekoriert war und zudem Platz für den Austausch mit den Schauspieler:innen bot. Außerdem konnten sich die Besucher:innen Goodiebags abholen und an einem »Selfie Spot« Erinnerungsfotos mit echten Theaterrequisiten schießen. Neben den vielen Ständen zog die Bühne die größte Aufmerksamkeit auf sich.

Dort startete um 15 Uhr das eigentliche Programm des Festivals. Nach der Begrüßungsrede wurde zunächst das Format »Mondo Tasteless« der sparte4 vorgestellt.  Hierbei vertonten sechs Schauspielerinnen und Schauspieler in einem Live-Hörspiel den Trash-Film »Plan 9 aus dem Weltraum«. Aliens, Untote, Bürger und Polizisten, alles Rollen des Hörspiels, wurden von den nur sechs Darsteller:innen gespielt, darunter auch der Leiter der sparte4 Thorsten Köhler.

Alle mussten mehrfach ihre Rolle wechseln, sodass sie bspw. in einem Moment einen Soldaten und im nächsten einen Alien spielten. Um ihre Stimmen passend zu den Rollen zu verstellen, haben die Darsteller:innen auf einige Tricks zurückgegriffen: so haben sie sich die Nase zugehalten, in einen Metallbecher oder in eine Kaffeekanne gesprochen.  Spannende Musik und Soundeffekte bildeten die Atmosphäre des Hörspiels. Neben der Action war das Hörspiel vollgepackt mit Witzen, die für einige Lacher im Publikum sorgten.

Live-Hörspiel aus der sparte4: Trash-Film »Plan 9 aus dem Weltraum«.

Um 16 Uhr folgte eine Hommage an die bunten Liederabende in der sparte4, die unter dem Format »Melodien für Millionen« bekannt sind. Dabei performen Freiwillige auf der Bühne bekannte Songs. Das Besondere daran ist, dass die Gruppen nur 20 Minuten Zeit zum Proben haben. Als Freiwillige traten auf dem »Spartakel« Darsteller:innen des Theaters auf. Sie sangen Pop- und Rocklieder und eröffneten damit den musikalischen Teil des Festivals.

Um 17 Uhr ging es dann los mit der Live-Musik, die den krönenden Abschluss des Festivals bildete. Als erstes spielte »Geo«, eine Post-Punk Band aus den Niederlanden spielte als erste. Mit ihrem besonderen Sound, der sich aus den Musikrichtungen No Wave, Weird Funk und Dancepunk zusammensetzt, ernteten sie viel Applaus vom Publikum.

Als zweite Band des Abends rockte »Trickster’s Day« die Bühne. Die fünf Hardrocker präsentierten ihre selbstgeschriebenen Songs, darunter auch der gleichnamige Song »Trickster‘s Day«, den sie dem Gründer der Band widmeten, der vor wenigen Wochen verstorben ist. Außerdem haben sie eines ihrer Lieder in einer besonderen Version mit drei Gitarren gespielt, womit sie dem Wunsch eines verstorbenen Bandmitglieds nachkamen. Auch »Trickster’s Day« konnte das Publikum begeistern und wurde nach dem letzten Lied mit viel Applaus verabschiedet.

Das Ende des »Spartakels« gestaltete die Indie-Folk-Band »Aufnkaffeemitrauf« aus Idar-Oberstein. Ihre Cover-Songs und eigenen Lieder begeisterten die Besucher:innen des Festivals besonders. Die zuvor noch genutzten Sitzbänke vor der Bühne wurden weggeschoben und es wurde lebhaft mitgesungen und getanzt. Ganz nach ihrem Motto »Krach machen, Spaß haben und Bier/Kaffee trinken« brachte die Band somit alle nochmal vor der Bühne zum Feiern zusammen. Ein mehr als gelungener Abschluss des Abends.

