Am Valentinstag 1998 betrat am kleinen New Yorker Jane Street Theatre eine Figur die Bühne, die Kultstatus erlangen sollte: Hedwig. Als Kämpferin, Rockstar, Versehrte, Heimatlose, sang sie sich in die Herzen einer internationalen Fangemeinde und traf einen Nerv der Zeit.
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Es war ein Überraschungserfolg für den Schauspieler John Cameron Mitchell und den Musiker Stephen Trask, die sich Anfang der 1990er Jahre zufällig in einem Flugzeug kennenlernten, ihre Leidenschaft für Rockmusik teilten und in Sachen Karriere beide auf der Suche nach dem nächsten großen Ding waren. Trask spielte damals in der Band eines Nachtclubs in Tribeca, dessen SqueezeBox-Parties zum Hafen wurde für »all the strange Rock’n’Rollers«, Punk-Rocker, die queere Community, Dragqueens und -kings, die eine Alternative zu den üblichen House- und Technoveranstaltungen suchten. Dort entwickelte Mitchell auf Grundlage von autobiografischen Episoden – als Sohn eines US-Generals lebte er zeitweise in Berlin; in Kansas war er mit einer deutschen Militärsgattin befreundet, die ihn zu Hedwig inspirierte – mit Stephen Trasks Songs und einer gehörigen Portion Glamrock jenen Charakter, der schließlich international für Furore sorgen sollte. Nach mehr als 850 Vorstellungen Off-Broadway wurde die Geschichte mit Mitchell in der Hauptrolle verfilmt. Die erste Broadway-Produktion 2014 mit Neil Patrick Harris als Hedwig gewann zahlreiche Preise, u. a. mehrere Tony-Awards. Im Mainstream des kommerzialisierten Betriebes angekommen, gecovert, kopiert, hat sich Hedwig ihren Underdog-Charme bewahrt. Sie tingelt mit ihrer Band The Angry Inch weiterhin über die großen und kleinen Theaterbühnen und erzählt in zehn Songs, deren musikalischer Horizont von Glamrock über Punk und Country bis zu Rockballaden reicht, ihre Geschichte.
Die Musik war Hedwigs erste Liebe. Aufgewachsen als Hansel Schmidt in Ostberlin, vom Vater verlassen und der Mutter mehr geduldet als behütet, hört der einsame »irregeleitete Girlyboy« in der Enge seines Ofens amerikanische Rocksongs aus dem US-Army-Radio und in ihnen eine ungekannte Freiheit. Mitte zwanzig, ungeküsst und der Universität verwiesen, öffnet sich eine Tür in eine bessere Welt in der Begegnung mit dem amerikanischen GI Luther Robinson. Auf Spaziergang durch die Ruinen Berlins verguckt sich dieser in den zarten Hansel und lockt ihn als Sugar Daddy mit Milky Ways und Gummibärchen in den goldenen Westen. Den Geschmack von Liebe und Freiheit im Mund willigt Hansel zur Hochzeit mit Luther ein. Mit Perücke, gefälschtem Pass und dem Namen der Mutter fehlt noch ein entscheidendes Detail zum Glück: Um heiraten und ausreisen zu können, muss er ganz Frau werden. Luther und die Mutter drängen ihn zu einer Geschlechtsoperation. Doch der Eingriff geht schief und hinterlässt zwischen ihren Beinen jenen »angry inch«, eine zollgroße vernarbte Wulst, die sie fortan zwischen den Geschlechtern stehen lässt. Das erhoffte Glück weicht nüchternen Tatsachen. Schon bald von Luther verlassen, muss Hedwig in der Tristesse eines Trailerparks im tiefsten Kansas am Fernsehbildschirm mitansehen, wie in Berlin die Mauer fällt. Fortan schlägt sie sich mit Gelegenheitsjobs durch – Auftritte in schäbigen Bars, Babysitten, Prostitution. Sie nimmt sich des Teenagers Tommy an, bringt ihm alles über Musik bei und meint in ihm ihre große Liebe, ihr verlorengeglaubtes Gegenstück gefunden zu haben. Doch auch hier findet sie kein Glück: Tommy lässt sie fallen, als sich seine große Rockkarriere anbahnt. Während er in Stadien ihre Songs spielt, reist Hedwig ihm mit ihrer Band The Angry Inch hinterher. Immer an ihrer Seite ist Roadie-»Ehemann« Yitzhak, der Hedwigs permanenten Provokationen und Attacken infolge ihrer eigenen ausgesetzt ist, bis auch sein Moment kommen wird.
