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Theaterblog

»Eine Puppe kann eigentlich alles.«

Larissa Jenne über ihre Arbeit als Puppenbauerin, die Puppe für »Die Glücklichen und die Traurigen« und nachhaltige Materialnutzung im Theater

Du hast Bühnen- und Kostümbild studiert, wie bist du zum Figurenbau gekommen?

Ich habe in meiner Studienzeit bei der Langen Nacht der Theater in der Schaubude Berlin ein Figurenstück für Erwachsene gesehen. Ich saß mit offenem Mund da und war völlig ins Stück eingetaucht. Das war so ein intensives, berauschendes Erlebnis. Danach wusste ich: Das will ich auch! Ich will auch mit Figuren und Objekten arbeiten!

In meiner Diplomarbeit entwickelte ich überlebensgroße Frauenfiguren auf Grundlage der Kurzgeschichte  »Die drei dicken Damen von Antibes« von Somerset Maugham. Ich beschäftigte mich mit Körperidealen, Schlankheitswahn und Fressattacken, auch mit dem grotesken Körper und der Stärke von Außenseiterfiguren. Dieser erste Versuch, mich einem Thema mit Figurenbau anzunähern, erinnert mich im Nachhinein an einen bildhauerischen Prozess. Mir wurde klar, dass man mit Figurenspiel sehr extrem werden kann.

Nach dem Studium probierte ich Figuren in eigenen Projekten aus, baute dann auch Puppen für andere Figurenspieler*innen und bringe seit einiger Zeit auch eigene Stücke auf die Bühne, bei denen das Material, Figuren und Objekte eine zentrale Rolle spielen.

Moodboard für »Die Glücklichen und die Traurigen« – Ideen, Inspirationen, Entwürfe Foto©Larissa Jenne

Wie entsteht die Idee für die Figur für ein Stück? Und wie ist die Puppe für »Die Glücklichen und die Traurigen« entstanden?

Erstmal lese ich das Stück, recherchiere zum Thema und höre mir die Ideen der Kolleg*innen im Team an. Ich fertige Skizzen an, sammle Bilder und recherchiere. Ich mag es, erstmal alle Assoziationen zuzulassen und dann langsam einzukreisen, wohin die Reise geht.

»Die Glücklichen und die Traurigen« spielt auf einem verlorenen Schiff, das auf den Weltmeeren treibt. Die auftauchende Figur erscheint wie ein Geist oder Ungeheuer, ist aber in erster Linie Projektionsfläche der Ängste der Menschen auf dem Schiff. Sie sollte wachsen und drohend groß werden können, so der Wunsch des Regisseurs Thorsten Koehler.

In meiner Phantasie ist sie eine Gestalt des Meeres, eine Gestalt der Natur vielleicht, völlig aus der Zeit und dem Rahmen der modernen Schiffspassagiere gefallen. Sie bewegt sich schwebend oder schwimmend und ist relativ unkörperlich, schwer zu fassen. Inspiration lieferten unter anderem die Sirenen, weibliche Figuren, die schon seit der Antike Seefahrern erscheinen und sie locken. Ich liebe die Welt der Mythen. Sie bergen viel Potenzial für ein tieferes Verständnis von Figuren und Zusammenhängen, egal wie alt oder neu das Theaterstück ist – sie sind die Schatzkammer menschlicher Vorstellungen über die Welt.

Während meiner Recherchen sammle ich immer Materialien, die ich eventuell beim Bau verwenden möchte und die mich auf Grund ihrer sinnlichen Eigenschaften wie Farbigkeit, Lichtdurchlässigkeit, ob fließend oder steif etc. inspirieren. Denke ich bei der Figur an Metall oder Malerplane, Seide oder Kartoffelsack? Hat sie überhaupt Augen, Arme, Haare, Schuppen? Ist sie humanoid oder vielleicht ein Insekt? Für diese Figur fiel mir unter anderem glänzende schwarze und weiße Plastikfolie in die Hände, die wunderbar schwebt und auch ein kleiner unheimlicher Link zur Verschmutzung der Meere mit Plastik sein kann.

In Gesprächen mit dem Team werden die Ideen zusammengetragen. Langsam grenzen wir ein, welche Rolle die Figur im Stück spielt und wie sie sein soll. Bei »Die Glücklichen und die Traurigen« habe ich mich regelmäßig mit dem Bühnen-und Kostümbildner Justus Saretz und mit dem Puppenspieler Tizian Steffen abgesprochen. Tizian kam mich mehrmals im Atelier besuchen und hat die Figur in unterschiedlichen Stadien getestet. Gemeinsam entwickelten wir die Handhabung der Figur.

In Arbeit: Die Puppe für »Die Glücklichen und die Traurigen« (Foto: privat)

Was muss eine Puppe können? Was ergeben sich für Möglichkeiten und Spielräume im Theater durch die Arbeit mit einer Puppe?

Eine Puppe erfüllt eine bestimmte Rolle im Stück. Daher muss die Figurenbauerin genau überlegen, was die Figur unbedingt können muss, um technisch sinnvoll spielbar und ausdrucksstark zu sein. Es muss auch klar sein, wie viele Spieler*innen die Figur führen werden. Es ist eine völlig andere technische Voraussetzung, ob ein oder fünf Spieler*innen die Figur führen.