Nicht nur die Verantwortlichen waren alle samt sehr zufrieden mit dem »Spartakel«, sondern vor allem auch das Publikum. Während des Tages wurden mehrere Besucher:innen befragt und jegliches Feedback fiel positiv aus. So sagten Einige, die die sparte4 schon zuvor kannten, das Festival würde das Theater gut vertreten und es würde die »vibes« der sparte4 gut einfangen. Außerdem sei es eine schöne Abwechslung zum sonst eher dunklen Ambiente des Theaters und insgesamt zu Indoor-Veranstaltungen.

Die Student:innen, die das Theater noch nicht kannten, freuten sich besonders über die Goodiebags. Sie sagten zu, sich nach dem Festival näher über die sparte4 zu informieren und auch mal einen Abend im Theater zu verbringen. Außerdem waren alle sehr glücklich darüber, dass auf dem Campus mal wieder etwas stattfindet.

Auch Uni-Externe Gäste amüsierten sich auf dem »Spartakel«. So besuchte der Jugendclub Brebach in Form eines Arbeitsausflugs das Festival und sowohl die Kinder, als auch ihre Begleiter:innen empfanden die Idee eines Theaterfestivals als sehr gut. Weiterhin haben sie angegeben, nochmal zu einem solchen Theaterfest der sparte4 zu gehen.

Insgesamt war das »Spartakel« also eine mehr als gelungene Veranstaltung, die ihr Ziel, nach zwei Jahren Pandemie wieder Leben auf den Campus zu bringen, erfolgreich umgesetzt hat. 

Annika Hornef,
Studierende des Masterstudiengangs »Angewandte Kulturwissenschaften«

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Auf ein Wort Theaterblog

DAS UNVERSÖHNLICHE VERSÖHNEN

In diesem Duett (oder Duell), das mit Sprache, Schweigen und allen verfügbaren Registern der Dramatik liebäugelt, erspielt sich der Spieler seine Lebenszeit, setzt sich mit dem Tod auf schier unerschöpfliche und humorvolle Weise auseinander; sie ringen miteinander, trösten und missverstehen sich wie zwei Vertraute. Leben und Tod – hinunter gebrochen auf die Theatersituation. Und wir, das Publikum, sind mit gemeint, tanzen den Totentanz mit. Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb im Gespräch mit dem Autor Björn SC Deigner – über Kunst, das Politische und den Tod.

Bettina Schuster-Gäb: Was macht einen guten Stoff aus?

Björn SC Deigner: Das ist eine große Frage. Ich kann sie auch insofern schlecht beantworten, weil meine Stücke sehr verschieden sind. Vielleicht so: ich glaube an das Politische im Schreiben. Ich glaube an die Musikalität von Sprache, an die verführerische Abgründigkeit von Figuren auf der Bühne und das politische Moment, wenn sich Menschen zu einer Gruppe versammeln, die sich Publikum nennt. Und bei »Spieler und Tod« war es auch die Lust am Spiel. Das Vertrauen darauf, dass ein großes Thema ganz klein angepackt werden kann. Dass uns zwei Schauspieler auf der Bühne dazu verführen können, doch einem Schrecken in den Schlund zu schauen, auch wenn man herzlich gelacht hat dabei. Ich glaube mittlerweile, dass man als Kunstschaffender es auf eine gewisse Weise nicht vermag, mit der Welt in einen Gleichklang zu kommen – irgendetwas fehlt immer oder ist gerade zu viel. Das interessiert mich an der Welt: das Unversöhnliche zu versöhnen und das Versöhnte wieder zu bezweifeln.

