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IM KREISLAUF

Benjamin Wäntig Drei denkbar unterschiedliche Stücke an einem Abend – was sind die Herausforderungen bei der Erarbeitung, wenn man gleich drei Genres zu bedienen hat?

Wolfgang Nägele Eine der größten Herausforderungen war es für mich, zwischen den drei Stücken komplett umswitchen zu müssen und mit den Darsteller*innen, die mehrere Rollen in unterschiedlichen Stücken übernehmen, ebenso unterschiedliche Figurenprofile zu erarbeiten. Denn durch die Nebeneinanderstellung der Stücke müssen die Unterschiede der Genres umso deutlicher sichtbar sein: »Il tabarro« ist im Wesentlichen ein psychologisches Kammerstück mit drei Personen, »Suor Angelica« – zumindest in der zweiten Hälfte – quasi eine Soloperformance, »Gianni Schicchi« dagegen funktioniert als großes Ensemblestück, das sich durch Slapstick, Konstellationen vieler Figuren und Reaktionen aufeinander auszeichnet.

BW Trotz aller Unterschiede: Worin liegt für euch die Verbindung zwischen den drei »Trittico«-Einaktern? Wie geht ihr mit diesem besonderen Aufbau um?

Lisa Däßler Wir haben für die drei Stücke eine gemeinsame ästhetische Klammer gesucht. Das hatte zunächst auch pragmatische Gründe: Um nur eine Pause zu benötigen, müssen wir schnell von einem Bild ins andere wechseln können. So haben wir die Setzung getroffen, dass die drei Räume aus denselben Elementen bestehen, die in allen drei Stücken neu zusammengesetzt wiederkehren.

WN Die Stücke spielen in unterschiedlichen sozialen Schichten, teilen aber eine gemeinsame Welt. In »Gianni Schicchi«, das in der höchsten Klasse angesiedelt ist, sehen wir eine Inneneinrichtung, deren Bestandteile in »Tabarro« von Schrottsammlern aufgelesen werden, die den Wohlstandsmüll der Oberschicht verwerten. Die Stücke stehen so in einer Art Kreislaufbeziehung zueinander. Das haben wir auch durch kleine Verweise in den Stücken auf die jeweils anderen verstärkt. Beispielsweise tritt die Figur der Frugola, eine der Lumpensammlerinnen aus »Tabarro« noch einmal am Ende von »Gianni Schicchi« auf, wo sie die Objekte einpackt, die sie schon am Anfang gezeigt hat. Umgekehrt schleichen Rinuccio und Lauretta aus »Schicchi« als Amanti schon einmal kurz durch das »Tabarro«-Bild.

LD In unserer Bühnenwelt wird das Moment des Irdischen betont, selbst in dem eigentlich weltabgewandten Klosterbild. Wir befinden uns vielleicht nicht in einem streng logischen Kreislauf, aber alle Figuren dieser Welt müssen mit denselben Ressourcen umgehen.

BW Seht ihr auch thematische Verbindungslinien, die sich durch die Stücke ziehen?

WN Ja, ein gemeinsames Thema aller drei Stücke ist etwa die Leerstelle, die ein Verstorbener bei den Hinterbliebenen hinterlässt: Bei »Tabarro« und »Suor Angelica« ist es ein totes Kind, bei Gianni Schicchi ein gestorbener alter Verwandter. Die drei Stücken werfen jeweils entsprechend ihrer Genres ein anderes Schlaglicht auf dieses Thema.

LD Immer wieder wird daneben die Sehnsucht nach einer anderen Welt thematisiert: Giorgetta sehnt sich nach einem anderen, freieren Leben in Paris, das ihr weder ihr Mann Michele, noch ihr Geliebter Luigi ermöglichen können; die Nonnen sehnen sich nach der Außenwelt; die gierigen Verwandten in »Gianni Schicchi« sind nie zufrieden mit dem, was sie haben, sondern wollen immer noch mehr.

Der Mantel | Angelos Samartzis (Luigi) und Ingegjerd Bagøien Moe (Giorgetta) | Foto: Martin Kaufhold

WN Man könnte zusammenfassen: Es »menschelt« sehr in allen diesen drei Stücken. Wir sehen vielschichtige, berührende Figuren, die Puccini auch gerade in ihren Unzulänglichkeiten sehr genau gezeichnet hat.

