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Theaterblog

ICH BIN MÖGLICHKEIT.

Ein Beitrag zu Lucy (4,6 Milliarden Jahre).

Eine Heldinnenreise

LUCY (4,6 MILLIARDEN JAHRE). Schon im Titel sind sie enthalten und scheinen eine infame Erzähl-Behauptung für ein Theaterstück: die 4,6 Milliarden Jahre Erdzeitalter. Und dann der Vorname dazu: Lucy. Diese Kombination spielt mit dem Bezug von Person und Alter. Eine unglaubliche Dimension tut sich uns da auf. Und doch haben wir es mit einer Normalsterblichen zutun, die im Supermarkt an der Fischtheke arbeitet, in einem funktionalen Zuhause lebt und in unserer heutigen Manier die Woche mit Arbeitszeit und Pendelei verbringt. So weit, so klar. Doch etwas an dieser Frau scheint sie zu einer Prädestinierten zu machen, prädestiniert einem Ruf zu folgen.

Work hard, have fun, make history – von der Relativierung der Leistungsgesellschaft

Die französische Dramatikerin Gwendoline Soublin ist nach eigenen Aussagen seit Jahrzehnten Wissenschaftsbegeisterte, die sich insbesondere für die Paläontologie interessiert. Dieses große Thema fließt literarisch verdichtet in das Stück ein: die dramatischen Akte haben Kapitelüberschriften, benannt nach den rückwärtslaufenden Erdzeitaltern. Wir starten in der Jetztzeit, dem Kapitalozän und reisen über Pliozän und Kambrium bis ins Hadaikum, in dem Lucy schlussendlich dem ersten Einzeller-Organismus in einer Pfütze inmitten einer Asphaltwüste von Parkplatz begegnet. Dazwischen: das Jagen einer Sippe, das Verschwinden des homo sapiens, die orgiastische Sinnlichkeit einer Verschmelzung mit Flora und Fauna, fünf große Massenaussterben diverser Saurier – und Lucy, die überlebt. Lucy ist eine Zeitreisende, die beginnt anderen neu zu begegnen, vielleicht gar überhaupt erst zu begegnen. Und sich zu verbinden, jenseits von verbal ausgetauschten Inhalten, Gemeinsamkeiten, Geschäfts- oder Partnerschaftsinteressen. Was sie da ruft, ist existenziell. Ist Existenz, Sinnlichkeit, Sinnhaftigkeit. Vielleicht ist es ihr Name, der sie zur Auserwählten dieser Erfahrung macht – Lucy Afarensis ist der Name und Typus eines 1974 in Äthiopien gefundenen Skeletts, das von einer frühmenschlichen, sich noch unaufgerichtet fortbewegenden Menschenart stammt.

ICH BIN AM LEBEN. GANZ RUHIG

Der Auslöser ihres intuitiven 24-Stunden-Ausstiegs aus der Gegenwart der Leistungsgesellschaft ist eine tags zuvor erfahrene Beleidigung durch den Chef, der sie als Neandertalerin beschimpft. Ein stigmatisierender Automatismus, der sie kleinmachen und womöglich kleinhalten soll. Eine Erniedrigung, die eine Eigendynamik entwickelt. Doch wohin weist sie? Unerwarteterweise wird die Beleidigung in eine Stärke umgewandelt, in ein inneres Suchen, eine innere Suchbewegung. Schon bald mündet diese Verletzung in einer unterschwelligen, jedoch nicht minder grundlegenden Befragung: Was zählt der Mensch in Relation zur gesamten Erdgeschichte? Was wäre die Welt ohne den Menschen?

Zweifellos: sie wäre. Punkt. Der Mensch ist jünger als der Einzeller. Doch darum geht es Soublin nicht. Ihre Protagonistin, die in der deutschen Übersetzung von Corinna Popp übrigens im Plural von sich spricht – als Menschheitsvertreterin sozusagen – erfährt im roleback auch, dass sie für eine Gemeinschaft oder für schutzlose Lebewesen zählt. Sie wird angenommen und ist Teil. Inmitten der anachronistischen Fülle an Vergehen und Werden des Lebendigen erblickt sie sich selbst. Es sind die grundsätzlichen Erfahrungen menschlichen Lebens, die körperliche und soziale Dimensionen, die diese Erkenntnis bringen. Hunger, Kälte, Mitmenschlichkeit, Verwundbarkeit, die lebensspendende Kraft qua Biologie.