B. S.-G.: Der Tod – ein großes Thema. Wie und warum hast du dich ihm angenähert?

B.D.: Jeder Mensch, der sich mit Kunst beschäftigt, hat es mit dem Tod zu tun. Als Sujet eines Bildes wie bei Dürer; oder als auslösender Konflikt eines Stückes bei Schiller oder Shakespeare zum Beispiel. Wenn man durch die Künste geht, bemerkt man, wie präsent der Tod als Topos immer war – auch unabhängig von kirchlicher Prägung. Insofern ist es vielleicht eher fraglich, wie wenig der Tod, auch im gesellschaftlichen Miteinander, vorkommt (auch wenn es sich durch die Pandemie gerade anders gestaltet). Das professionalisierte Abschieben des Vorganges des Sterbens in Institutionen wie Hospize oder Altersheime wurde durch die Corona-Krise aufgerissen; ich denke aber, durch die systemischen Stellschrauben, die unser Zusammenleben fixieren, wird auch das bald wieder vergessen sein. Wir leben – noch – unter dem Leitsatz von Wachstum, Erweitern und Vergrößern. Da hat Verlust, Scheitern, Tod wenig Platz. Das war die Hintergrundstrahlung für die Idee, ein Stück über den und mit dem Tod zu schreiben. Um dann leicht zu werden: ein Abend, an dem wir dem Tod ins Gesicht lachen. Dass er uns trotzdem einholt, dass wissen wir ja ohnehin…

»Spieler und Tod«: Weitere Vorstellungstermine: 22.1., 29.1., 6.2., 18.2., sparte4 © Martin Kaufhold

B. S.-G.: Ist der Spieler ein guter Mensch?

B.D.: Was ist ein guter Mensch – oder noch schlimmer: was gar ein schlechter? Ich glaube, die Literatur ist ein Ort, wo alle Menschen gebraucht werden. Wir wollen sie dann lieben oder hassen, leiden mit ihnen oder wir lehnen sie ab. Aber wir verhalten uns doch zu ihnen. Ob sie dafür gute oder schlechte Menschen sind, ist beinahe zweitrangig, es zählt eher der Graubereich dazwischen. Eine gute Figur wäre der »Spieler«, wenn sie es schaffen würde, dass wir uns von ihr abgrenzen, darum über sie lächeln, zugleich aber wieder zu ihr finden dürfen und plötzlich getroffen sind davon, wie auch diese Figur verzweifelt sein kann, kindlich, voller Angst. Dann wäre vielleicht der »Spieler« nicht unbedingt ein guter Mensch, aber immerhin eine gute Figur.

B. S.-G.: Und die Figur des Todes?

B.D.: Der Tod, so wie er in meinem Stück vorkommt, hat mich aus zwei Gründen sehr gereizt: zum einen ist er ein recht schweigsamer Spielpartner. Das ist szenisch interessant, weil in jeder Szene ein grundsätzliches Missverhältnis zwischen den beiden Figuren besteht, zumal der »Spieler« sehr viel spricht. Dieses Missverhältnis ist grundlegende Bedingung für Humor, glaube ich. Und zugleich bildet es eine Grundspannung, mit der jede Szene umgehen kann. Zum anderen ist der Tod – auch auf unserer Bühne – immer nur eine kulturelle Repräsentation. Was könnte mehr Theater sein! Der Tod ist immer schon inszeniert und hat sich – oder wurde – über die Jahrtausende immer anders in Szene gesetzt. Das war mir wichtig für die Figur des Todes, die älter als das Christentum ist: sie fragt nicht nach Schuld, sie erlöst nicht, sie kann auch nicht drohen. Sie kommt einfach und macht keinen Unterschied.

B. S.-G.: Wie weltlich ist also der Tod?

B.D.: Das Nicht-Einverstanden-Sein mit der Welt, weil ein Mensch gehen musste, den man bei sich haben wollte: das ist eine Erfahrung, die vermutlich jeder Mensch schon einmal machen musste, oder die einem unweigerlich noch bevorsteht. Ich glaube, dass darin ganz fundamental eine politische Kraft liegt. Die Verhältnisse, wie sie scheinen, nicht zu akzeptieren, ist auch ein politisches Potential. Im alltäglichen Leben geht ein Bewusstsein dafür, dass Welt auch ganz anders sein könnte, ja immer verloren. Einschnitte wie der Tod, die in ihrer Andersartigkeit keine Rücksicht nehmen (ob es uns gerade passt zum Beispiel), zeigen uns auf, dass wir konfrontiert werden mit Welt und uns darin entweder abfinden müssen oder aufbegehren dagegen. Das empfinde ich sehr politisch. Abseits davon ist vor allem das Sterben politisch und zwar ganz profan: wer kann es sich leisten, wie zu sterben? Bei den Liebsten zuhause, mit einer privaten Pflegekraft – oder im Mehrzimmerbett, verpflegt und gesäubert durch wechselnde Schichten überarbeiteter Pflegekräfte.