Als Kostümbildnerin muss ich neben der eigentlichen kreativen Idee für das Kostüm natürlich auch die Wünsche der Spielenden beachten. Manchmal fallen ursprüngliche Ideen den Anforderungen wie Bewegungsfreiheit, Tragekomfort und durchaus auch der Eitelkeit zum Opfer. Ich fand im Figurenbau auch reizvoll, ganze Körper zu gestalten, die genau so sind, wie ich das möchte, ohne die Gegebenheiten der menschlichen Körper der Schauspielenden. Material ist nicht eitel.

Die Möglichkeiten im Figurenspiel sind unendlich! Eine Puppe kann eigentlich alles. Sie kann jedwede Form annehmen, Metamorphosen durchmachen, fliegen, auf der Bühne in echt sterben, abgeschlachtet werden und wiederauferstehen. Das geht, weil das Publikum mit den Spieler*innen eine unausgesprochene Verabredung trifft, wo gemeinsam, für die Zeit des Theaterstücks, angenommen wird, dass die Figur auf der Bühne lebt.

Larissa Jenne in ihrem Atelier in Berlin (Foto: privat)

Wie fertigst du deine Figuren an, und wie lange dauert das in etwa? Was verwendest du für Materialien?

Bisher waren die Anforderungen an die Figuren immer so divers, dass es schwierig ist, einen Weg zu schildern oder gar die Arbeitszeit einzuschätzen. Mein Bestiarium umfasst unter anderem zwei Meter große Figuren aus Schaumstoff, Metall und Pappe, die gesamte Belegschaft der Berliner Stadtmusikant*innen plus Kuh und einen Bus voller Schattenspielfiguren. Ein Ziegenwirbelknochen, der aussah wie ein Kopf mit einer langen Nase, inspirierte mich zu einer klitzekleinen Stabpuppe, die ich kurzerhand an einem einzigen Abend baute. An einigen Figuren, die für ein bestimmtes Stück vorgesehen sind und bestimmte technische und optische Voraussetzungen erfüllen müssen, arbeite ich mehrere Wochen.

Ich liebe Materialien! Mein Atelier-Kollektiv nennt sich MATERIAL GIRLS, weil wir ständig sammeln und tauschen und wie die Elstern alles einheimsen, woraus wir noch was machen können. Die Straßen Berlins sind eine einzige Fundgrube. Was für andere Müll ist, ist für mich Material. Am nächsten liegen mir Materialien, die ich vernähen kann, sowie Schaumstoffe und Kunststoffe, die ich schnitzen kann, und natürlich Papier und Pappmaché! Vor kurzem habe ich mit Experimenten mit Plastik und Heißfön begonnen. Dabei spielt der Zufall eine große Rolle. Ich bin gespannt, ob ich damit viel Plastik in neue interessante Formen und vielleicht auf die Bühne bringen kann.

Nachhaltigkeit ist auch im Theater ein Thema. Du bist Expertin für nachhaltige Materialnutzung in den darstellenden Künsten – wie sieht das im Theater konkret, und konkret für dich aus? Auf welche Widerstände stößt du?

Haha. Ja, das großartige Netzwerk SK Freie Szene für Szenograph*innen und Kostümbildner*innen hat mich letztes Jahr eingeladen, zwei kleine Vorträge zu dem Thema Nachhaltigkeit zu halten, da ich schon seit vielen Jahren viel mit Recyclingmaterialien arbeite. Mein Fokus und Know-How liegt auf der Arbeit in der freien Theaterszene. Da gibt es riesige Unterschiede zur Struktur an Stadt- und Staatstheatern, die auf ihre Fundus-Schätze zurückgreifen können und großartige Werkstätten haben, wo Profis Kostüme und Bühnenteile umarbeiten können. In der freien Szene müssen die Künstler*innen Lagerung und Herstellung im eigenen Atelier umsetzen.

In beiden Modellen wird viel dazugekauft und bestellt. Ich kann das verstehen und ich mache das auch. Ich versuche, eine gute Balance zu schaffen zwischen meinem Anspruch, möglichst viel zu recyclen und auf die eigenen Energieressourcen zu achten. Das klappt mal mehr, mal weniger gut.

Ich habe in eigenen Produktionen versucht, auch das Bühnenbild aus Recyclingmaterial herzustellen. Zum Beispiel habe ich ganz viele hölzerne Stellwände aus zweiter Hand aufgekauft und sie dann umgestaltet. Der logistische Aufwand ist groß. Dafür mussten wir weniger Wände bauen und weniger neues Bauholz zukaufen. Bei Kostümen bestand bisher das Problem meist darin, dass z.B. Kostüme doppelt oder dreifach gebraucht wurden, Second-Hand-Kleidung aber oft nur einfach vorhanden ist.

Am einfachsten ist Wiederverwertung tatsächlich im Figurenbau. Eine Figur wird meist nicht gewaschen. Im Gegensatz zu Kostümen trägt sie meist niemand auf der Haut. Die Materialien können viel freier gewählt sein. Ich glaube außerdem daran, dass Material genauso wie Haut Geschichten, Erlebnisse und Erinnerungen speichert und deshalb gebrauchtes Material aus zweiter oder dritter oder fünfzigster Hand neuem Material gegenüber einen entscheidenden Vorteil hat: es gibt über einen geheimen magischen Vorgang seine Aura, seine Biografie an die Figur weiter.

Das Gespräch führte Gesa Oetting