»Ich liebe es. Ich liebe es, ich liebe es, ich liebe es. Ich liebe es. Meine Mutter liebte es und jetzt liebe ich es.«
Frühmorgens am See: Voller Vorfreude beginnt Anglerin1 ihren Tag. Da taucht Anglerin2 auf. Ungewöhnlich, unhöflich, fast unheimlich, denn eigentlich angelt es sich doch am besten allein. Aber schnell merkt Anglerin1: Anglerin2 ist ebenfalls ein waschechter Profi! Beide angeln schon ihr Leben lang an genau diesem See, nur an verschiedenen Angelplätzen. Und sie haben sogar denselben Lieblingsköder! Sie plaudern über das beste Equipment und ihre Mütter und Großmütter – selbstverständlich auch leidenschaftliche Anglerinnen, die ihr Wissen seit Generationen an ihre Töchter tradieren. Und das Fischen ist nicht nur Passion, es dient dem Lebensunterhalt der Familie!
Nicht lange, und die beiden offenbaren sich sorgsam gehütete Geheimnisse. Anglerin2 hat seit einem Jahr nichts mehr gefangen, und Anglerin1 erfährt, dass Angelregel Nummer 3, an die sie ihr gesamtes Leben geglaubt (»Keine Profi-Anglerin darf mehr als 55 Kilo wiegen.«), ja die sogar ihr ganzes Leben bestimmt hat, eine Lüge ist. Eine Lüge ihrer Mutter und Großmutter. Beide sind erschüttert in ihren Anglerinnen-Grundfesten.
»Sollten Sie heute noch fangen, dann ist alles ganz wunderbar und die Limitierung Ihrer Lizenz verfällt. Wenn nicht, tragen Sie leider offiziell nichts Relevantes zu unserer Gesellschaft bei und Sie wissen, was Ihnen dann blüht?«
Und dann gibt es da auch noch den Bootshausverleiher. Der ist unheimlich mitteilsam und stört die beiden permanent. Doch damit nicht genug! Er hetzt den beiden Anglerinnen die Fischereiaufsicht auf den Hals. Und die sagt klipp und klar: Entweder die Anglerinnen fangen heute noch was, oder sie verlieren ihre Angellizenz. Womit der Bootshausverleiher allerdings nicht gerechnet hat: Die Fischereiaufsicht hält nicht nur Auflagen für die Anglerinnen parat, auch er selbst kriegt Butter bei die Fische – er muss sein Haus abbauen, es ist zu nah am Wasser gebaut. Zu allem Übel zieht nun auch noch ein Sturm auf… Gelingt es den beiden Angelrinnen, einen Fisch zu landen? Am besten sogar einen Urzeitfisch?!
»Wie schade, dass mein Lebensziel nicht der glücklichste Tag ist, sondern der URZEITFISCH.«
Was als harmlose Angel-Plauderei mit kleinen, feinen Fangfragen beginnt, lässt bald in die tiefsten Tiefen der See(le) blicken. Bleibt man immer Kind seiner Eltern? Wie kann man sich von den Wünschen und Prägungen durch Erziehung und Umwelt, von einem »Das haben wir schon immer so gemacht!« lossagen? Wie geht man trotz (Versagens-)Ängsten seinen eigenen Weg? Welche Traditionen und Geschichten lohnen sich zu bewahren, und von welchen kann man sich getrost verabschieden? Wie gehen Frauen miteinander um, wenn es um persönliche und berufliche Selbstverwirklichung geht? Wie dem Erwartungsdruck entgegentreten, den die Gesellschaft an Frauen richtet – erwerbstätig zu sein und gleichzeitig Mutter, und darüber natürlich auch noch stets glücklich? Und am besten mit Idealgewicht.
