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Geschenktipps aus der Dramaturgie

Chefdramaturg Horst Busch wünscht sich eine intensivere Reflexion über Rituale:

Das Buch »Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart« des Philosophen Byung-Chul Han ist eine wunderbare Einladung, über Rituale und Festzyklen wie Weihnachten nachzudenken, die leider mehr und mehr »zu Erholungspausen degradiert« werden. Genau die richtige Lektüre für beschauliche Festtage!

Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale

Operndramaturg Benjamin Wäntig empfiehlt einen Titel, der eine reizvolle Spekulation anstellt:

Was wäre, wenn Lenin die kommunistische Revolution nicht in St. Petersburg, sondern in seinem Züricher Exil ausgerufen hätte und die Schweizer Sowjetrepublik sich fortan mithilfe ihrer Kolonien in Afrika in einem ewigen Krieg gegen das faschistische Deutschland befände? Christian Krachts 2008 erschienener Roman »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« ist Groteske und Dystopie in einem. Für mein Empfinden wirkt Krachts unterkühlte Prosa mittlerweile noch aktueller, verstörender, unheimlicher. Für alle, die in verunsichernden Zeiten weitere Verunsicherung suchen.

Christian Kracht: Ich werde da sein im Sonnenschein und im Schatten

Ballettdramaturg Klaus Kieser hat den 50. Todestag eines weltberühmten Choreographen im Blick:

1973 starb John Cranko, der Begründer des legendären Stuttgarter Ballettwunders, dessen Handlungsballette nach wie vor zum Repertoire ungezählter Kompanien rund um den Globus gehören. Anlässlich seines 50. Todestags erinnern gleich zwei Publikationen an den Meister: eine ausführliche, lebendige Biographie des ehemaligen Stuttgarter Tänzers Ashley Killar (»Cranko. The Man and his Choreography«) und der vom Stuttgarter Ballett herausgegebene Erinnerungsband »John Cranko. Tanzvisionär« mit Beiträgen von zwanzig Weggefährten des Choreographen.

Das Stuttgarter Ballett: John Cranko
Ashley Killar: Cranko

Und unsere Dramaturgie-FSJlerin Lenke Nagy hat ein Faible für Eishockey:

In Björnstadt dreht sich von jeher alles um die eine gemeinsame Leidenschaft: Eishockey. Die vielversprechende Jugendmannschaft soll dem fast vergessenen Ort zu wirtschaftlichem Aufschwung und nationalem Ruhm verhelfen. Doch als ein Mädchen vergewaltigt wird, wird der Zusammenhalt der Björnstädter auf die Probe gestellt. Eine bewegende und sprachlich herausragende Winterlektüre ist Fredrik Backmans »Kleine Stadt der großen Träume«  – auch geeignet für alle, die sich mit Eishockey (noch) nicht auskennen!

Frederik Backmann: Kleine Stadt der großen Träume

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Fragen an den Schauspieler Raimund Widra

Lieber Raimund, mittlerweile spielst Du  »Die Leiden des jungen Werther« schon im siebten Jahr in Saarbrücken. Was bedeutet Dir diese Produktion?

Die Arbeit ist bereits 2014 entstanden und ich schätze, dass ich bald 100 Vorstellungen gespielt habe, soviel wie von keinem anderen Stück. Vor jeder Vorstellung gehe ich für mich einmal durch den Text. Ich habe diese Worte also schon unzählige Male gesprochen und es bereitet mir immer noch große Freude. Wenn ich dann eine Vorstellung spiele, versuche ich jedes Mal aufs Neue, kleine Nuancen im Text anders zu erspielen und die Gedanken auf unterschiedlichem Wege zu greifen. Die Tatsache, dass ich bereits so viele Vorstellungen gespielt habe, gibt mir die Freiheit, dabei spielerisch etwas zu wagen, ohne genau zu wissen, wohin es mich an diesem Abend treibt. Ich kann mich darauf verlassen wieder auf Spur zu kommen, wenn ich mal aus der Kurve fliegen sollte. Und dennoch ärgere ich mich jedes Mal, wenn mir eine Passage verrutscht. Das ist in diesen Momenten aber eher eine Frage fehlender Konzentration, als des zu hohen Risikos – das zahlt sich meist aus!