Der Tod selbst – zumindest wir er uns im Stück erscheint –, macht keine Unterschiede. Und darin ist er wohl seltsam unpolitisch. Und das kann man ihm neiden: Menschen brauchen schließlich Politik, um sich über Fragen einig zu werden, auf die es kaum eine Antwort gibt. Der Tod scheint von diesen Fragen unberührt.

Björn SC Deigner, geboren 1983 in Heidelberg, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Deigner ist Autor für Theater und Hörspiel, sowie Sounddesigner und Komponist an verschiedenen deutschen Stadttheatern (u. a. Thalia Theater Hamburg). Seine Texte wurden eingeladen zu den Autorentheatertagen 2018 am Deutschen Theater Berlin sowie 2019 zum Heidelberger Stückemarkt.

Das Interview führte Bettina Schuster-Gäb, Schauspieldramaturgin mit Sonderprojekt Festivalleitung und Programmdramaturgie »Festival Primeurs« & »Primeurs PLUS«

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Auf ein Wort Theaterblog

Molière in Minecraft spielen

Wilke Weermann über Theater und Computerspiele.

Du schreibst die Stücke, die du inszenierst meist selbst. Wie ist bei dir das Verhältnis von Schreiben und Inszenieren?

Also geschrieben habe ich schon immer. Das Schreiben für das Theater wurde aber erst durch das Regiestudium initiiert.

Zum Probenbeginn gab es keinen fertigen Text, sondern du hast das Stück mit Ensemble und Team gemeinsam entwickelt. Ist das deine übliche Arbeitsweise?

Es gibt auch Stücke, die am Schreibtisch entstehen, z.B. »Hypnos«, das beim Heidelberger Stückemarkt nominiert wurde. Aber im Prinzip will ich bei einer gemeinsamen Arbeit nicht alles vorgeben und kontrollieren, sondern die kreativen Kapazitäten aller nutzen. Bei der Filmvorlage geht es ja um einen Chirurgen, der seiner Tochter die Gesichter anderer Frauen transplantiert und sie total dominiert. Natürlich gibt es eine Verbindung zwischen einem Autor, der den Text für eine Schauspielerin schreibt, und diesem Vater. Das Thema hat sich in meinem Arbeitsprozess seltsam wiederholt. Das wollte ich kreativ nutzen.

Im Sommer 2021 bist du für ein Stipendium am Institut für Digitaldramatik des Mannheimer Nationaltheaters nominiert worden. Gibt es für dich Parallelen zwischen Computerspielen und Theater oder muss man für digitale Formate ganz anders schreiben?

Videospiele und Theater sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich. Beim Videospiel trifft man als Spieler Entscheidungen, die den weiteren Spielverlauf bestimmen, was im Theater eher nicht der Fall ist. Trotzdem ähneln sich beide in der Funktionsweise der Blickführung, die sich z.B. sehr vom Film unterscheidet. Im Film kann man den Blick der Zuschauer lenken, indem man Sachen, die man sehen soll, ins Bild rückt, z.B. durch Großaufnahmen. Bei Videospielen und im Theater hat man diese Möglichkeit nicht, man muss Wege finden, um die Aufmerksamkeit zu leiten. Ich denke, da können Videospiele und Theater viel voneinander lernen.
Ich war mal bei einem Vortrag über das Thema Blickführung von Leuten, die 3D-Filme produziert haben. Die hatten in einer Szene extra eine fliegende Taube eingebaut, weil man dann eher dieser Taube mit den Augen folgt und weiter vorne hinguckt. Solche Effekte sorgen dafür, dass die Leute mitbekommen, was im Spiel gerade wichtig ist. Und um Blickführung geht es auch auf dem Theater.
Wohin leitet ein bestimmtes Licht die Blicke der Zuschauer, welchen Ton setze ich ein, um die Konzentration der Zuschauer auf etwas Bestimmtes zu lenken. Was diese szenischen Vorgänge angeht, sind Videospiele und Theater sehr nah beieinander.
Es gibt Events, die werden im Spiel dadurch ausgelöst, dass man etwa an einen bestimmten Ort geht oder dass eine bestimmte Zeit verstreicht. Also als praktisches Beispiel:  Eine Figur setzt sich an einen Tisch, dadurch fängt die Kellnerin an, auf sie zu zulaufen, um sie dann zu fragen, was sie trinken möchte.
So sind im Grunde auch Theater Szenen organisiert, die ganze Theatermaschine hat solche Abläufe. Wenn die Schauspielerin Anne Rieckhof sich in »Augen ohne Gesicht« (»Daughter`s Cut«) in der Doktorszene nach vorne dreht und anatmet, dann gibt es den Lichtwechsel und den Soundwechsel und dann sagt sie den Satz und auf der emotionalen Ebene ist das dann der Triggerpunkt, an dem die Schauspielerin Emilie Haus darauf reagiert.
Viele Vorgänge im Theater lösen einander auf diese Weise aus, auch in ganz psychologischen Stücken, die sich scheinbar frei entfalten. In meinen Inszenierungen greife ich das oft auf und mache solche formalen Elemente spielerisch sichtbar.