Der Text von Noëlle Haeseling steckt voller Symbole und Doppelbödigkeiten, die Regisseurin Theresa Thomasberger in ihrer Inszenierung fein auslotet. Irgendetwas ist anders, merkwürdig, fast unheimlich an diesem Kosmos der Anglerinnen, der auf den ersten Blick so harmlos scheint. Es sind nicht nur die umgekehrten Vorzeichen der binären Geschlechterwelt, mit denen absurd und äußerst humorvoll jongliert wird – es sind die Figuren, hinter deren arglosem Geplauder immer noch etwas mehr steckt. Jede*r hat ein Geheimnis, das unter der Wasseroberfläche des Sees, unter dem Nebel, schlummert. Das Geheimnisvolle, Traumhafte à la David Lynch und »Twin Peaks« waren nicht nur für die Kostüme von Mirjam Schaal, sondern auch für die Musik von Oskar Mayböck große Inspiration. Das Bühnenbild (ebenfalls von Mirjam Schaal): Zwei vereinzelte Steine für zwei vereinzelte Anglerinnen, dazu ein Bootshaus, in dem sich der Bootshausverleiher nahezu verbarrikadiert – Sozialkontakte, der Umgang mit dem Gegenüber, scheinen die Protagonisten zu überfordern.
»Es kommt gar nicht auf die richtigen Gedanken beim Warten an. Es kommt darauf an, ob im See noch Fische sind oder nicht.«
Die beiden Anglerinnen warten. Warten auf Fisch. Der Fang des Urzeitfisches, »sehr gruselig und sehr mysteriös«, ist es dann auch, der das Leben an Land endgültig ins Wanken bringt. Als Verkörperung von Geschichte und Tradition kommt er aus der Tiefe des Sees und macht die tiefen Ängste, Sehnsüchte und Zweifel der Figuren sichtbar. Anglerin1 sieht sich mit einer Lüge konfrontiert, die sie an allem zweifeln lässt, aber schließlich eine Weiterentwicklung ermöglicht. Anglerin2 ist die Freude am Angeln vergangen, weil alles immer Sinn und Zweck haben muss. Versagensängste blockieren sie – sie kann sich nicht befreien vom Erwartungsdruck ihrer Familie, den besten Fang zu landen. Doch wie lange lohnt es sich zu warten? Wann muss man akzeptieren, dass man nicht erreicht, was man sich vorgenommen hat?
»Mein Vater zum Beispiel war Lyriker, mit Fangen, Auswerfen, Warten, Betäuben und ähnlichen Kompetenzen hatte er nichts am Hut.«
Entstanden ist das Stück, weil Haeseling auffiel, dass Männer an Theatern öfters »einen kleinen lustigen Abend über irgendein cooles Hobby machten«, während von als weiblich gelesenen Personen erwartet wird, sich mit explizit feministischen Themen auseinanderzusetzen. Um sich davon zu befreien und auch als Frau über »geilen Scheiß« schreiben zu können, »der einfach Spaß macht«, fiel die Wahl auf die Verbindung von Frauen und dem für Haeseling urmännlichen Hobby Angeln. Und diese Anlage offenbart viel Potenzial, um die binären Geschlechterrollen auseinanderzunehmen: Hier sind die Frauen die Brotverdienerinnen. Man wünscht sich eine Tochter als Angel-Kumpanin und ist traurig über die Geburt eines Sohnes. Und allein schon die Geburt ist nicht der schönste Tag des Lebens, weil er mit zu vielen Schmerzen verbunden ist. Der erste Knoten gerät zum Initiationsritus wie die erste Menstruation – wegen dem frau sich vor dem Vater schämt. Der Vater überhaupt, er erscheint hier als »nie so besonders kompetent«, mit Angeln kennt er sich gar nicht aus, deswegen sucht man auch keinen Rat bei ihm. Auch der Bootshausverleiher versteht nichts vom Angeln und ist »ein wenig zu einfach gestrickt«. Er trägt sein Herz auf der Zunge, und sein Haus ist »zu nah am Wasser gebaut«, wie er selbst. Brauchen Boote (Männer) überhaupt ein schützendes Haus (Patriarchat), wenn es in ihrer Natur liegt, ihr Leben lang mit Wasser (Personen m/f/d) in Berührung zu sein? Auf jeden Fall muss er es abbauen, und dieser Abbau steht vielleicht für die zentrale Frage des Stücks in Bezug auf heutige Gender-Diskussionen: Muss man erst alles abreißen, damit etwas Neues entstehen kann? Und nicht nur im Umgang zwischen Mann und Frau oder zwischen Anglerin1 und Anglerin 2, auch allgemeingültig steht die Frage: Wie kann frau/man ein Miteinander ohne ein Gegeneinander gestalten?
Gesa Oetting