Der Regisseur Maik Priebe hat diese Inszenierung schon am Theater Magdeburg mit Dir erarbeitet. Was hat sich für Dich von der Spielstätte in Magdeburg im Vergleich zur Alten Feuerwache in Saarbrücken verändert?

Ich habe das Stück in Magdeburg in drei recht verschiedenen Spielstätten gespielt, auf einigen Gastspielen und hier in Saarbrücken, neben der Feuerwache und der sparte4 auch schon einmal auf der Vorbühne im Staatstheater. Der Abend hat sich immer gut anpassen können. Ursprünglich wurde er für ein Foyer konzipiert und war mit ungefähr 60 Plätzen auf einer kleinen Tribüne eine ziemlich intime Angelegenheit. Das ändert sich natürlich, wenn der Saal größer wird. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass sich auch die kleinen, schwebenden Momente in einem großen Raum gut einlösen, vor allem, weil sich zum Ende hin die formalen Mittel der Inszenierung so auf die Sprache und die Emotion fokussieren.

Du kannst die Vorstellung »Die Leiden des jungen Werther« auch in Englischer Sprache spielen. Wie kam es dazu?

Grund dafür ist ein Gastspiel in der Ukraine gewesen. Das war 2015. Ich spreche weder Ukrainisch, noch Russisch, aber wir wollten den Abend möglichst vielen Zuschauern zugänglich machen. Ich habe dann vorgeschlagen, es auf Englisch zu spielen. Ich hatte das Stück zu diesem Zeitpunkt schon oft auf Deutsch gespielt und fühlte mich allgemein im Englischen recht sicher, weil ich mal Austauschschüler in England war (die Hybris eines jungen Schauspielers). Der Werther ist natürlich auch ins Englische übersetzt und die Textfassung ließ sich leicht übertragen. Wir mussten die Textstellen ja nur in der Übersetzung wiederfinden. Für das eine oder andere Extempore, das nicht von Goethe stammt, habe ich selbst nach Entsprechungen gesucht. Das Auswendiglernen mit Unterstützung von Muttersprachlern war dann eine Fleißarbeit. Bei einem zweiten Gastspiel in der Ukraine, diesmal in Saporischschja, habe ich aber auf Deutsch gespielt, wieder mit Ukrainischen bzw. Russischen Übertiteln. Ich würde mich sehr freuen, wieder dort spielen zu können.

Der Regisseur Maik Priebe, der mittlerweile Schauspieldirektor in Neustrelitz und Neubrandenburg ist, hat Dich mit dieser Produktion eingeladen. Wie ist es für Dich mit dieser Arbeit auf Gastspiel-Reise zu gehen?

Ein Gastspiel ist immer eine besondere Sache. Die Gegebenheiten sind einem fremd und es gibt wahrscheinlich ein paar Unwägbarkeiten auszuräumen, meist in sehr begrenzter Zeit. Das ist eine schöne Herausforderung. Außerdem kennen einen die Zuschauer nicht. Ich bin ja nun schon eine ganze Weile hier und wer, wie viele unserer Zuschauer*innen, regelmäßig kommt, wird kaum an meiner Nase vorbeigekommen sein. Es gibt hier für mich eine gewisse Aura des Vertrauten, wenn ich das mal etwas schwammig formulieren darf. Aber der vollkommen unvoreingenommene Publikumsblick, der mich beim nächsten Gastspiel erwarten wird, hat auch einen großen Reiz. Außerdem freue ich mich, dass Maik Priebe mich an seine neue Wirkungsstätte eingeladen hat, denn ich fühle mich ihm, heute wie damals, freundschaftlich verbunden.

Die Fragen stellte Horst Busch, Chefdramaturg

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Märchen, Mythen, Meuterei

»Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön…« – für die Bewohner eines Städtchens am Deister wohl eher nicht: Zur Schuldentilgung des Landes Niedersachsen wurden sie samt Infrastruktur verkauft und in Containern auf ein Frachtschiff geladen. An einem noch unbekannten Ort soll die Gemeinde als Freizeitpark wiederaufgebaut und begehbar gemacht werden.

