Es ist der 21. November 1947, als »Draußen vor der Tür« seine Uraufführung feiert, jedoch ohne den vermeintlich wichtigsten Zuschauer: Wolfgang Borchert, Autor des Dramas, ist einen Tag zuvor verstorben. Schwerwiegende Verletzungen und Folgen von Gelbsucht und anderen Krankheiten aus seiner Zeit als Soldat und Inhaftierter setzen seinem Leben ein Ende. Kein Wunder also, dass man als Zuschauer*in von dem »Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will« überwältigt von dem Schmerz sein kann, den Protagonist Beckmann, ein Heimkehrer aus sibirischer Kriegsgefangenschaft nach dem zweiten Weltkrieg, auf der Bühne zum Ausdruck bringt. Schließlich musste Borchert nicht lange suchen, um herauszufinden, wie dieser sich wohl anfühlt, hatte er ihn doch selbst erleben müssen.
Nach mehrmaligen Probenbesuchen bei der Erarbeitung des Dramas unter Phillip Preuss´ Regie, will auch ich besser wissen, warum einige Kriegsgefangene erst Mitte der 1950er Jahre in ihre Heimat zurückkehren durften und welche Erfahrungen sie machen mussten. Wieso also dauerte es nach dem Zweiten Weltkrieg so lange, bis alle Gefangenen in ihre Heimat entlassen wurden? Eigentlich sahen die Haager Landeskriegsordnung sowie die Genfer Kriegsgefangenenkonvention eine zügige Heimkehr aller Kriegsgefangenen nach Kriegsende vor.
Allerdings hatten die Alliierten auf der Konferenz von Jalta einen Einsatz deutscher Kriegsgefangener zu Reparationszwecken beschlossen, womit eine sofortige Rückkehr ausgeschlossen war. Zudem wollte die sowjetische Regierung die Haager und Genfer Beschlüsse nicht einhalten, da sich auch die deutsche Wehrmacht diesen Abkommen verweigert hatte. 1947 stimmte die Sowjetunion dennoch dem alliierten Beschluss zu, bis Ende 1948 alle Kriegsgefangenen zu repatriieren, also in ihre Herkunftsländer zurückzuführen. Ausgeschlossen von dieser Regelung waren jedoch von der sowjetischen Regierung verurteilte Kriegsgefangene.
Einer, der mit dem Schicksal einer langjährigen Kriegsgefangenschaft geschlagen war, ist Hans Kampmann, der mit 21 Jahren inhaftiert wurde. Auf seine Geschichte bin ich in einem Begleitbuch eines ARD-Dreiteilers von Rüdiger Overmans gestoßen, der fünf Wehrmachtssoldaten und ihre Zeit in Kriegsgefangenschaft porträtiert.
»Wenn man nachts austreten musste und dann wiederkam, war der eigene Schlafplatz von den Nachbarn zur Rechten und Linken belegt. Dann machten wir es, wie man es in Ferkelställen beobachten kann: Wir legten uns oben drauf, und irgendwann sank man nach unten auf seinen Stammplatz zurück. In der ersten Zeit der Gefangenschaft erlebte ich einige Male, dass ein Kamerad morgens nicht mehr von der Pritsche aufstand.«
Tote waren leider insbesondere in den Lagern der UdSSR keine Seltenheit. Bis heute ist ungeklärt, wie viele Menschen in ihnen inhaftiert waren und wie groß der Anteil von Todesfällen unter ihnen war. Schätzungen reichen von einem Sechstel bis hin zu zwei Dritteln. Die zu verrichtende Arbeit der Häftlinge war dabei nur ein Teil des Problems. Kampmann genoss in dieser Hinsicht sogar zunächst das Privileg, als ehemaliger Offizier nur leichte Lagerarbeiten verrichten zu müssen. Der eisigen Kälte und dem Hunger konnte jedoch auch er nicht entgehen.
»Vor uns war kein Tier, keine Pflanze sicher. Ob es ein Igel war oder ein Mops, alles ging durch unsere Mägen.«
Insbesondere bei der Verteilung der wenigen Rationen Brot, die jedem Häftling zustanden, waren Neid und Streit an der Tagesordnung. Kampmann erlebte, wie sich die Gefangenen Verfahren zur möglichst gerechten Aufteilung ausdachten, verschiedenste Arten von Waagen zu bauen versuchten und penibel auf Birkenrinde festhielten, wer welchen Teil vom Brot bekommen hatte.
Kraft gab den Häftlingen oft nur die ungewisse Hoffnung, irgendwann in die Heimat zurückkehren zu dürfen. Kontakt zu ihren Angehörigen herzustellen, war den sowjetischen Gefangenen jedoch kaum möglich, weshalb sie teils zu riskanten Mitteln griffen, um ihre Entlassung zu beschleunigen und sich auf den Nachhauseweg machen zu können:
»Es gab auch welche, die sich bewusst krank machen wollten. Man hatte ja über die Zeit hinweg beobachten können, dass nur die Kranken nach Hause kamen. Sie aßen zum Beispiel viel Salz und kleisterten sich dadurch die Magenwände aus; die Magenzotten verdauten in dem Falle nichts mehr. So verhungerten sie langsam. Andere schluckten Streichholzköpfe, also Schwefel. Oft erreichten sie damit das genaue Gegenteil: Anstatt nach Hause zu fahren, fuhr man sie auf den Friedhof. Die Beerdigungen waren, vornehm gesagt, rustikal. Die Toten ließ man nackt in eine Grube gleiten, denn die Bekleidung war ja noch wertvoll. Die konnte am Tag drauf schon jemand anderes gut gebrauchen.«
Besonders ein Satz aus Hans Kampmanns Erinnerungen ist mir nach meiner Recherche im Gedächtnis geblieben. Er schreibt:
»Meine Jugend wurde mir gestohlen.«
Doch hat Kampmann nicht als Offizier selbst jungen Männern auf der gegenüberliegenden Seite des Schützengrabens „die Jugend gestohlen“? Menschen, um die zuhause gebangt wurde, verwundet oder sogar getötet? Vielleicht wissentlich die Augen vor dem Holocaust verschlossen und ein Regime unterstützt, das unbegreiflich viel Leid in die Welt gebracht hat? Hierrüber ist in Kampmanns Erinnerungen nichts zu lesen.
Was also nehme ich hauptsächlich aus meiner Recherche zu »Draußen vor der Tür« mit? Dass nichts einfach nur schwarz oder weiß ist. Und dass das Thema Kriegsgefangenschaft viel zu umfangreich für einen einzigen Artikel zu sein scheint. Da es vermutlich nicht nur bei mir ziemliche Wissenslücken offenbart und dringend mehr aufgearbeitet werden müsste, abschließend noch ein paar Lektüretipps:
Rüdiger Overmans in Zusammenarbeit mit Ulrike Goeken-Haidl: »Soldaten hinter Stacheldraht – Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs«, Propyläen Verlag by Econ Ullstein Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2000 (Anmerkung: Alle Zitate aus diesem Artikel von Hans Kampmann entstammen dieser Quelle.)
Spiegel Geschichte: Ausgabe 3/2022 »Kriegsgefangenschaft. Die vergessenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs – wie das Trauma bis heute nachwirkt«, SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Hamburg 2022
Christian Streit: »Keine Kameraden – Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945«, Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, Bonn 1997
Gordon Burgess: »Wolfgang Borchert: Ich glaube an mein Glück – Eine Biographie«, Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2007