Stephanie Schulze: »Hoffmanns Erzählungen« verbindet mehrere Liebesgeschichten, in denen der Erzähler Hoffmann selbst zum Protagonisten wird, in einem Spiel zwischen »Realität« und »Phantasie«. Was hat deine Phantasie entzündet, als du dich diesem Stück genähert hast?
Bente Rolandsdotter: Wir gehen mit unserer Produktion auf die Reise in eine Welt von Erinnerungen und Nostalgie, von Liebe und Zweifel. Der große Humor, aber auch der Umgang mit Liebe und Wahnsinn in »Hoffmanns Erzählungen« verlangen nach phantastischen, überdrehten Kostümen. Für die Kostüme waren übergroße, markante Silhouetten und eine sorgfältig zusammengestellte Farbpalette eine große Inspirationsquelle. Kardinäle, die sich in Schachfiguren verwandeln, eine gnadenlose Studentengruppe in der Uniform toxischer Männlichkeit und eine Party am frühen Morgen, die die Form eines Bacchanals annimmt.
In welche Räume führt ihr Hoffmann und auch das Publikum?
Marian Nketiah: Die Räume, die der Zuschauer erlebt, sind vielmehr Gedankenwelten als reale Orte. Es sind Versatzstücke aus Hoffmanns Erinnerungen – etwa der Balkon einer Wohnung, der Altar einer Kirche, die Duschen einer Jungen-Umkleide. Orte, an denen prägende Momente erlebt und Erinnerungen geschaffen wurden. Ähnlich wie an einem Filmset existieren diese Orte gleichzeitig und nebeneinander und bilden die Kulissen für einzelne, fragmentarische Momente und Szenen, die als eine Art »Kopfkino« Hoffmanns bezeichnet werden können. Dieses »Kopfkino« erleben wir als Zuschauer nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf der Leinwand, die stetig um das Bühnengeschehen kreist und auf der immer wieder Videoprojektionen zu sehen sind. In den Videos sehen wir entscheidende Momente zwischen Hoffmann und Stella.

In den Videos sehen wir dann entscheidende Momente zwischen Stella und Hoffmann an realen Orten, jedoch nicht frei von Surrealität, wenn zum Beispiel durch Schnitte Räume nahtlos gewechselt werden können bzw. ineinander übergehen. Oder Figuren scheinbar durch Wände gehen können. Das ist sehr nah an Hoffmann.
Auf der Bühne führt ihr das Thema der gespaltenen Persönlichkeit und auch das Spiel mit Doppelgängern fort. Hoffmann taucht gleich mehrfach auf …
BR: Es handelt sich um einen traumähnlichen Zustand, in dem Hoffmann durch Erinnerungen und Reflexion versucht zu verstehen, was in der Beziehung schiefgelaufen ist. Indem wir mehrere Hoffmanns in jeweils unterschiedlichem Alter auf der Bühne haben, schaffen wir für ihn die Möglichkeit, seine Vergangenheit neu zu gestalten und sich seine Zukunft vorzustellen. Diese vielschichtige Erzählweise zeigt sich im Kostüm durch eine dunkle, verzerrte Sicht auf die Welt, die auch von grotesken Gestalten bevölkert wird. Erinnerungen verschmelzen mit verworrenen Alpträumen. Das geblümte Hemd von Hoffmanns erstem Date geht über in einen verwaschenen Bademantel und später in ein übergroßes, fleckiges Künstlerhemd. Die warme Farbpalette mit nostalgischen Rosa- und Orange-Tönen, sowohl bei Hoffmann als auch bei Stella, trifft auf das gnadenlose Schwarz-Weiß der Außenwelt.
Die Episoden lesen sich als Variationen von Fehlschlägen in einer Liebesbeziehung zwischen zwei Künstlern. Wer ist Stella bzw. die anderen drei Frauen? Und wie seid ihr mit dem männlichen Blick auf Stereotypen von Weiblichkeit umgegangen?
BR: In unserer Version lebt Stella in Hoffmanns Erinnerung, als seine Nachbildung dessen, was passiert ist. Hoffmann sieht in diesem Rückblick Stella in verschiedenen Versionen, stereotype Frauenfiguren seiner eigenen Erinnerungen: Sie wird zur Braut (Olympia), die in einem riesigen Brautkleid ertrinkt, zur künstlerischen Seelenverwandten (Antonia) im passenden Partner-Bademantel und zuletzt zu einer Mischung aus dekadenter Nachtclubsängerin und mythologischer Sirene (Giulietta), die von ihrer Klippe ruft. Für Hoffmann stellt Giulietta die sexuelle Bedrohung einer Frau dar, die ihre Sexualität unter Kontrolle hat, während er selbst als alternder Mann seine frühere Stärke verliert.
Es gibt noch eine andere Frau, die Hoffmann begleitet. Die Muse, die bei euch in ihrer ganzen Körperlichkeit erscheint. Wie habt ihr zu dieser besonderen Erscheinung gefunden?
BR: Wir wollten, dass Hoffmanns innere Kräfte mit Ego und Muse auf der Bühne Gestalt annehmen, ein Yin und Yang des Geistes, nackte Zwillingsengel, die um die Kontrolle über seine Gedanken ringen und kämpfen. Die Nacktheit der Muse ist aus einem langen Prozess erwachsen. Ich habe nach einem freien weiblichen Körper gesucht, frei von jeglicher Norm und sexuellen Konventionen. Ein weiblicher Körper, der gleichzeitig menschlich, lustig, schön, funktional und auch müde sein darf.
Um diesen Bodysuit anzufertigen, habe ich alles Mögliche ausprobiert: Wie bewegt sich die lose Haut des Arms, wo genau geht die Wölbung der Schulter in die Rundung des Bauchs über und wie groß ist eine »ganz normale« Brustwarze? Muses Körper aus Trikotstoff, Schaumstoffperlen, Polsterung und Silikon zu erschaffen und dabei ohne Wertung oder mit dem Wunsch nach Konformität oder Kontrolle auf ihn zu blicken, war eine Befreiung. Es geht mir dabei auch darum, sich selbst und andere mit Neugier und Freude zu betrachten.

Der Körper ist ein wichtiger Topos sowohl in E.T.A. Hoffmann’s Erzählkosmos als auch in der Oper: nicht nur der als schön gelesene Frauenkörper, auch der deformierte Körper von Kleinzack, der leblose Puppen-Körper von Olympia, der kranke Körper von Antonia, die Macht und Ohnmacht im Zusammenhang mit Sex … Wie spiegelt sich dieses Thema in eurer Performance wider?
BT: Auch der männliche Körper wird in unserer Inszenierung thematisiert. Während Hoffmann nach Klarheit darüber sucht, warum seine Beziehung gescheitert sind, wird sein Körper als Träger von Zugehörigkeit und als einzige Grundlage seiner Existenz greifbar. Es stellen sich Fragen: Wo beginne ich, wo höre ich auf? Ich wollte, dass die drei verschiedenen Altersstufen von Hoffmann durch Farbe und Muster miteinander verbunden sind, aber das Gefühl des Kostüms spiegelt auch wider, wie Hoffmanns Körper im Verlauf der Aufführung immer verletzlicher wird.
Vielen Dank für den Einblick in eure Gedanken!