Nicht lange, und der Lagerkoller setzt ein. Mitten auf dem Ozean ist man einander hemmungslos ausgeliefert. Dem Gegenüber, und vor allem sich selbst. So manche Beziehung, so manche Geschichte hätte man lieber zurückgelassen, nun drängt sie sich auf. Jakob Noltes Text zeigt das Miteinander, das Reden über das Reden. Was gibt man von sich Preis, was verbirgt man, was projiziert man auf den anderen? Man verrät mehr über sich selbst, als einem lieb ist – wenn man genau hinhört und, in Thorsten Köhlers Inszenierung, hinsieht. Gemeinsam mit Grigory Shklyar (Video und Bildregie) schafft er eine Bildwelt konzentriert auf die nonverbale Reaktion. Nur Hände, Beine, der Körper im Bild, nicht das Gesicht, gerät jedes Zittern der Hände, jedes Ballen zur Faust, unter das Brennglas. Das Ungesagte und das Gesagte verschmelzen.

»…denn da kann man fremde Länder und noch manches andre sehn«, geht das Lied weiter. So manch einer auf dem Frachtschiff sehnt sich aber eher nach der Heimat, nach dem Bekannten. Über den Tellerrand schauen lässt einen allzu oft über das Bisherige und Gewohnte grübeln. Wie geht man mit dem Neuen, mit dem Fremden um? Was ist typisch deutsch? Sonst sind es doch »die Deutschen«, die als Touristen andere Länder und Kulturen bestaunen, die vom Erbe des Kolonialismus bis heute profitieren. Und jetzt wird man verkauft? Im Freizeitpark ausgestellt? Die Ausstattung von Justus Saretz spielt genau damit – mit kultureller Aneignung, mit Alltagsrassismus, mit Vergangenheitsbewältigung. Und mit dem »typisch Deutschen«, mit dem Bild, das man von sich selbst hat, wie man sich gerne präsentieren möchte, und mit dem Bild, das sich die anderen machen.

Bühne und Kostüme schaffen zugleich eine geheimnisvolle Welt, fast mythen- und märchenhaft. Auch Prolog und Epilog des Stücks erinnern an ein Märchen, und bei Thorsten Köhler erklingt »Scheherazade« von Nikolai Rimski-Korsakow dazu. Man erzählt sich Geschichten, vielleicht eben auch Märchen, über sich selbst und die Vergangenheit, so eingepfercht auf einem Schiff. Und dieses Schiff wird, auch ganz Märchen, auf einmal zum Geisterschiff. Die Investorin möchte lieber ein südamerikanisches Pueblo als eine niedersächsische Kleinstadt. Eine Rückführung ist zu teuer. Ohne Kapitän und Crew treibt das Schiff auf dem Ozean, und die Passagiere beginnen zu meutern. Verkauft und nicht abgeholt, orientierungs- und ziellos, frustriert, misstrauisch. Wie wird ihre Geschichte weitergehen, wer wird sich ihrer annehmen, und wo wird man stranden? Ihre Ängste manifestieren sich in einer geheimnisvollen Gestalt, die jede*r gesehen haben will, die aber keiner genau beschreiben kann. Eine mythenhafte Gestalt des Ozeans.

Erlösung naht durch eine Cola, trinkbarer Konsum. Die süßen Perlen des Softgetränks lassen einen Heimat, Herkunft und die eigene Geschichte vergessen. Der Mensch ist längst Ware geworden, nutzbar, verfügbar, sein Schicksal der Ökonomie unterworfen.  »Ein Gespenst geht um in Europa. Es heißt Gute Laune.« Gelenkt von der merkwürdigen Sehnsucht, stets glücklich zu sein, irren die Glücklichen und die Traurigen über die Meere und durch ihre Gedanken. Eine melancholische, verdichtete Suche danach, was das Leben lebenswert macht, was den einzelnen ausmacht und was – und vor allem: wer – davon übrigbleibt im Wechselspiel mit Befindlichkeiten, Wirtschaft, Politik und Macht.

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Fragen an die Regisseurin Patricia Benecke

Du hast schon an vielen Theatern Stücke zur Weihnachtszeit inszeniert. Was gefällt Dir besonders an »Der Lebkuchenmann« von David Wood?