Selbstannahme als Schlüssel zu Verantwortung

Gleich einem wiederkehrenden Mantra wiederholt die Protagonistin ihr Alter und Gesamtverfassung zu verschiedensten Zeitpunkten im Stück: Sechsundvierzig, nicht mehr vital, erste Gebrechen kündigen sich an, verfärbte Zähne. Was anfangs eine beiläufig dargebrachte Figurenbeschreibung zu sein scheint, wird zur bewusst benannten Anzahl an Lebensjahren. Das Alter wird zum Überlebens- und Vitalisierungsmantra: Dieser Körper existiert, rennt, klettert, säugt, schwimmt, erträgt Hitze, Kälte, Wasser, Nacktheit, ist verwundbar, kann wieder heilen. Lucy Afarensis staunt über die eigenen körperlichen Fähigkeiten, über die Möglichkeiten des Seins. Aus dem isolierten Zustand einer durchschnittlichen Nutzerin dieses Planeten rauskatapultiert, hinein in die Synergiegemeinschaft der Sammler*innen und Jäger*innen, erfährt sie Initiation: Erst durch die Andersheit des Miteinanders jenseits von Leistungsgesellschaft folgt eine Erinnerung an eine entfernte Sehnsucht nach einer echten, weil solidarischen Gemeinschaft der Nähe. Hier liegt der Schlüssel zur Selbstannahme.

Überborderndes Sein – überbordende Theatermittel

Die Autorin schafft mit diesem dramatischen Gedicht weit mehr als eine Ausstiegsgeschichte: mittels Phantastik, Dokumentation und Poesie erwächst daraus ein wort- und bildgewaltiger Zugang zum Thema Selbstermächtigung, den Regisseur Sébastien Jacobi zusammen mit Ausstatterin Viktoria Edler in jedweder Hinsicht und Vielschichtigkeit aufgreift und würdigt. Jacobi hat in der Zusammenarbeit mit Christoph Iacono (Komposition) eine vom LandesJugendChor Saar unter Chorleiter Mauro Barbierato einstudierte Partitur geschaffen, die den Stellenwert des Sakralen von Arbeit in unserer Gegenwart genauso betont, wie auch das Hamsterrad des Repetitiven und erbarmungslosen Leistenmüssens. Ganz bewußt überlagert nicht nur die Gesangsebene Text und Spiel, sondern dazu auch Tanz, sprich Körper in Form der Choreographien von Charlotte Krone, Nobel Lakaev und Flavio Quisisana des Saarländischen Staatsballetts. Fast ist es, als flösse alles anfänglich getrennt Ausagierte – Sprache, Stimme, Körper – zunehmend zusammen: Lucy wird eins mit ihren Ausdrucksmitteln als Mensch.

Der filmische Zugang zum Stoff erschließt Soublins doppelte Suchbewegung: die Raum-Zeit-Entgrenzung bei gleichzeitigem Verhaftet-Sein in der Gegenwart schafft eine Distanz zum Gelebten. In dieser Distanz liegt die Chance einer relativierenden Betrachtung unsere Zivilisation mit ihren „Errungenschaften“ bis hin zur Selbstüberwindung durch die KI (Roboterbau und Programmierung durch Philipp Kaminski und Nils Fiene). Das Leben im Kapitalozän erscheint fragwürdig und doch kehren wir am Schlussende mit Lucy dorthin zurück. Die physikalischen Gesetze greifen, das entgrenzende Fabulieren bleibt Fiktion und doch: Lucys Perspektive ist nach getaner aventiure, nach bestandener Bewährungsreise, eine Andere.

ICH HABE EINE SPUR HINTERLASSEN

Mensch mag meinen, dass der Fakt sich als lebendig zu beschreiben nicht nennenswert ist. Soublin, Jacobi und Schauspielerin Laura Trapp beweisen uns das Gegenteil. Diese Selbstwahrnehmung macht Selbstbestimmtheit erst möglich. Und möglicherweise hängt mit ihr auch ein kollektiver Wunsch zusammen: als Menschheit relevant zu sein. Mit Verantwortung für Planet und Gemeinschaft.

Also, worauf warten wir: 3,2,1, 0 und gütig miteinander ins neue Sein – los.

Bettina Schuster-Gäb