Wenn der Scheinwerfer in deiner Inszenierung z.B. erst auf das Telefon schwenkt, bevor es zu läuten beginnt?

Ja, das ist z.B. so ein Moment, wobei der Scheinwerfer wiederum von dem emotionalen Moment ausgeht, den die Schauspielerin gerade spielt.  

Wenn du über Formate Digitaler Dramatik nachdenkst, würde dir da eher ein Projekt einfallen, das komplett im digitalen Raum stattfindet oder denkst du über Mischformen nach, bei denen immer noch Leute im Zuschauerraum zusammenkommen?

Ich fände es grundsätzlich interessant, beides zu vermischen, also z.B. Molière in Minecraft zu spielen (1). Aber noch spannender finde ich die Herausforderung, Spiel-Konzepte auf Inszenierungen zu übertragen. Da gibt es nämlich sehr interessante Ideen, Ästhetiken und Geschichten.
Also z.B. das Spiel-Moment, dass der/die Spieler*in das Spiel durch Entscheidungen selber eingreift. Und das wirklich als Entscheidungsbaum, wo solche Entscheidungen den Theaterabend total unterschiedlich sein lassen.
Oder man könnte eine Art Fernsteuerungsidee umsetzen. Ein*e Schauspieler*in hat eine Kamera, die eine Third Person-Perspektive einführt, mit der sie sich in einem Siedler artigen Raum bewegt (2). Das sind jetzt Möglichkeiten, die es in Ansätzen schon in Theaterinszenierungen gibt und nur erste Ideen. Aber man kann da sicher noch mehr übertragen und weiterentwickeln, das für eine bestimmte Ästhetik nutzen. Ich habe zumindest Lust darauf.

Das Gespräch wurde von Maxine Theobald transkribiert.  

(1) (Anm.: Minecraft ist ein Sandbox-Computerspiel, bei dem der Spieler Konstruktionen, wie Gebäude oder Schaltkreise aus zumeist würfelförmigen Elementen in einer dreidimensionalen Welt erschafft und sich darin bewegt.)

(2) (Anm.: Die Siedler ist eine Computerspielreihe, bei dem es darum geht durch geschickte Strategien eine Siedlung aufzubauen)

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Auf ein Wort

kulti4t. sparte4 im Wohnzimmer

»kulti4t. sparte4 im Wohnzimmer« ist das Motto, unter dem sich Studierende des Masterstudiengangs »Angewandte Kulturwissenschaften« mit der sparte4 des Saarländischen Staatstheaters zusammengetan haben, um gemeinsam eine Veranstaltung auf die Beine zu stellen.

Das Ziel ist klar: Theater erlebbar machen, Menschen zusammenbringen sowie Raum bieten zum Diskutieren und Kreativwerden. Die ursprüngliche Idee einer Live-Veranstaltung vor Ort lässt sich durch die aktuelle Corona-Situation nicht umsetzen. Stattdessen gibt es nun ein Online-Event mit kreativen Mitmach-Aktionen, einer Diskussionsrunde zur Bedeutung von Theater und einem Konzert der Bands Fashioned From Bone und UPFLUSS.