David Woods »Der Lebkuchenmann« kommt aus der britischen Weihnachtstheatertradition, und da ich über 25 Jahre in London gelebt habe, ist mir diese sehr nah. Die britischen Weihnachtsstücke sind oft gespickt mit Gags und Aktion und haben nicht selten auch interaktive Elemente, und das ist auch im Lebkuchenmann angelegt. Abgesehen davon erzählt das Stück auch auf enorm charmante Weise eine richtig gute Geschichte: wie man mit neuen Freunden Herausforderungen meistern und gemeinsam Lösungen finden kann, dass ein Status Quo, der sich schon seit langem schwierig anfühlt – bei uns der alte Teebeutel im oberen Regal – durch einen frischen Angang positiv verändern lässt, und natürlich auch, dass man nicht immer gleich alles wegwerfen muss.

Was ist Dir besonders wichtig bei der Arbeit an einem Familienstück, also an einem Theaterstück für kleine und große Zuschauer?

Wir hoffen ja, dass die kleinen Zuschauer von heute unsere großen Zuschauer von morgen werden, also ist mir wichtig, dass wir den Kindern, die kommen, so richtig Lust auf Theater machen. Gleichzeitig versuche ich ein Familienstück so zu inszenieren, dass auch die Erwachsenen, die es sich ansehen, in die Geschichte gezogen werden und vielleicht das ein oder andere Augenzwinkern miteinander teilen.

Warum wolltest Du gerne, dass für Deine Inszenierung in Saarbrücken der englische Theatermusiker Simon Slater neue Songs schreibt?

Simon Slater hat inzwischen für viele meiner Arbeiten Musik geschrieben. Ich wollte gerne, dass er beim Lebkuchenmann dabei ist, weil er, obwohl er regelmäßig für Londoner Inszenierungen am National Theatre, im West End oder am Globe Theatre Theatermusik schreibt, auch alle Jahre wieder für Weihnachtsstücke komponiert. Seine Erfahrung mit und Begeisterung für Familienstücke ist wunderbar, die Songs die er schreibt, machen einfach gute Laune – den Figuren auf der Bühne und uns im Zuschauerraum. Da er mit der britischen Weihnachtsstücktradition aufgewachsen ist, wusste er sofort, was für Songs unser Stück braucht.  

Was bedeutet es für Dich, Premiere zu haben?

Premiere mit einem Familienstück zur Weihnachtszeit zu haben ist immer etwas ganz Besonderes. Man kann sich während der Proben zwar ein ungefähres theoretisches Bild davon machen, worauf die Kinder wie reagieren, aber wenn dann nach den leeren Stühlen im Zuschauerraum, die man während der Probenzeit hatte, die Reihen zur Premiere voller junger Menschen sind, und man das erste Mal erlebt, wie sie sich lautstark freuen und mitgehen, ist das einfach großartig.

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»Love creates something that was not there before«

Am Valentinstag 1998 betrat am kleinen New Yorker Jane Street Theatre eine Figur die Bühne, die Kultstatus erlangen sollte: Hedwig. Als Kämpferin, Rockstar, Versehrte, Heimatlose, sang sie sich in die Herzen einer internationalen Fangemeinde und traf einen Nerv der Zeit.

Zum Artikel: »Look at the woman I’ve become« oder Wann ist eine Frau eine Frau?

Es war ein Überraschungserfolg für den Schauspieler John Cameron Mitchell und den Musiker Stephen Trask, die sich Anfang der 1990er Jahre zufällig in einem Flugzeug kennenlernten, ihre Leidenschaft für Rockmusik teilten und in Sachen Karriere beide auf der Suche nach dem nächsten großen Ding waren. Trask spielte damals in der Band eines Nachtclubs in Tribeca, dessen SqueezeBox-Parties zum Hafen wurde für »all the strange Rock’n’Rollers«, Punk-Rocker, die queere Community, Dragqueens und -kings, die eine Alternative zu den üblichen House- und Technoveranstaltungen suchten. Dort entwickelte Mitchell auf Grundlage von autobiografischen Episoden – als Sohn eines US-Generals lebte er zeitweise in Berlin; in Kansas war er mit einer deutschen Militärsgattin befreundet, die ihn zu Hedwig inspirierte – mit Stephen Trasks Songs und einer gehörigen Portion Glamrock jenen Charakter, der schließlich international für Furore sorgen sollte. Nach mehr als 850 Vorstellungen Off-Broadway wurde die Geschichte mit Mitchell in der Hauptrolle verfilmt. Die erste Broadway-Produktion 2014 mit Neil Patrick Harris als Hedwig gewann zahlreiche Preise, u. a. mehrere Tony-Awards. Im Mainstream des kommerzialisierten Betriebes angekommen, gecovert, kopiert, hat sich Hedwig ihren Underdog-Charme bewahrt. Sie tingelt mit ihrer Band The Angry Inch weiterhin über die großen und kleinen Theaterbühnen und erzählt in zehn Songs, deren musikalischer Horizont von Glamrock über Punk und Country bis zu Rockballaden reicht, ihre Geschichte.