BW Puccinis Opernästhetik ist stark dem Realismus verpflichtet, etwa strotzen seine Libretti vor detaillierten Regieanweisungen und kleinteiligen Aktionen. Empfindet ihr das bei der szenischen Umsetzung als ein Korsett, eine künstlerische Einschränkung?

WN Es stimmt, dass man weniger Freiheiten hat als bei anderen Komponisten. Ich finde es jedoch spannend, angesichts der Dichte an vorgegebenen Parametern eigene Lösungen zu finden. Wenn jemand »Reich mir die Flasche« singt, muss man sich bewusst entscheiden und begründen, wenn man szenisch etwas anderes macht. Die Herausforderung Puccini anzunehmen, heißt, sich an seinen Vorstellungen abzuarbeiten.

LD Ich habe versucht, zweigleisig zu fahren: auf der einen Seite Räume zu schaffen, die realistisch für Puccinis Spielsituationen funktionieren, auf der anderen Seite aber auf einer abstrakteren Ebene die erwähnte ästhetische Verklammerung ermöglichen.

Gianni Schicchi | links: Peter Schöne (Gianni Schicchi); rechts: Ensemble | Foto: Martin Kaufhold

Irina Spreckelmeyer Während sich das Bühnenbild mit dem Verlauf der drei Stücke kontinuierlich verändert, wollte ich im Kostümbild klar drei verschiedene Welten erzählen, die in diese Räume getragen werden. Ich sehe sie aber nicht realistisch im engeren Sinn, denn sie haben eine eigene Künstlichkeit oder ästhetische Überzeichnung. Die Arbeiterkluft in »Tabarro« ist keine realistische Milieustudie, zitiert höchstens ein paar konkrete Elemente; auch die Schickeria-Outfits à la Gucci in »Gianni Schicchi« zitieren nur einzelne Stücke und Stoffe. Daneben kommen analog zum Kreislaufgedanken im Bühnenbild bestimmte Elemente immer wieder vor, wie etwa die rote Strumpfhose.

BW Auch dein Nonnenhabit hat ja nicht die Kleidung eines konkreten Ordens zum Vorbild …

IS An dieser Klosterwelt interessiert uns vor allem die Vorstellung von Eingesperrtsein, von Enge, von Bestrafung. Die Kostüme der Nonnen sind eine vereinheitlichende Uniform, gleichzeitig aber auch körperbetont – anders als reale Ordenskleider – und bringen so doch Individualität zum Ausdruck. Darunter verborgen tragen sie rote Strümpfe als Zeichen ihrer geheimen Sehnsüchte. Außerdem war uns für den Orden die Ausstellung von Hierarchie wichtig.

Schwester Angelica | Valda Wilson (Suor Angelica) | Foto: Martin Kaufhold

WN Ich misstraue ja der vermeintlichen Idylle dieses Klosters, die Puccini anfangs in so liebliche und zärtliche Töne setzt. Dass dreimal im Jahr hereinscheinende Sonnenstrahlen und Johannisbeeren den Höhepunkt im Klosterleben darstellen, sagt viel über Verdrängung und Sublimierung der eigenen Wünsche der Nonnen aus. In diesem Kloster gibt es ein starkes System der Überwachung, die Nonnen sind ohne Privatsphäre zusammengesperrt – nicht unbedingt ein positiv konnotierter Ort. Und so verhalten sie sich auch: In dem Moment, als Angelica die Todesnachricht ihres Kindes empfängt, findet keine Solidarität seitens der anderen Schwestern statt; niemand fängt sie in ihrer Trauer auf.

LD Wir haben lange über das Finale von »Suor Angelica« mit Angelicas Wundererscheinung nachgedacht, die bei uns gerade nicht sichtbar in äußeren Zeichen, sondern nur in ihrem Kopf stattfindet, dadurch aber umso härter und eindringlicher wirkt.

BW Nach dem einheitlichen Nonnenorden tritt in »Schicchi« eine vielköpfige Verwandtschaft auf, deren Mitglieder in der rasanten Komödie schnell austauschbar wirken können. Wie gewinnen sie individuellere Züge?