Hedwigs Geschichte kann als düsteres Märchen über ein Kind gelesen werden, das ohne Liebe aufwachsen musste und schon früh seine Einzigartigkeit entdeckt. Ihre Suche nach Liebe und Vervollkommnung fußt auf einer Episode in Platons »Symposium«, auf die der Song »The origin of love« Bezug nimmt. Im Mythos von den Kugelmenschen erklärt dort der Komödiendichter Aristophanes die Herkunft sexueller Vorlieben in Form einer Allegorie: Ursprünglich war die Menschheit in drei Geschlechter unterteilt, denn es gab neben männlichen und weiblichen ein drittes, das Anteil an beiden hatte. Ihre Körper waren von kugelförmiger Gestalt mit zwei Köpfen, vier Armen, vier Beinen und zwei Geschlechtsteilen. Zeus, der die Kraft und Übermacht der Kugelmenschen fürchtete, schnitt sie in zwei Hälften, damit sie den Göttern nicht gefährlich werden konnten. Seitdem sind die Menschen von der Suche getrieben, sich mit ihrer verlorengegangenen ursprünglichen Hälfte zu vereinen. Aus Mitleid verlegte Zeus ihre Genitalien nach vorn, damit sie Kinder zeugen oder wenigstens in der Vereinigung Befriedigung finden konnten. So kam das Begehren in die Welt. Jener Mythos, der letztendlich ein binäres Geschlechterverständnis nicht überwinden kann, wird zu Hedwigs Urerzählung. Ihre Liebesphilosophie steht somit konträr zu der katholisch geprägten Sicht Tommys, der sein Verständnis des Begehrens auf die Genesis und den Sündenfall bezieht. Bezeichnenderweise tauft sie ihn mit dem Namen »Gnosis« für Erkenntnis. Dass sie diese durch die schmerzvolle Enttäuschung revidieren muss, sich auch hier etwas vorgemacht zu haben, ist eine weitere Etappe auf ihrem Weg zu sich selbst.
Hedwig erzählt auch über die transformative Kraft der Kunst. Auf der Grenze zwischen den Geschlechtern stehend, begegnet sie der körperlichen und seelischen Versehrtheit, dem Gefühl der Unvollständigkeit und dem Ausloten der eigenen Identität mit einer Performance. Schillernd, erotisch, provokant: Glam heißt das Zauberwort, das hier Pate steht für einen Stil, der in den 1970er Jahren ausgehend von Großbritannien zahlreiche kulturelle Bereiche wie Mode, Musik, Film und bildende Kunst erfasste. Glam lässt sofort an extravagante Outfits, wilde Frisuren und grelle Schminke denken. Der Bruch mit allem Natürlichen, Authentischen – wie es die Hippiebewegung intensiv auslebte – bedeutete eine Überbetonung des Künstlichen in jeglicher Hinsicht. Der eigene Körper wurde mit Hang zum Exhibitionismus eingesetzt, um sich außerhalb der Norm zu verorten. Mit Strategien der Selbstinszenierung konnte man in den Status eines strahlenden Superstars, eines schillernden Aliens oder eine glamouröse Hollywood-Rock-Diva gehoben werden. Begriffe von Weiblichkeit und Männlichkeit begannen sich hin zu einem diffusen Geschlechterverständnis aufzulösen: Jungs trugen Frauenkleider, Mädchen spielten die harten Kerle, androgyne Facetten wurden betont. Die Tradition des Crossdressings in den performativen Künsten als Vorreiter des Drag beginnt sich hier weiter auszudifferenzieren. Das Spiel mit wechselnden Rollen und Masken durchdringt die (Selbst-)Darstellung von Leben und Identität in einer Welt moderner Konsumkultur und Massenmedien.
Unter dem glitzernden Mantel der Rockmusik steckt eine Pre-Punk-Attitüde, die die soziale Ordnung gehörig in Frage stellt. Indem Identitäten als fluide, zersplittert und wandelbar verstanden werden, stellt Glam implizit die Frage, ob so etwas wie vorgegebene Identität überhaupt existiert.
David Bowie ist mit seinen außerirdischen Inszenierungen, den androgynen Verwandlungen und ständigen Neuerfindungen sowie der Massenkompatibilität seiner Musik unerreichter Prototyp dieser Zeit. Bei aller Ambivalenz ihrer Inszenierungen und der nicht zu unterschätzenden Bedeutung für die homosexuelle Emanzipationsbewegung ist die Glam-Rock-Szene doch vorrangig männlich: Neben Marc Bolan und T.Rex, Slade, Roxy Music, The New York Dolls oder auch Lou Reed, um nur einige zu nennen, ist Suzie Quatro in den 1970ern eine der wenigen weiblichen Superstars. Unter Einfluss der sich überlappenden Glam-Punk-Rock-Szene standen auch Musiker wie Iggy Pop und Lou Reed oder später Bands wie Queen, Kiss oder The Runaways mit Joan Jett. Die Strahlkraft des Glam reicht weit über die Zeit hinaus zu Punk, Disco, bis hin zu unterschiedlichen Pop-Rock-Größen von heute wie Peaches, Marilyn Manson, Beyoncé oder Lady Gaga, die das Erbe des Glam auf je ihre Art weitertragen.
Hedwig reiht sich mit ihrer Performance ein in die Riege der ikonischen Rockstar-Figuren, die mit dem Ungreifbaren und Doppeldeutigen spielen. Unter der schillernden Oberfläche offenbaren die Songs immer weitere Facetten ihrer selbst und lassen ein bisschen tiefer hören, ein bisschen mehr verstehen und fühlen, wer sich unter all den Schichten eigentlich verbirgt.
Stephanie Schulze