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Wiener Moderne vs. Londoner Kosmopolitismus

Benjamin Wäntig Gustav Holsts »Savitri« und Arnold Schönbergs »Erwartung« sind meines Wissens noch nie zusammen aufgeführt worden. Die zeitlichen Umstände bringen die Komponisten nah zusammen: Sie sind beide im September 1874 geboren und arbeiteten parallel 1908 an diesen Stücken, die aber in völlig andere Welten führen. Was trennt, was verbindet sie?

Julius Zeman Der kulturgeschichtliche Hintergrund von Schönberg in Wien und Holst in London ist trotz der Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlich. Schönberg war im Wien des frühen 20. Jahrhunderts im Zentrum der anbrechenden Moderne, konfrontiert mit den künstlerischen Revolutionen, mit dem neuen Menschenbild der Psychoanalyse – mit all diesen neuen Strömungen, die erst einige Jahre später in England ankamen. Holst war stark in der britischen Musiktradition verwurzelt, entdeckte um die Jahrhundertwende die Mythologie Indiens, damals noch Kronkolonie des weltumspannenden British Empire. Er hat sich viel von Reisen in die Ferne inspirieren lassen und sogar Sanskrit gelernt. Sein Ansatz, aber auch das Klima Londons insgesamt war kosmopolitischer.

BW Was folgt daraus für ihre Musik?

JZ Schönberg verabschiedete sich in diesen Jahren von der über Jahrhunderte vorherrschenden Tonalität. Bis zur Entwicklung seiner berühmten Zwölftontechnik sollten allerdings noch einige Jahre vergehen. In Bezug auf »Erwartung« sprach er von »freier Atonalität«. Das heißt, dass sich klassische harmonische Muster, wie wir sie aus der tonalen Tonsprache kennen, zum Beispiel Kadenzen, auflösen. Das geht Hand in Hand mit dem Text von Marie Pappenheim, in dem sich Gedanken in einem freien Fluss entfalten. Sie lösen einander in einem Bruchteil von ein paar Wörtern ab, bleiben oft unabgeschlossen. Es geht Schlag auf Schlag in schockartigen Kontrasten und die Musik folgt dieser zerrissenen Struktur. Marie Pappenheim, eine Ärztin, deren Bruder später zum direkten Kreis um Sigmund Freud gehörte, und Schönberg trafen durch ihren gemeinsamen Freundeskreis aufeinander. Er erzählte ihr, dass er endlich zum ersten Mal ein Bühnenwerk schreiben wolle, und bat sie um einen Text. Dem kam sie innerhalb von kürzester Zeit im Sommerurlaub nach. Sie berichtete Schönberg in einem Brief, wie sie auf einer Wiese lag und auf ganz spontane Art und Weise dichtete.

BW Die Surrealisten hätten später von »écriture automatique« gesprochen. Und Schönberg folgt dieser Dramaturgie?

JZ Ja, er komponiert sehr genau am Wort entlang. Auch wenn es einige strukturell genau kalkulierte Momente gibt, bleibt der Verlauf des Stücks überraschend. Es gibt auch keine »mathematische« Durchorganisation wie in späteren zwölftönigen Werken. Man merkt der Komposition ihre Spontanität an. Am ehesten spürt man eine übergeordnete Spannungskurve: ein verhaltener Beginn, der in den ersten drei kurzen Szenen schnell an Intensität zunimmt, eine lange zentrale Szene voller dramatischer Ausbrüche und ein kurzer Epilog, in dem sich die Musik quasi auflöst. Überhaupt ist die ganze Form des Monodrams, also ein Bühnenwerk mit nur einer Sängerin, fast ohne Vorbilder.

BW Was zeichnet Holst demgegenüber aus?

JZ »Savitri« ist überhaupt nicht spontan entstanden. Ihr geht eine jahrelange intensive Beschäftigung mit der indischen Mythologie voraus. Holst verarbeitet eine Episode aus dem Epos »Mahabharata«, erzählt sie aber in einer eigenen Deutung – wie auch in »Sita« –, indem er etwa eigene Vorstellungen von indischen philosophischen Konzepten wie der Illusionskraft Maya einfließen lässt. Entsprechend gründlich geplant ist auch die Komposition, die fast meditative Züge trägt.