Die Musik war Hedwigs erste Liebe. Aufgewachsen als Hansel Schmidt in Ostberlin, vom Vater verlassen und der Mutter mehr geduldet als behütet, hört der einsame »irregeleitete Girlyboy« in der Enge seines Ofens amerikanische Rocksongs aus dem US-Army-Radio und in ihnen eine ungekannte Freiheit. Mitte zwanzig, ungeküsst und der Universität verwiesen, öffnet sich eine Tür in eine bessere Welt in der Begegnung mit dem amerikanischen GI Luther Robinson. Auf Spaziergang durch die Ruinen Berlins verguckt sich dieser in den zarten Hansel und lockt ihn als Sugar Daddy mit Milky Ways und Gummibärchen in den goldenen Westen. Den Geschmack von Liebe und Freiheit im Mund willigt Hansel zur Hochzeit mit Luther ein. Mit Perücke, gefälschtem Pass und dem Namen der Mutter fehlt noch ein entscheidendes Detail zum Glück: Um heiraten und ausreisen zu können, muss er ganz Frau werden. Luther und die Mutter drängen ihn zu einer Geschlechtsoperation. Doch der Eingriff geht schief und hinterlässt zwischen ihren Beinen jenen »angry inch«, eine zollgroße vernarbte Wulst, die sie fortan zwischen den Geschlechtern stehen lässt. Das erhoffte Glück weicht nüchternen Tatsachen. Schon bald von Luther verlassen, muss Hedwig in der Tristesse eines Trailerparks im tiefsten Kansas am Fernsehbildschirm mitansehen, wie in Berlin die Mauer fällt. Fortan schlägt sie sich mit Gelegenheitsjobs durch – Auftritte in schäbigen Bars, Babysitten, Prostitution. Sie nimmt sich des Teenagers Tommy an, bringt ihm alles über Musik bei und meint in ihm ihre große Liebe, ihr verlorengeglaubtes Gegenstück gefunden zu haben. Doch auch hier findet sie kein Glück: Tommy lässt sie fallen, als sich seine große Rockkarriere anbahnt. Während er in Stadien ihre Songs spielt, reist Hedwig ihm mit ihrer Band The Angry Inch hinterher. Immer an ihrer Seite ist Roadie-»Ehemann« Yitzhak, der Hedwigs permanenten Provokationen und Attacken infolge ihrer eigenen ausgesetzt ist, bis auch sein Moment kommen wird.

Hedwigs Geschichte kann als düsteres Märchen über ein Kind gelesen werden, das ohne Liebe aufwachsen musste und schon früh seine Einzigartigkeit entdeckt. Ihre Suche nach Liebe und Vervollkommnung fußt auf einer Episode in Platons »Symposium«, auf die der Song »The origin of love« Bezug nimmt. Im Mythos von den Kugelmenschen erklärt dort der Komödiendichter Aristophanes die Herkunft sexueller Vorlieben in Form einer Allegorie: Ursprünglich war die Menschheit in drei Geschlechter unterteilt, denn es gab neben männlichen und weiblichen ein drittes, das Anteil an beiden hatte. Ihre Körper waren von kugelförmiger Gestalt mit zwei Köpfen, vier Armen, vier Beinen und zwei Geschlechtsteilen. Zeus, der die Kraft und Übermacht der Kugelmenschen fürchtete, schnitt sie in zwei Hälften, damit sie den Göttern nicht gefährlich werden konnten. Seitdem sind die Menschen von der Suche getrieben, sich mit ihrer verlorengegangenen ursprünglichen Hälfte zu vereinen. Aus Mitleid verlegte Zeus ihre Genitalien nach vorn, damit sie Kinder zeugen oder wenigstens in der Vereinigung Befriedigung finden konnten. So kam das Begehren in die Welt. Jener Mythos, der letztendlich ein binäres Geschlechterverständnis nicht überwinden kann, wird zu Hedwigs Urerzählung. Ihre Liebesphilosophie steht somit konträr zu der katholisch geprägten Sicht Tommys, der sein Verständnis des Begehrens auf die Genesis und den Sündenfall bezieht. Bezeichnenderweise tauft sie ihn mit dem Namen »Gnosis« für Erkenntnis. Dass sie diese durch die schmerzvolle Enttäuschung revidieren muss, sich auch hier etwas vorgemacht zu haben, ist eine weitere Etappe auf ihrem Weg zu sich selbst.

