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Theaterblog

Mystische Klangwelten

Benjamin Wäntig Wie bereitest du dich auf eine Uraufführung vor, deren Musik noch niemand gehört hat?

Stefan Neubert Der größte Unterschied ist, dass es keinerlei Aufführungstradition gibt, geschweige denn Aufnahmen. Dadurch kann man sich viel frischer an ein Stück annähern. Wo sind die dramatischen Höhepunkte? Wie sind die einzelnen Teile gewichtet? Das Kennerlernen und Verstehen der Struktur ist ein spannender Prozess. Für mich waren die Leitmotive ein großer Baustein dabei. Holsts Umgang damit ist einzigartig. Es gibt natürlich auch Leitmotive bei anderen Komponisten, aber bei Holst durchziehen sie fast jeden Takt, überlagern sich. Wenn man die Charaktere dieser Motive begreift, ergeben sich daraus organisch die Temporelationen. Dabei ist außerdem wichtig, dass die Musik nah an der Sprache ist. Wenn man den Gesangsstimmen mit dem natürlichen Sprechrhythmus folgt, ergeben sich Rückschlüsse für Tempo und Rubato.

Original Manuskriptseite zur Oper »Sita« | Foto: Holst Foundation/British Library, London

BW Vokal-, insbesondere Chorwerke machen ja auch einen Großteil von Holsts Œuvre aus.

SN Gerade die Chorpassagen sind hochinteressant, besonders die Stellen, die aus dem Off klingen. Dazu zählen die Stimmen der Erde als vierstimmiger Frauenchor, die mit kühnen Harmonien eine mystische Atmosphäre verströmen und nach typischem Holst klingen.

BW Noch zwei Beobachtungen zu Holsts Leitmotiven: Einerseits sind sie häufig relativ kurz, aber Holst gelingt es trotzdem, aus ihnen größere Teile und Zwischenspiele zu entwickeln, ihnen geradezu sinfonische Dimensionen zu verleihen. Andererseits entwickelt er Motive aus anderen heraus, schafft also auf diese Art musikalisch-dramaturgische Zusammenhänge im Stück.

SN Sinfonischen Charakter erhalten die Leitmotive durch ihre Harmonisierung und Instrumentierung. Das Vorspiel zum 2. Akt besteht nur aus dem dreitaktigen Motiv der Treue von Sita und Rama, das vom Hornquartett in die übrigen Blech- und Holzbläser wandert. Dazu wird es harmonisch immer komplexer: von einfachem Dur hin zu einer Folge von schwebenden Septakkorden. Im 3. Akt erscheint das Treuethema wiederum in veränderter Form, wenn Rama von Sita als Gefangener spricht. Nun steht es in Moll mit einer dissonanten Basslinie dazu und nimmt so die Bedrohung des Treueversprechens am Ende musikalisch voraus.

Holsts Leitmotive stehen also nicht einfach eins zu eins für eine Figur oder ein Gefühl, sondern sie sind in permanenter Entwicklung – ein Verfahren, dass in dieser Komplexität nur wenigen Komponisten in der Nachfolge Wagners gelungen ist.

BW Welche Vorbilder hörst du sonst in der Partitur heraus? Auch wenn Holst selbst das Werk im Nachhinein als »wagnerianisches Gebell« abgetan haben soll, finde ich, dass sich dieser Vergleich am Ende gar nicht so sehr aufdrängt.

SN Für mich auch nicht. Holst hat hier weitgehend einen eigenen Stil gefunden, auch wenn er ihn später weit über das spätromantische Idiom hinaus entwickelt hat. Manche verminderten oder halbverminderten Akkorde oder große Ausbrüche erinnern etwas an Wagner. Ein größeres Vorbild, vor allem in Bezug auf die changierende Harmonik, sehe ich aber etwa bei Richard Strauss.

BW Wobei mich die musikalische Klammer von »Sita« an »Tristan und Isolde« erinnert: Während man in letzterem – vereinfacht gesagt – fünf Stunden auf die richtige Auflösung des rätselhaften Tristanakkords wartet, liegt auch »Sita« eine übergeordnete Kadenz von Des nach C zugrunde, die als kosmologische Idee von Anfang bis Ende über dem ganzen Stück steht.

SN So wichtig Wagner für Holsts strukturelle Überlegungen sicher gewesen ist, so ist doch Holsts musikalisches Idiom ganz anders und eigen. Man findet immer wieder etwas, das ich nur unspezifisch als britischen Klang bezeichnen kann: fanfarenartige Blechbläsersätze und eine gewisse Noblesse à la Elgar oder auch Vaughan Williams, mit dem Holst ja in engem Austausch stand. Anderes erinnert mich an Debussy, etwa die vielen leisen Stellen mit feinen dynamischen Abstufungen zwischen zwei- und dreifachem Pianissimo oder auch der häufig stark aufgefächerte Streichersatz. Holst scheut aber auch nicht die große Operngeste, sodass an den melodiösen Höhepunkten Puccini durchscheint. Es ist insgesamt eine Musik zum Genießen, die immer klangvoll, melodienreich und durch ihre Instrumentierung und Harmonik sehr farbig ist.

BW Bei aller kompositorischer Reife handelt es sich ja um ein frühes Stück im Œuvre des Komponisten. Was weist für dich auf den späteren Holst voraus?

SN Immer wieder finden sich solche Stellen. Am Ende des 2. Akts bei Ravanas Beschwörung der Finsternis tauchen stark dissonante Orgelpunkte in den Posaunen auf, die schon deutlich nach »The Planets«, vor allem »Mars«, klingen. Genauso das Intermezzo im 3. Akt, das konsequent in einem schwankenden 5/4-Takt geschrieben ist und so den offenen Ausgang der Situation der Angriffssituation in Musik fasst.

Die modernste Stelle des ganzen Stücks ist wenig später im 3. Akt, wo zum rhythmischen Hämmern des Brückenbaus verschiedene Motive geschichtet werden: das Lied der Holzfäller aus dem Off, Ravanas Beschwörung, Sitas Sonnengruß – alles gleichzeitig übereinander montiert.

BW Noch eine spekulative Frage: Warum hat Holst »Sita« liegengelassen, nachdem die Oper den ersehnten Wettbewerbspreis verfehlt hatte?

SN Ich kann mir vorstellen, dass eine solche Enttäuschung jemanden dazu veranlassen kann, radikal mit etwas Vorherigem abzuschließen, um sich auf Neues zu konzentrieren. Obwohl ich »Sita« für sehr originell und keineswegs epigonenhaft halte: Holst hat sich im Folgenden auf der Suche nach seinem individuellen Stil immer mehr von den Vorbildern der Romantik gelöst und mit anderen Formen und vor allem auch kleineren Besetzungen experimentiert. Nur in wenigen Werken wie »The Planets« hat er auf große Orchesterbesetzungen zurückgegriffen. Auf diesem Weg ist »Sita« eine wichtige Etappe: Die Oper hat es aber verdient, nicht nur als bloße Zwischenstufe betrachtet zu werden, sondern als spannendes Werk mit eigenen (Klang-)Qualitäten.