IS Eine Verwandtschaft setzt sich ja immer aus verschiedenen Typen und Charakteren zusammen. Das Libretto enthält in diesem Fall nicht nur allgemeine Charakterisierungen bereit, sondern sogar konkrete Altersangaben. Mit diesen Informationen und dem, was unsere Darsteller*innen mitbringen, habe ich versucht, möglichst unterschiedliche, überzeichnete Figuren zu kreieren – eine breite Form von »Bekleidungslandschaft«, damit man alle klar voneinander unterscheiden kann. Gleichzeitig sind viele Details wie Zitas übergroße Brille oder Marcos extravagante Frisur auch Spielangebote, die unsere Darsteller*innen toll nutzen.

WN Wir haben auch viel über Biografien der Figuren gesprochen, die über das eigentliche Stück hinausgehen. Gerade die zwei Paare Ciesca–Marco und Nella–Gherardo können etwas indifferent geraten. Erstere sind bei uns ein neureiches Yuppie-Paar aus der Kleinstadt, letztere ungleicher: Sie baut einen Erwartungsdruck auf, dem er nicht gerecht werden kann. An solchen Geschichten im Hintergrund zu arbeiten, hat uns allen viel Spaß gemacht.

Gianni Schicchi | Doris Lamprecht (Zita); Algirdas Drevinskas (Gherardo); Peter Schöne (Gianni Schicchi); Bettina Maria Bauer (Nella); Carmen Seibel (La Ciesca) und Max Dollinger (Marco) | Foto: Martin Kaufhold

BW Wir haben zwei Stücke über den Tod, den die Figuren nicht verarbeiten können, die Komödie aber endet mit einem Generationenwechsel und der Aussicht auf eine Zukunft. Auch der Puccini von 1918 stand künstlerisch zwischen diesen zwei Polen: der großen Tradition der italienischen Gesangsoper und dem nostalgischen Bewusstsein darüber, dass die an ein Ende gelangt war, und der Bewunderung der längst aufgekommenen Moderne. In »Il trittico« finden wir beides …

LD Dass Puccini am Ende sogar die vierte Wand einreißt, indem er Schicchi seinen Schlussmonolog ans Publikum richten lässt und so das Spiel als solches entlarvt, ist für seine Zeit tatsächlich etwas Besonderes.

WN Einerseits kam Puccini aus seiner Tradition nicht heraus, wollte es auch nicht unbedingt, aber versuchte trotzdem einen künstlerischen Spagat: Der Einbau von Alltagsgeräuschen oder auch das ironische Selbstzitat aus »La Bohème« in »Tabarro« sind deutliche Zeichen, dass er sich der allgemeinen und künstlerischen Umwälzungen seiner Zeit bewusst war und sich künstlerisch immer weiterentwickeln wollte.

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Warum ein FSJ in der Dramaturgie?

»Was denkst du, sind die Aufgaben einer Dramaturgin?« hieß es in meinem Bewerbungsgespräch Anfang Mai, zu dem ich aufgeregt und mit frisch beendeten schriftlichen Abiturprüfungen erschienen war. Zugegeben, eine naheliegende Frage, wenn man sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Dramaturgie bewirbt. Und trotzdem gar nicht so leicht zu beantworten. »Der Dramaturg ist ein kleiner König, denn ohne ihn läuft am Theater nichts«, heißt es in einem Beitrag von Christian Gampert für die Reihe »Endlich mal erklärt« des Deutschlandfunks. Doch was sind dann Krone und Mantel, Zepter und Reichsapfel für die Dramaturg*innen?

Nach meinen ersten Tagen hier maße ich mir an, für mich selber schon eine Ahnung davon zu haben. Die Krone der dramaturgischen Aufgabenfelder besteht in meinen Augen (Ich bekenne mich schuldig: Es sind die Augen einer Leseratte…) aus dem Lesen und Auseinandersetzen mit Dramen und Texten aller Art. Was gibt es denn Verlockenderes, als bei seiner Arbeit ab und zu einfach in eine andere Welt einzutauchen? Mit Sicherheit nicht immer eine, die schöner ist als die echte, aber eine, die Bilder in den Kopf malt, die es dann später auf der Bühne umzusetzen gilt.

Zepter und Reichsapfel könnte man mit dem Zuschauen bei Proben, dem Schreiben von Programmheften und Ähnlichem vergleichen. Ebenfalls zwei Tätigkeiten, die mich an der Ausschreibung gereizt haben und Grund für meine Bewerbung waren.