Hedwig erzählt auch über die transformative Kraft der Kunst. Auf der Grenze zwischen den Geschlechtern stehend, begegnet sie der körperlichen und seelischen Versehrtheit, dem Gefühl der Unvollständigkeit und dem Ausloten der eigenen Identität mit einer Performance. Schillernd, erotisch, provokant: Glam heißt das Zauberwort, das hier Pate steht für einen Stil, der in den 1970er Jahren ausgehend von Großbritannien zahlreiche kulturelle Bereiche wie Mode, Musik, Film und bildende Kunst erfasste. Glam lässt sofort an extravagante Outfits, wilde Frisuren und grelle Schminke denken. Der Bruch mit allem Natürlichen, Authentischen – wie es die Hippiebewegung intensiv auslebte – bedeutete eine Überbetonung des Künstlichen in jeglicher Hinsicht. Der eigene Körper wurde mit Hang zum Exhibitionismus eingesetzt, um sich außerhalb der Norm zu verorten. Mit Strategien der Selbstinszenierung konnte man in den Status eines strahlenden Superstars, eines schillernden Aliens oder eine glamouröse Hollywood-Rock-Diva gehoben werden. Begriffe von Weiblichkeit und Männlichkeit begannen sich hin zu einem diffusen Geschlechterverständnis aufzulösen: Jungs trugen Frauenkleider, Mädchen spielten die harten Kerle, androgyne Facetten wurden betont. Die Tradition des Crossdressings in den performativen Künsten als Vorreiter des Drag beginnt sich hier weiter auszudifferenzieren. Das Spiel mit wechselnden Rollen und Masken durchdringt die (Selbst-)Darstellung von Leben und Identität in einer Welt moderner Konsumkultur und Massenmedien.

Unter dem glitzernden Mantel der Rockmusik steckt eine Pre-Punk-Attitüde, die die soziale Ordnung gehörig in Frage stellt. Indem Identitäten als fluide, zersplittert und wandelbar verstanden werden, stellt Glam implizit die Frage, ob so etwas wie vorgegebene Identität überhaupt existiert.

David Bowie ist mit seinen außerirdischen Inszenierungen, den androgynen Verwandlungen und ständigen Neuerfindungen sowie der Massenkompatibilität seiner Musik unerreichter Prototyp dieser Zeit. Bei aller Ambivalenz ihrer Inszenierungen und der nicht zu unterschätzenden Bedeutung für die homosexuelle Emanzipationsbewegung ist die Glam-Rock-Szene doch vorrangig männlich: Neben Marc Bolan und T.Rex, Slade, Roxy Music, The New York Dolls oder auch Lou Reed, um nur einige zu nennen, ist Suzie Quatro in den 1970ern eine der wenigen weiblichen Superstars. Unter Einfluss der sich überlappenden Glam-Punk-Rock-Szene standen auch Musiker wie Iggy Pop und Lou Reed oder später Bands wie Queen, Kiss oder The Runaways mit Joan Jett. Die Strahlkraft des Glam reicht weit über die Zeit hinaus zu Punk, Disco, bis hin zu unterschiedlichen Pop-Rock-Größen von heute wie Peaches, Marilyn Manson, Beyoncé oder Lady Gaga, die das Erbe des Glam auf je ihre Art weitertragen.