Bereits im Vorfeld der Veranstaltung wurde eine digitale Pinnwand gestaltet, auf der Interessierte zwei Fragen zu ihrem Theaterverhalten beantworten und ihre Meinungen an die sparte4 herantragen konnten.

Die Studierenden, die an der Umsetzung der Veranstaltung beteiligt sind, haben sich in unterschiedlichen Aufgabenteams organisiert. Wir haben einige Vertreter*innen dieser Teams über ihre Arbeit sowie ihre Ziele für die Veranstaltung befragt.

Was ist eure Aufgabe bei der Vorbereitung der Veranstaltung?

Maren Holderbaum (Organisation): Wir sind unter anderem für das Kosten- und Zeitmanagement (Software Agantty) zuständig. […] Gleichzeitig sind wir auch die »Mädchen für alles«. […]
Sina M. Schuffert (Social Media): Wir sind dafür verantwortlich, die Veranstaltung und die sparte4 auf verschiedenen sozialen Netzwerken zu bewerben. Dies geschieht hauptsächlich auf Instagram unter dem Konto @kulti4t. […]
Laura Baumann (Pinnwand): Zusammen haben wir die Pinnwand geplant […]. Ziel des Ganzen sollte sein, ein Feedback zur Beliebtheit und der bevorzugten Gestaltung von Theater zu bekommen.
Anna Klapetek (Guerilla-Marketing): Wir sind dafür zuständig, die Veranstaltung nach »draußen« zu tragen. Mit einer Sprühaktion wollen wir im öffentlichen Raum auf unsere Veranstaltung aufmerksam machen.

Auf Instagram werden kreative Mitmachaufgaben veröffentlicht, etwa das Nachstellen von Theaterstücken.

Was macht bei der Vorbereitung der Veranstaltung am meisten Spaß?

Maren Holderbaum (Organisation): Zu sehen, wie die Veranstaltung »wächst« und Form annimmt. […]
Sina M. Schuffert (Social Media): Die Suche für Inspiration mache ich morgens beim Kaffee trinken schon automatisch, weil ich viel auf Instagram unterwegs bin […].
Laura Baumann (Pinnwand): Am Anfang wussten wir nicht, auf was wir uns gerade bei der Online-Pinnwand wirklich einlassen. […]  Umso schöner war es dann, die ganzen Kommentare zu lesen […]. Wenn auch viele nicht so oft ins Theater gehen, die meisten wollen sich aber vornehmen, gerade nach Corona, diese Kultureinrichtung wieder verstärkt zu besuchen.
Anna Klapetek (Guerilla-Marketing): Bei uns ist viel Kreativität gefragt – das und der gesamte Ideenfindungsprozess ist total spannend. Das Sprühen ist vergleichsweise schnell erledigt.

Mit welchen Herausforderungen seht ihr euch konfrontiert?

Maren Holderbaum (Organisation): Die Aufmerksamkeit in der Corona-Zeit auf uns zu lenken, weil durch den Online-Betrieb der Uni viele übliche Kommunikationswege nicht nutzbar sind. […]
Sina M. Schuffert (Social-Media): Es ist schwer Follower zu gewinnen, wenn man »alleine« startet. Als Privatperson nutzt man ja Social Media, um mit seinen Freunden in Kontakt zu stehen, als Veranstaltungsaccount mussten wir hoffen, dass unsere Freunde den Account teilen und uns folgen.
Laura Baumann (Pinnwand): [… Wir hatten auch] Bedenken, dass die Beteiligung nicht so hoch sein würde.
Anna Klapetek (Guerilla-Marketing): Mit möglichst wenig Buchstaben/Wörtern das Meiste herauszuholen…

Was wollt ihr mit der Veranstaltung erreichen?