Und der Mantel? Um in diesem etwas kitschigen Bild zu bleiben, würde ich den Mantel eines Königs als den Kontakt zu gleichgesinnten, theaterfaszinierten Menschen sehen, den ein Dramaturg/eine Dramaturgin durch seine/ihre Kommunikation mit den Personen auf, vor und hinter der Bühne hat. Ein ziemlich vielseitiger Job also.

Ob irgendwas von dem, was ich hier geschrieben habe, nach den wenigen Stunden, die ich bislang an meinem Schreibtisch in der Schauspieldramaturgie verbracht habe, Hand und Fuß hat? Mit Sicherheit nicht. Aber ich bin ja auch noch keine Königin (es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch viele Frauen im Berufsfeld Dramaturgie tätig sind), nicht mal eine kleine. Sondern nur so etwas wie eine Besucherin, die mal ausprobieren will, wie es sich in einem Schloss lebt, um vielleicht selber irgendwann eins zu bauen. Und so lange es noch nicht so weit ist: Zuschauen, mitmachen und lernen, denn das ist, was ein FSJ einem ermöglicht. Ich jedenfalls freue mich, mich diesen drei Disziplinen in Zukunft weiter zu widmen.

Eure Lenke

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»Journal einer FSJlerin«

28. August 2023 – Während für alle Schulkinder im Saarland dieser Tag noch in den Ferien liegt, heißt es im Saarländischen Staatstheater wieder: an die Arbeit! Oder um es im Theaterjargon zu sagen:»Schöne neue Spielzeit!«. Dementsprechend sollen alle Neuen im Team des Staatstheaters feierlich begrüßt werden und so heißt es auch für mich um kurz nach zehn: auf in den Zuschauerraum, um zuzuhören wie Kultusministerin Christine Streichert-Clivot, Generalintendant Bodo Busse und der Kaufmännischer Direktor Prof. Dr. Matthias Almstedt ihre Gedanken zur neuen Spielzeit teilen, die altbekannten Gesichter begrüßen und die Neuzugänge im Theater herzlich willkommen heißen.

Die saarländische Ministerin für Bildung und Kultur Christine Streichert-Clivot bei der Begrüßung im Großen Haus. Foto: ©Honkphoto

Die saarländische Ministerin für Bildung und Kultur Christine Streichert-Clivot bei der Begrüßung im Großen Haus.  Foto: ©Honkphoto

Zu letzteren gehöre ich als neue Freiwilligendienstlerin in der Dramaturgie auch. Dennoch bin ich überrascht, als ich auf einmal auf die Bühne gerufen werde und zwischen neuer Souffleuse, neuen Sänger*innen und Tänzer*innen und anderen neuen Kollegen und Kolleginnen auf der Bühne stehe. Kaum bin sind wir im neuen Arbeitsumfeld angekommen und schon stehen wir Neulinge im Rampenlicht – aber so ist das wohl am Theater.

Mit »Daumen hoch« startet Generalintendant Bodo Busse in die Saison 23/24. Foto: ©Honkphoto

Insgesamt herrscht eine aufgeregte Stimmung, nicht nur aufgrund des hohen Besuchs aus dem Kultusministerium, sondern auch, weil es sich für mich ein bisschen anfühlt, wie der erste Tag in einer neuen Klassenstufe – wer sich schon kennt, freut sich über das Wiedersehen und wer neu ist, blickt gespannt und vielleicht ein bisschen ängstlich der Zukunft entgegen. Aber hier ist es dieses »gute Ängstlichsein«, bei dem man eigentlich schon weiß, dass sich alles so fügen wird, wie es soll. Und damit bleibt mir nicht mehr zu sagen als: Auf eine schöne neue Spielzeit!

Eure Lenke

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Auf ein Wort Im Gespräch mit … Theaterblog

Fragen an ULRICHSundGROSCHEN

In eurem Stück »Der lange Weg zum Wissen« geht es um Apollo 11 und die erste bemannte Mondlandung von 1969. Was interessiert euch an diesem Stoff?