Hedwig reiht sich mit ihrer Performance ein in die Riege der ikonischen Rockstar-Figuren, die mit dem Ungreifbaren und Doppeldeutigen spielen. Unter der schillernden Oberfläche offenbaren die Songs immer weitere Facetten ihrer selbst und lassen ein bisschen tiefer hören, ein bisschen mehr verstehen und fühlen, wer sich unter all den Schichten eigentlich verbirgt.

Stephanie Schulze

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Wie ein Thriller

BW Was hat dich daran gereizt, dieses Stück zu inszenieren und zu choreographieren?

DV Für die Premiere der Produktion in Düsseldorf inmitten der Pandemie im Herbst 2021 haben wir ganz pragmatisch Stücke gesucht, die mit einer kleinen Besetzung auskommen. Deshalb haben wir das Stück dort auch in einer kleineren Orchesterfassung gespielt. Nichtsdestotrotz hat mich dieses Stück schon länger fasziniert, weil es wie ein gruseliger Thriller ist. Es passt gut in eine Zeit, in der von Kriminalgeschichten und True-Crime-Podcasts eine große Anziehungskraft ausgeht.

Bei der intensiveren Beschäftigung ist mir aufgefallen, wie stark das Libretto die Psychologie der Figuren betont. Das entspricht sehr meinem Zugang zum Regieführen, nämlich eine Welt aus den Figuren, aber auch aus ihren Widersprüchen zu erschaffen. Dabei kam die Idee auf, die Räume, die sich hinter den sieben Türen in der Burg befinden, nicht nur – wie im Libretto vorgesehen – über Lichtstrahlen zu erzählen, sondern ihnen eine »Seele« zu geben: durch die in der Burg gefangenen Seelen. Erst am Ende stellt sich heraus, dass die drei Tänzerinnen, deren Rollen zunächst geheimnisvoll bleiben, Blaubarts Gefangene sind.

BW Die Oper nimmt zwei Strömungen ihrer Entstehungszeit auf: die Psychoanalyse, also der Beschäftigung mit der Psyche eines bestimmten Menschen, und den Symbolismus, der von Konkretem abstrahiert. Was bedeuten die Türen vor diesem Hintergrund?

DV Die Türen stehen natürlich für Blaubarts dunkles Seelenleben, in das Judith Licht und Wärme zu bringen versucht. Aber en détail ist das gar nicht so klar, analog zur komplexen menschlichen Psyche. Sie sind in unseren Augen nicht einfach biographische Stationen Blaubarts, sie folgen keinem stringenten Programm. Wir sind daher schnell zu dem Schluss gekommen, dass jede Tür einer eigenen Logik gehorcht – Blaubart zeigt etwa bereits im Libretto manche bereitwillig vor, andere nicht. Wir haben versucht, die Essenz aus jedem Moment des Stücks herauszuziehen. Der Kontext des ganzen Stücks ergab sich dann aus den einzelnen Momenten heraus und nicht umgekehrt.

BW Wir sehen eine Paarbeziehung, die permanent zwischen Anziehung und Abstoßung changiert. Was treibt Blaubart und Judith an?

DV Eine besondere Herausforderung, vor allem natürlich für die Sängerin, ist Judiths erster Auftritt zu Beginn, denn wir wissen wenig über ihre Motivation, sich mit Blaubart einzulassen. Wir erfahren, dass sie zuvor einen Lebensplan hatte und heiraten sollte. Offenbar war ihr das nicht spannend genug, sodass sie mit Blaubart durchbrennt auf der Suche nach Intensität, wie es unser Bühnenbildner Markus Meyer treffend gesehen hat. Eine Art Angstlust fesselt sie an Blaubart, denn sie kennt die Gerüchte um ihn. Auch er selbst spricht das an und beruft sich damit im Stück auf das alte Blaubart-Märchen, demzufolge er seine drei ersten Frauen umgebracht hat – was bei Bartók ja anders ist: Hier versucht er sie zu »sammeln«, zu konservieren. Mit diesem Hinweis lässt er sie die Gefahr spüren und so beginnt ein Spiel aus Verlockung und Risiko.