Maren Holderbaum (Organisation): Wir wollen die Kulturszene in der aktuell schwierigen Zeit fördern und die Präsenz der sparte4 im Bewusstsein Studierender erhöhen. […]
Sina M. Schuffert (Social Media): […] Wir bringen also das Theater zu [den Studierenden] und geben ihnen die Möglichkeit ihre Wünsche ans Theater mitzuteilen.
Laura Baumann (Pinnwand): Wir hoffen, durch die Auswertung der vielfältigen Antworten auf der Online-Pinnwand zu erfahren, was es »wirklich« braucht, damit die Zahl der Theaterbesuche wieder zunimmt.
Anna Klapetek (Guerilla-Marketing): Wir wollen das Theater und möglichst viele Studierende zusammenbringen, bestenfalls auch längerfristig über die Veranstaltung hinaus.

Auf der digitalen Pinnwand wurden Meinungen zum Theater gesammelt.

Was ist das Besondere an der Veranstaltung?

Maren Holderbaum (Organisation): Die neue Form, die es bisher an der Uni seltener gegeben hat. Sie wird von Studierenden für Studierende konzipiert und damit besonders auf junges Publikum zugschnitten. […]
Sina M. Schuffert (Social Media): Die »Macht« des Publikums. Teilnehmer der Veranstaltung können im Voraus aktiv am Programm der Veranstaltung mitwirken und vielleicht auch ihre Wünsche auf der Bühne der sparte4 umgesetzt sehen.
Anna Klapetek (Guerilla-Marketing): Das Besondere daran ist, dass wir als Planende gleichzeitig auch die Zielgruppe sind. Das bringt einen dazu, auch selbst über sich und sein Verhalten nachzudenken.

kulti4t auf einen Blick.

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Hinter dem Vorhang Theaterblog

»Das Fenster« – eine Uraufführung in der sparte4

»Das Fenster« – eine Uraufführung in der sparte4

oder

Der mühsame Weg eine grenzüberschreitende Theaterproduktion in Zeiten von Corona zu einem Abschluss zu bringen.

Am Anfang stand die Idee einer grenzüberschreitenden Produktion zwischen den Theatern Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und dem Saarländischen Staatstheater. Und da Theatermacher auch immer auf der Suche nach Talenten sind, wollten wir der jungen luxemburgischen Autorin Mandy Thiery, in dem man ihr einen Schreibauftrag gab, die Möglichkeit eröffnen, den Theateralltag besser kennen zu lernen.

Im einem gemeinsamen Probenprozess sollte ein neues Stück mit dem Arbeitstitel »Das Fenster« und den Themen Grenzerfahrungen bzw. Ängste und Nöte der jungen Generation entstehen. Im Herbst 2020 dachten wir, könnte das Projekt in Workshops und Lesungen an beiden Theatern schon mal vorgestellt werden und die Proben dann am 2. Dezember 2020 in Saarbrücken beginnen.

Nach einer Reihe von Voraufführungen in der sparte4 sollte die Uraufführung am Freitag, den 26. Februar 2021 in Luxemburg sein. So wurde es im Spielzeitheft in Luxemburg angekündigt und auf einem Besetzungszettel in Saarbrücken verkündet. So weit der Plan.

Die Spielstätte Théâtre des Capucins in Luxemburg.

Doch dann kam alles anders. Zweiter Lockdown! Die Theater wurden im November erneut geschlossen und der Grenzverkehr zum Problem. Was tun? Wir durften zwar noch probieren, doch in der geplanten Produktion sollten je zwei Schauspieler*innen aus Luxemburg (Jil Devresse und Timo Wagner) und Saarbrücken (Christiane Motter und Thorsten Rodenberg) spielen.

Außerdem war die Autorin Mandy Thiery geladen, das Stück mit dem Team um Regisseur Thorsten Köhler auf den Proben zu entwickeln? Wie sollte das funktionieren, wenn die Kollegen*innen aus Luxemburg nach den neusten Corona-Schutzverordnungen sich nicht länger als 48 Stunden in Deutschland aufhalten durften?