Wir sind zwei dreißigjährige Frauen. Das bedeutet, dass wir mit diesem Ereignis, dass wir da ausgewählt haben, über etwas sprechen, was wir selbst nicht miterlebt haben. Wir greifen auf Erinnerungen zurück, die nicht unsere sind. Die Mondlandung ist ein historisches Ereignis und emotional sehr aufgeladen. Menschen, die wir kennen, die älter sind als wir, erzählen uns davon, wie sie die Mondlandung erlebt haben. Das hat uns interessiert und bildet schon den Kern der Frage, die uns überhaupt zum Schreiben dieses Stücks gebracht hat: Wie konstituiert sich Wissen?
Gerade die Mondlandung ist ja ein Ereignis, bei dem jeder auf der Welt hundertprozentig Mensch sein darf, auch die, denen man das sonst vielleicht abspricht, denn es heißt ja: Wir waren auf dem Mond. Der Mensch ist dazu in der Lage! Und die Freude und das Staunen darüber darf von allen Menschen auf der Welt geteilt werden. Das ist natürlich total zu hinterfragen, schließlich war die Mondlandung Teil der Dynamik des Kalten Kriegs aus Wettrüsten, Drohgebärden und vorgetäuschter Stärke. Aber uns hat interessiert, welche Rolle das kollektive Gedächtnis einnimmt, bei der Bereitstellung von Wissen.

Ihr geht das Thema sehr phantasievoll und spielerisch an. Die Astronauten sind fast kindliche Wesen, die mit ihrem eigenen Gehirn sprechen und versuchen, sich nicht von ihren Ängsten überrollen zu lassen. Gleichzeitig sind in den Text wissenschaftliche Erkenntnisse und Fakten eingeflochten.

Jaja, wir sind neugierige Frauen. Wir versuchen, uns selbst immerzu in Verbindung zu bringen mit dem Wissen, der Welt und dem Theater.

Foto@Timotheé Deliah Spiegelbach

Den Mythos der Mondlandung verbindet man vor allem mit dem Astronauten Neil Armstrong, der als erster Mensch den Mond betreten hat. Die Namen der beiden anderen Astronauten gerieten in Vergessenheit. Im Hintergrund der Mission agierten Personen, deren Namen heute kaum geläufig sind. Wird eurer Meinung nach das Narrativ, das zu Ereignissen im kollektiven Gedächtnis abgespeichert wird, gesellschaftlich gesteuert? 

Der Ausdruck „gesellschaftlich gesteuert“ ist etwas heimtückisch. Da vermutet man ja direkt eine Verschwörungstheorie oder -Praxis. Aber wir sind ja die Gesellschaft, auch. Wir sind eine Masse von kleinen Menschen mit fehlerhaften Gedächtnissen.
Und leider ist es so, dass sich das Wissen über Epochen und Ereignisse verengt, und bestimmte Ereignisse an einzelnen Personen festgemacht wird. Ein Narrativ entspringt ja aus einer Geschichte. Und beim weiter Erzählen der Geschichte gehen oft leider einige Details verloren. Stille Post sozusagen. Das ist natürlich ärgerlich, wenn man auf die sogenannte Wahrheit aus ist, aber zunächst steckt da kein böser, kleiner Mensch mit einer großen, bösen Absicht dahinter. Wir finden aber: Narrative hinterfragen ist eh eine gute Sache, wir hinterfragen im »Langen Weg zum Wissen«  aber nicht unbedingt das historische Narrativ, sondern das Narrativ im Zusammenhang von Glücklichsein und Fortschritt.
Es geht auch um das Vergessen, das ein natürlicher Prozess ist, den man natürlich trotzdem verfluchen und bedauern kann. Aber das Wissen geht ja nicht verloren, nur der Zugang zu den Informationen, der Weg zum Wissen bricht ab oder geht verschüttet. Aber früher oder später kommt irgendein Kamel und frisst das Gras herunter, das über die Sache gewachsen ist. In der Hinsicht hat das kollektive Gedächtnis auch utopisches Potenzial.

Ihr nennt euch »Kollektiv für angewandte Literatur«.  Was kann man sich darunter vorstellen?

Zwei Frauen, die ihre Gehirne aneinander reiben, daraus entstehen Texte und die streuen wir uns auf die Hände und daraus machen diese Hände dann was auf Papier Oft tragen wir das dann ins Theater, manchmal vertonen wir sie oder machen aus ihnen Film. Auf jeden Fall wenden wir es an, denn Literatur, und das wissen viele nicht, kann man wunderbar ANWENDEN.
Bald wollen wir sie auf Servietten drucken für Serviettentechnik.

Wie schreibt man gemeinsam Texte?

