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Theaterblog

Schein-Heiliger Abend im Familienkreis

Uraufführung von »Mehr Lametta am Meer«: Die bissige Komödie von Rebekka Kricheldorf ist ab dem 18. Januar 2025 in der Alten Feuerwache zu sehen – Dramaturgin Gesa Oetting hat mit der Dramatikerin, die 2019 die Saarbrücker Poetikdozentur innehatte, gesprochen.

Evelyn reicht’s: Jahrelang hat sie sich abgemüht, um das perfekte Weihnachtsfest für ihre Familie zu zaubern, gedankt hat es ihr keine*r. Darum bucht sie nun eine Reise nach Thailand, mit im Gepäck ihre beste Freundin Ada und ihre erwachsenen Kinder Iris und Simon nebst Anhang. Trotz Sonne und Strand merken sie schnell: Egal, wohin man reist, sich selbst nimmt man immer mit, inklusive aller Widersprüche und Konflikte.

Gesa Oetting »Tradition is just peer pressure from dead people.« (Übersetzung: Tradition ist nur Gruppenzwang der Toten) – dieses Zitat stellen Sie Ihrem Stück voran. Sind Traditionen wie solche an den Weihnachtstagen durchweg überholt, oder gilt es, sie neu zu denken?

Rebekka Kricheldorf Ich halte die Traditionspflege für sehr ambivalent. Sie bedeutet einerseits, eventuell völlig unreflektiert Praktiken zu reproduzieren, einzig aus dem Grund, weil man es halt immer schon so gemacht hat. Dann werden Rituale hohl, weil der religiöse Ursprung verloren ging, oder grausam, wenn sie, wie im Stierkampf, heutigen ethischen Standards zuwiderlaufen, oder sexistisch, wie bei augenzwinkernd-harmlosen, aber im Kern misogynen Bräuchen wie dem Brautstrauß-Werfen.

Aber Traditionen können ja auch identitätsstiftend sein. Sie geben dem Leben Struktur, halten Gemeinschaften zusammen, bieten Anlass zu Feier und Besinnlichkeit. Also würde ich für einen affirmativen, aber kritischen Umgang mit Traditionen plädieren.

Es ist kein Wunder, dass gerade Weihnachten in der Literatur ein so beliebtes Sujet ist, da zu diesem Fest eine Vielzahl an Erwartungen, Werten und Vorstellungen aufeinanderprallen. Und es kann auch einen Anlass bieten, wie in meinem Stück, darüber zu debattieren, was Familie überhaupt ist.

GO Scharfe Sticheleien, unliebsame Wahrheiten und eine Familie, die sich wortwörtlich an die Gurgel geht – das Weihnachtsfest in Ihrem Stück hält mit viel Humor und Wortwitz alles parat. Spaß beiseite – hat das Konzept »Kernfamilie« ausgedient?

RK Wenn man sich weltweit umsieht, in welchen Gemeinschaftsformen Menschen sich organisieren, kann man diese Frage nur mit einem klaren Nein beantworten. Die Kernfamilie – schon oft totgesagt, kritisiert, satirisch attackiert – erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Ihr Fortbestehen füllt auch die Kassen der Therapeuten, denn auch als Keimzelle der Neurose hat die Familie nach wie vor Gültigkeit. Familie bedeutet Halt und Geborgenheit, aber ebenso auch Verletzung und Trauma.

Ich finde alle Denkansätze interessant, die versuchen, den Familienbegriff neu zu denken. Wenn die klassische Familie so konfliktbehaftet ist, wäre dann eine Wahlfamilie nicht das bessere Konzept? Sollten Freunde und Freundinnen nicht denselben oder gar einen höheren Stellenwert haben wie Verwandte? Auch eine feministische Kritik an der Familie als Ausbeutungsapparat weiblicher Arbeitskraft finde ich schlüssig, das klingt in meinem Stück ja auch ein bisschen an.

In »Mehr Lametta am Meer« streiten die Figuren ja auch heftig darüber, wer zur Familie gehört und wer nicht. Die beste Freundin? Der Lover? Ich finde es wichtig, in meinen Stücken solche alternativen Familienentwürfe zur Debatte zu stellen und ein Nachdenken darüber anzuregen.

GO Bei Evelyn und Co kollidieren Lebensentwürfe und Ideale: Vegetarische Ernährung versus Plastik in Form von Lametta am Baum – kann man noch einen nicht schein-Heiligen Abend verbringen?

RK Für jemanden, für den Fleischverzehr Tiermord ist, oder der im Jungfrauenkult zutiefst misogyne Strukturen am Werk sieht, war der Heilige Abend vielleicht noch nie „heilig“ im Sinne von: ethisch unbedenklich, unschuldig und rein. Aber im Grunde sind wir scheinheilig in allem, was wir tun, nicht nur an Weihnachten, sondern auch über den Rest des Jahres. Das würde ich nicht allzu sehr verteufeln, es ist ziemlich menschlich. Wir sind eben inkonsequente Lustmenschen, faul und verführbar, hedonistisch und bequem. Dafür sollten wir uns nicht ständig geißeln, sondern einfach mal dazu stehen und gucken, wie wir mit dieser Disposition arbeiten könnten. Das bedeutet, dass wir im Klimaschutz nicht weiterkommen, wenn wir uns ständig gegenseitig unsere individuellen (Umwelt)-Sünden vorrechnen, sondern eher mit einem großen, eventuell radikalen, politischen Konzept.

GO Trotz Klima-Krise und dem Bewusstsein für den eigenen CO2-Verbrauch erlebt die Tourismusbranche steigende Zahlen. In »Mehr Lametta am Meer« zerrupfen Tiere nach und nach die Weihnachtsdeko – die Natur, die zurückschlägt? Sind wir noch zu retten?

RK Angesichts der immer größer werdenden Probleme mit dem Overtourism wäre es höchste Zeit zum Umdenken. Wir müssten Arbeit und Freizeit, Abenteuer und Erholung komplett neu definieren. Auch da sehe ich wenig Sinn in Appellen an individuellen Verzicht, sondern eher den Bedarf nach schärferen Regeln, der Verteuerung von Flugreisen zum Beispiel oder (was viele überforderte Städte ja schon machen) eine tägliche Besucher-Obergrenze. Das schließt direkt an meine Antwort auf die letzte Frage an: Den Ruf nach einem großen, politischen Konzept. Angesichts der aktuellen Weltlage bin ich persönlich da eher pessimistisch. Wenn wir schon allein in Deutschland keine mickrigen Zugeständnisse an den Klimaschutz hinbekommen, wie soll das global funktionieren?

Also ist das Schlussbild, dass nach unserem – immer wahrscheinlicher werdenden – Verschwinden die Tiere sich die Erde zurückerobern und die Überbleibsel unserer Kulturleistungen und religiösen Rituale fleddern werden, gar nicht so überzogen.