Konzeptionsprobe mit den Schauspielerinnen Christiane Motter, Jil Devresse, dem Schauspieler Timo Wagner, der Regieassistentin Gesa Oetting, dem Schauspieler Thorsten Rodenberg und dem Videokünstler Grigory Shklyar.

 Und überhaupt, welche Verordnung galt gerade in welchem Teil Europas? Sollte man die Koproduktion nicht absagen oder auf einen späteren Zeitpunkt verschieben? Aber was dann?

Allein die Disposition eines großen Theaters ist äußert kompliziert, wie soll da eine kurzfristige Verschiebung mit zwei so unterschiedlichen Häusern wie den Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und dem Saarländischen Staatstheater funktionieren? Und was sollte aus den abgeschlossenen Verträgen werden?

Denn neben den Schauspieler*innen gehören der Bühnen- und Kostümbildner Justus Saretz, der Videokünstler Grigory Shklyar und der Musiker Achim Schneider, die alle auch in anderen Verträgen gebunden sind, zum künstlerischen Team.

So hielt man an der Produktion fest und die Proben begannen mit täglich zwischen Luxemburg und Saarbrücken pendelnden Künstlern, die fast länger im Bus oder Auto sitzen mussten, als auf der Probe sein zu können. Doch langsam aber stetig entwickelte sich das Stück von Szene zu Szene und der Regisseur Thorsten Köhler wurde mehr und mehr zum Ko-Autor neben der jungen Autorin Mandy Thiery.

Konzeptionsprobe auf der Probebühne in Saarbrücken mit dem Ausstatter Justus Saretz, der Autorin Mandy Thiery, dem Regisseur Thorsten Köhler und dem Musiker Achim Schneider.

Doch weil sich die Corona-Zahlen nicht wirklich besserten und man nicht absehen konnte und leider auch immer noch nicht kann, wann das Saarländischen Staatstheater wieder spielt, verordnete – auch auf Bitten des Betriebsrates – die Theaterleitung einen Probenstopp rund um Weihnachten und Neujahr.

Die Probenzeit für die Produktion »Das Fenster« wurde langsam knapp und eine Premiere im Januar immer unrealistischer. Zumal in Deutschland weiterhin ein Spielverbot bestand, während die Theater in Luxemburg längst wieder geöffnet hatten. So musste man die Proben im Januar 2021 erst einmal beenden, in Kurzarbeit gehen und neue Zeitfenster für die Endproben und Vorstellungstermine in Saarbrücken und Luxemburg suchen.

Nach vielen Gesprächen und neuen Planungen für beide Theater entschlossen wir uns, die Proben schließlich am 19. März wiederaufzunehmen, in der Hoffnung Ostersamstag endlich eine Premiere in Saarbrücken feiern zu können. Leider wird es auch zu diesem Uraufführungstermin nach den neusten Entwicklungen nicht kommen und so gehen die Planungen für neue Öffnungsszenarien weiter.

»Ja; mach nur einen Plan
sei nur ein großes Licht!

Und mach dann noch´nen zweiten Plan
Gehn tun sie beide nicht.«
(Bertolt Brecht)

Video-Dreh in den Saarwiesen mit dem Ensemble.

Doch mittlerweile ist der letzte Video-Dreh geschafft, das Stück vollendet und mit dem Untertitel »Eine Schauergeschichte für die letzten Generationen« versehen. Denn entstandenen ist eine Art Trash-Grusical mit viel Musik und nach Motiven aus »Peter Pan« von James Matthew Barries oder Horrorfilmen wie »Spuk im Hill House« nach dem gleichnamigen Roman von Shirley Jackson.

Anspielungsreich und lustvoll mit den Klischees und Phänomenen einer YouTube-, Instagram- und TikTok-Generation spielend, verweisen Stück und Inszenierung auf apokalyptische Vorstellungen und immer größer werdende Ängste vor einem gefährlichen und lebensbedrohlichem Draußen. Aber beginnt nicht erst jenseits der eigenen vier Wände und den ängstlich gezogenen Grenzen das aufregende Leben mit all seinen Abenteuern und spannenden Geschichten?

Horst Busch,
Chefdramaturg

Fotos © Horst Busch.