Andererseits denke ich, dass Blaubart tatsächlich auf der Suche nach der wahren Liebe ist. Bei zu viel Nähe allerdings kehrt sich das um. Er hat offensichtlich eine Art Persönlichkeitsstörung, die ihn zum Täter macht, der die Frauen fängt und festhält: in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Das finale Bild von Eis und Kälte haben wir in Anspielung auf die Kryotechnologie gewählt, die durch Einfrieren versucht, ein Leben zu bewahren und bis in bessere Zeiten zu verlängern.

BW Judith könnte ja im Prinzip jederzeit gehen, wenn sie wollte. Wie siehst du ihr Verhalten in dieser Situation?

DV Lange konnte ich nicht nachvollziehen, warum sich Judith am Ende freiwillig in die Reihe der gefangenen Frauen einreiht. Sie gibt schließlich beim Machtpoker auf, ist völlig gebrochen und machtlos. Sie scheint sich ihm so sehr ausgeliefert zu haben, dass sie nicht mehr wegkommt.

Gerade das ist ein häufiger Widerspruch, wenn es um das Verhalten in toxischen Beziehungen geht: Menschen sehen keinen Ausweg, obwohl sie vernünftigerweise einfach die Koffer packen und die Beziehung beenden sollten. Stattdessen sind sie psychisch gefangen. Ab der Tür, hinter der sich der Garten befindet, geht es auch Judith so, weil Blaubart die Oberhand gewonnen hat. Am Anfang hat man das Gefühl, dass Judith die Seelenreise steuert; er vermittelt ihr dieses Gefühl, indem er sich selbst kleinredet. Damit entlockt er ihr immer stärkere Liebesbekundungen und macht sie umso abhängiger.

BW Wenn es sich um ein inneres Gefängnis handelt, wofür dann steht die Burg?

DV Die Burg ist eines der vielen Symbole, die das Stück aufruft. Für mich war es interessanter, von der Burg als konkretem Raum zu abstrahieren, um einen Seelenraum darzustellen. Im Stück wird das Gemäuer kaum beschrieben, es wird eher auf die ständige Dunkelheit hingewiesen. So wirkt die Burg auf Judith wie ein großes Geheimnis.

Neu ist in der Version, die wir hier für Saarbrücken erarbeitet haben, dass sich die Burg durch ein Tänzerkollektiv manifestiert. Man könnte die Tänzer als allegorische Gestalten bezeichnen, die keine konkrete Aufgabe im realistischen Sinn erfüllen, sondern analog zur Idee der Burg als Nicht-Ort abstrakte Wesen sind. Sie lassen die Ungreifbarkeit der Seelenzustände Gestalt werden.

BW Bartóks Musik ist eine Opernmusik, die sich sehr eng aus der ungarischen Sprache speist. Wie choreographiert man eine solche Musik?

DV Zunächst freue ich mich, in Saarbrücken endlich Bartóks große Originalbesetzung im Orchestergraben zu hören. Seine Musik erzählt, teils auch mit sehr spielerischen, fast folkloristischen Motiven, was unter der Oberfläche des Texts passiert. Außerdem schafft sie einen großen Gesamtbogen: Es gibt keine Unterteilung in Szenen, alles ist beständig im Fluss. Selbst Anfang und Ende der Oper markieren keine Zäsuren, sondern wirken, als hätte die Musik längst begonnen bzw. würde sich weiter fortsetzen. Ein geniales Stück!

Als Choreograph gibt es verschiedene Wege, Musik zu begegnen: Man kann die Musik in ihrer Struktur und Form im Tanz visualisieren, ihre Stimmung in tänzerische Bilder überführen oder ihr etwas ganz Eigenes, Komplementäres entgegensetzen. Ich habe in diesem Stück mit allen drei Wegen gespielt. Es gibt sehr konkrete Momente, in denen man die Musik zu sehen glaubt bzw. ihre Atmosphäre unmittelbar umgesetzt wird. Daneben existieren auch Passagen wie die des Tränensees hinter der sechsten Tür, in der sehr ruhige Musik auf hektische, schnelle Bewegungen der Tänzer stößt, die die latente Unruhe, aber auch Trauer der Szene zum Ausdruck bringen. Ebenfalls in der Choreographie wollte ich mir so die Freiheit bewahren, die Besonderheit eines jeden Moments ohne ein starres System darzustellen.