Man nehme zwei Frauen, die ganz viel reden. Und die in ihrem endlosen Diskurs dann an einen Punkt kommen, an dem sie absolut nicht mehr weiterkommen. Die dann nach Hause gehen müssen, in die Tasten hauen müssen, um diesen toten Punkt einzukreisen wie einen Punkt, der tot ist. Und dann findet man da Krümel in diesem toten Punkt und aus dem entsteht ein Kunststoffstab zum Hochsprungshochleistungssport.

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Sommerliche Literaturtipps aus der Dramaturgie

»Memoiren« von Tennessee Williams

Chefdramaturg Horst Busch verweist in seiner Lektüreempfehlung auf die kommende Spielzeit:

Die »Memoiren« von Tennessee Williams mal wieder aus dem Bücherregal zu holen oder sich antiquarisch zu besorgen, das lohnt sich. Was für eine spannende Lektüre über das Leben dieses Autors und sein dramatisches Schaffen! Ich freue mich schon jetzt auf die Eröffnungspremiere »Endstation Sehnsucht« am 16. September im Großen Haus des Saarländischen Staatstheaters.

Zeruya Shalev: »Schicksal«

Musiktheaterdramaturg Benjamin Wäntig empfiehlt den Roman einer großen israelischen Schriftstellerin:

Erst im Nachklapp einer Reise nach Israel im letzten Sommer habe ich »Schicksal«, den neuesten Roman von Zeruya Shalev, gelesen, der viele meiner Eindrücke in neuer Weise vertieft hat. Sie verwebt eine bisweilen etwas larmoyant erzählte Familiengeschichte – aber in den richtigen Momenten mit großer Nüchternheit – mit den verdrängten Widersprüchen der israelischen Gesellschaft und Geschichte. Ein komplexes Buch über ein komplexes Land, aber gerade deshalb lohnenswert.

Mithu Sanyal: »Identitti«

Und Ballettdramaturg Klaus Kieser schlägt eine köstliche Auseinandersetzung mit einem Thema der Zeit vor:

Was passiert, wenn sich eine (hellhäutige) Deutsche als Inderin ausgibt, um so zur Professorin für Postcolonial Studies aufsteigen zu können – und dann demaskiert wird? Mit großer Lust am verbalen Schlagabtausch lässt uns die deutsch-indische Journalistin Mithu Sanyal in ihrem ersten Roman »Identitti« teilhaben an den Hysterisierungen der gegenwärtigen Gesellschaft. Hier bekommt jede Position ihr Fett weg.

Stefan Moster: »Die Unmöglichkeit des vierhändigen Spiels«

Marketingchefin Ines Schäfer begibt sich auf eine literarische Kreuzfahrt voller überraschender Wendungen:

Vor Monaten sind Mutter und Sohn im Streit auseinandergegangen. Seither: Funkstille. Nun befinden sich beide, ohne es zu ahnen, auf demselben Kreuzfahrtschiff: Sie als Bordpsychologin, er als Barpianist … Wie es Stefan Moster in seinem Roman »Die Unmöglichkeit des vierhändigen Spiels« schafft, zwischenmenschliche Beziehungen, deutsch-deutsche Geschichte, Flüchtlingsschicksale und die Liebe zur Musik miteinander zu verknüpfen, ist geradezu meisterhaft. Spannend von der ersten bis zur letzten Seite – ein Buch, das ich immer wieder gern lese!

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Das Saarländische Staatstheater aus seltener Perspektive!

Das Saarländische Staatstheater aus seltener Perspektive!

Das Saarländische Staatstheater bietet Studierenden immer wieder Praktika an, um die in der Regel sechs- bis achtwöchige Arbeit an einer Inszenierung von der ersten (Lese-)Probe bis zur Premiere kennen zu lernen.

Diesmal haben drei Schüler*innen die Möglichkeit bekommen ein Praktikum am Saarländischen Staatstheater zu machen. In diesem Artikel berichten sie von ihren Erfahrungen.

Das Saarländische Staatstheater bietet Studierenden immer wieder Praktika an, um die in der Regel sechs- bis achtwöchige Arbeit an einer Inszenierung von der ersten (Lese-)Probe bis zur Premiere kennen zu lernen.

Diesmal haben drei Schüler*innen die Möglichkeit bekommen ein Praktikum am Saarländischen Staatstheater zu machen. In diesem Artikel berichten sie von ihren Erfahrungen.

