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Hinter dem Vorhang Theaterblog

Geisterspiel am Saarländischen Staatstheater

Gedanken zu der wegen des Lockdowns nicht stattgefundenen Schauspielpremiere »Eine kurze Chronik des künftigen Chinas« von Pat To Yan in einer Inszenierung von Moritz Schönecker am Freitag, den 6. November in der Alten Feuerwache.

Wir sind keine Roboter, wir brauchen Publikum!

Freitag, 6. November 2020. Für heute haben wir die Europäische Erstaufführung des Stückes »Eine kurze Chronik des künftigen Chinas« von Pat To Yan in der Regie von Moritz Schönecker angekündigt. Pünktlich um 19.30 Uhr findet die Vorstellung in der Alten Feuerwache auch statt, aber bis auf Mitarbeiter des Staatstheaters und ein Kamera-Team des SR gibt es keine Zuschauer, obwohl die Premiere seit Wochen ausverkauft war.

Wegen des neuen Lockdowns musste das Kassenpersonal alle Zuschauer wieder ausladen und auf einen späteren noch völlig ungewissen Premierentermin vertrösten. So fand an diesem Freitagabend ein Geisterspiel im doppelten Sinne statt, denn in dem Spiel um Vergangenheit und Zukunft, dem Kampf um Demokratie und künstlicher Intelligenz, melden sich auch Geister zu Wort, nicht wirklich zu Wort, aber sie lassen die Wände wackeln und klagen so ihr Daseins-Recht ein. Es sind die Ahnen, die die Lebenden an ihre Verantwortung für ihr Handeln und somit auch an ihre Schuld an Krieg und Zerstörung, an Flucht und Vertreibung erinnern. Was für ein Sinnbild!

Ensemble im Bühnenraum von Benjamin Schönecker.

Aber »Eine kurze Chronik des künftigen Chinas« ist auch die Geschichte einer Liebe zwischen einem Mann und einer Tänzerin. Doch mit dem gemeinsamen Kind kommen die Fragen an die Zukunft. In welcher Welt wird ihr Sohn leben oder einst gelebt haben? Denn die Zeit ist (in diesem Stück) flüchtig. Dahinter steht die buddhistische Vorstellung vom ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen: Samsara, das »beständige Wandern«.

Auf der Flucht in den Süden (Hongkong) kommt es zu einem Zwischenfall.

So wird in diesem traumhaften Stück die Reise eines jungen Mannes, um den letzten Wunsch seines verstorbenen Vaters zu erfüllen, zur Erkenntnisreise seiner eigenen Geschichte und seines Daseins. Es ist die poetische Zeugenschaft dieses so genannten »Außenstehenden«, der sowohl von dem Kampf um Freiheit und Demokratie gegen die kommunistische Zentralregierung in China erzählt, als auch von den Machenschaften einer Vernetzungsmacht, die sich »Zugang durch biophysische Systeme und Nanotechnologien auch in das Innerste des Menschen« verschafft, wie es die Autoren Paul Nemitz und Matthias Pfeffer in ihrem Buch »Prinzip Mensch« beschreiben.

Das Ensemble als »Roboter« in Kostümen aus Reissäcken entworfen von Veronika Bleffert.

Doch Pat To Yan, dessen Fantasie an der bitteren Wirklichkeit der Regenschirmbewegung in Hongkong geschult ist, hat kein Dokumentarstück geschrieben, sondern vielmehr ein hochpoetisches Traumstück in dem neben Geister auch Roboter und zu Leben erweckte Puppen eine Rolle spielen. Dahinter immer die Fragen nach Anpassung und Widerstand, bzw. wer nutzt welche Möglichkeiten für welche Interessen und wie zynisch und verlogen verhalten sich dabei so manche Heilsversprecher?

So singt ausgerechnet »Das Mitglied der politischen Partei«, denn auch solche Figuren finden sich in dem Stück von Pat To Yan:

»Just look to me, I could save your soul

 …

You wanna feel happy, I’ll make you feel happy

every day after day after day!«

Jan Hutter als »Das Mitglied der politischen Partei« und Gaby Pochert als »Antigone«.

Am Ziel der fantastischen Reise in die eigene Vergangenheit trifft der Sohn scheinbar auf seine Eltern, doch es sind nur Erscheinungen, Schatten eines Theaters, Roboter und Puppen, die sich selbst genug sind und kein Publikum brauchen.

Doch wahre Kunst braucht die Auseinandersetzung und das Theater seit jeher ein Gegenüber, eine demokratische Öffentlichkeit, das Publikum!

Denn Theater ist mehr als eine Freizeitaktivität! Theater ist die spielerische Reflexion von Gesellschaft mit all ihren Problemen! Theater hat einen Bildungsauftrag, reflektiert unsere Geschichte und spielt mit Zukunftsvisionen. Theater kann Mut machen, Dinge zu verändern.

Theater lädt ein, Bezüge zum eigenen Leben herzustellen. Es kann hinter einer scheinbaren Wirklichkeit führen und dem Geheimnisvollen, dem Surrealen sein Recht geben.

Verena Bukal als »Die Katze mit dem Loch« und Silvio Kretschmer als »Der Außenstehende«.

Wie der »Außenstehende« im Stück kann Theater poetische Zeugenschaft ablegen und mit einer Fantasie, die an der Wirklichkeit geschult ist, spielen.

Auch wenn wir versuchen auf digitalem Wege – wie u.a. in diesem BLOG – mit unserem Publikum in Kontakt zu bleiben, kann wahres Theater immer nur live stattfinden!

Horst Busch,
Chefdramaturg

Martin Struppek als »Kakerlake« allein mit ihren Robotern (Ensemble).

LESETIPPS:

Paul Nemitz und Matthias Pfeffer: »Prinzip Mensch. Macht, Freiheit und Demokratie im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz«. Berlin, 2020.

Kai Strittmatter: »Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert«. München, 2018.

Carolin Emcke: »Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit«. Frankfurt am Main, 2013.

© Fotos: Martin Kaufhold.