Franz – Praktikum im Orchesterbüro

Ich heiße Franz Schug, 14 Jahre alt, und bin in der neunten Klasse der Marienschule. Ich habe im Januar 2023 mein Praktikum im Saarländischen Staatstheater gemacht. Ich war in der Abteilung Orchesterbüro und Notenbibliothek eingeteilt und habe bei der Orchestertechnik geholfen.

Was mich beim Theater besonders begeistert hat, ist, wie viel Technik und wie viele Leute benötigt werden, um einen geschmeidigen Theaterbetrieb zu gewährleisten. Das ganze Theater besteht aus einem Netz von verschiedenen Tätigkeiten, die am Ende zu einem Mosaik zusammengesetzt werden, und bei dem kein Steinchen fehlen darf. Das merkt man als Zuschauer einer Vorstellung überhaupt nicht, und genau das ist ja auch gewollt.

Wenn man dann aber hinter die Bühne geht, wuseln überall Leute herum, und jeder sitzt an seiner individuellen Aufgabe. Da sieht man wieder, wie viel Arbeit und Mühe hinter einer Vorstellung stecken. Was mich erstaunt hat, ist, wie groß der ganze Bühnenbereich ist. Wenn man von der Bühne in den Zuschauerraum schaut, sieht der plötzlich so klein aus. Generell ist das ganze Theater ein Irrgarten aus vielen Gängen, Türen und Treppenhäusern. An meinem vorletzten Tag hat der Orchestertechniker Klaus Schaan mich noch einmal durch das gesamte Theater geführt. Ich hatte vorher schon ein paar Führungen und dachte, ich hätte alles gesehen. Doch dann öffnete Klaus eine Tür, und dahinter kam ein Gang mit mindestens 30 weiteren Türen, einem Treppenhaus und gefühlt einem zweiten Theater zum Vorschein.

Alles in allem war mein Praktikum eine echt tolle Erfahrung und hat mir Einblick in eine ganz andere Welt verschafft. Besser gesagt zwei Welten: Eine künstlerische Welt und eine organisatorische Welt, die im ersten Moment gar nicht zusammenzupassen scheinen, sich aber wie Zahnräder verzahnen und damit ein einmaliges (Besucher-)Erlebnis ermöglichen. Vielen Dank für diese schönen und unvergesslichen Wochen!

Alva und Pauline – Praktikum in der Theaterpädagogik

Hallo, wir sind Pauline (15) und Alva (15) und haben unser Praktikum im Januar 2023 am Saarländischen Staatstheater gemacht. Wir waren sehr zufrieden und möchten davon erzählen.

Um genau zu sein haben wir unser Praktikum in der Theaterpädagogik gemacht. In dieser Zeit durften wir verschiedene Aufgaben erledigen: Beispielsweise durften wir in verschiedensten Proben dabeisitzen, soufflieren, aber auch bei wichtigen Versammlungen oder Betriebsratssitzungen zuhören, Blumen für die Produktion „Oh, Mama!“ in der sparte4 gießen, bei theaterpädagogischen Nachbereitungen von Stücken helfen. Außerdem wir haben eine ausführliche Führung durch das Haus bekommen.

Was uns sehr gefallen hat war, dass wir jeden Tag verschiedenste Aufgaben und Tätigkeiten wählen konnten, sodass es uns möglich war in jeder Abteilung (Musiktheater, Ballett, Schauspiel, Technik, usw.) einen kleinen Einblick zu erhalten und auch viel über das Haus und die Mitarbeiter*innen zu lernen. Schön war, dass wir uns immer äußern konnten, was wir gerne noch machen würden und was uns interessiert. Man lernt unglaublich viel dazu und es herrscht ein sehr angenehmes Klima: Nie hatten wir das Gefühl irgendwo unerwünscht zu sein, z.B. in einer Probe. Eher im Gegenteil, wir wurden direkt begrüßt und unterstützt. Jeder ist hilfsbereit und aufgeschlossen. Deshalb sind wir auch sehr dankbar, dass wir diese Zeit dort verbringen durften, da wir so viel lernen konnten über die Vorgänge und Abläufe die man als Zuschauer so gar nicht mitbekommt.

Wir haben die Zeit hier sehr genossen, weil das Staatstheater kreativ, offen, bunt und vielseitig ist.