Während Schönberg in dieser Zeit seinen Wandel hin zur Atonalität vollzog, entwickelte sich auch Holst weiter: weg von der großgesetzten Oper in der Wagnernachfolge wie noch bei »Sita« hin zu kürzeren, schlichteren Formen.

Obwohl die musikalischen Handschriften in beiden Stücken so unterschiedlich sind, haben wir jetzt bei den Proben Bestätigung dafür gefunden, wie gut sie sich ergänzen. Nicht nur durch den musikalischen Kontrast: Auch die inhaltliche Verbindung, die Fabian Sichert in seiner Inszenierung vornimmt, funktioniert sehr gut.

BW Was sind denn die musikalischen Herausforderungen solch unterschiedlich klingender Stücke?

JZ Bei »Savitri« wird es vor allem räumlich interessant, weil Orchester und Chor für die Zuschauer*innen unsichtbar hinter einer Wand positioniert sind. Mit den Sänger*innen kommuniziere ich nur per Monitor, was eine Herausforderung ist. Auch Holst hat sich im Übrigen für dieses Stück einen indirekten Klang vorgestellt. Das wird beim Zuhören sicher spannend, da man die Quelle und Richtung der Klänge nicht immer orten können wird. Besonders ist die Mischung der Klangfarben des Instrumentalensembles und des Damenchors. Die Chorpartie ist ganz anders als der Großteil der Literatur für einen Opernchor: Sie besteht nur aus Vokalisen, erfordert eine große Vielfalt von Dynamik und ist klanglich in den Orchestersatz integriert. Holst erweitert so die Klangfarbenpalette durch die Fülle an Schattierungen der menschlichen Stimme – mit wundervoller Wirkung.

»Erwartung« ist mit seiner komplexen, polyphonen Partitur zunächst einmal eine große Organisationsaufgabe. Eigentlich sieht Schönberg für das Stück einen riesigen Orchesterapparat vor. Wir spielen es jedoch in einer Kammerfassung für 17 Musiker*innen, wobei trotz der Reduktion nahezu alle Klangfarben aus der Originalfassung gewahrt bleiben. Es spielen nur alle als Solist*innen, sind gleichberechtigt und tragen die gleiche Verantwortung für ihre technisch und rhythmisch sehr herausfordernden Parts. Das kommt Schönbergs Vorstellungen von der Demokratisierung der Töne und des Orchesters entgegen. Dirigentisch ist das Stück wegen vieler Taktwechsel und ruckartiger Tempoänderungen anspruchsvoll, vor allem in der zweiten Hälfte. Das bedeutet, dass alle dieselbe Vorstellung vom jeweils nächsten Tempo haben müssen, weil ich diese Tempi beim Dirigieren nicht – wie sonst häufig möglich – durch Auftakte antizipieren kann. Außerdem verführt die enorme Spannung des Stücks dazu, dass viele Stellen zu intensiv und laut werden, obwohl Schönberg sehr genaue und differenzierte Dynamiken vorschreibt.

BW Du bist ja Korrepetitor und Kapellmeister am Saarländischen Staatstheater und hast schon in etlichen Vorstellungen am Pult des Saarländischen Staatsorchesters gestanden. Diese Produktion ist nun die erste, die du hier am Haus komplett in eigenen Händen hast. Wie sind deine Erfahrungen damit?

JZ Es ist ein schönes Gefühl, komplett eine eigene Interpretation gestalten zu können. Meine Erfahrungen, die ich als Dirigent an diesem Haus bisher gemacht habe, waren Nachdirigate, bei denen man sich weitgehend nach dem richtet, was die Kolleg*innen zuvor erarbeitet haben. Zwar beobachte ich viele Proben oder spiele auch am Klavier im Orchester mit, aber es kommt seltener vor, dass ich ganze Proben leite. Insofern ist das jetzt eine tolle und wichtige Erfahrung, ein Glücksgefühl, dass ich von Grund auf eine Interpretation mit dem Orchester erarbeiten kann.

Dazu kommt natürlich auch die Arbeit mit den Sänger*innen, die mich schon seit meiner Kindheit begleitet und mir immer eine große Freude ist. Gerade bei solch eher unbekannten und komplizierten Werken ist es wichtig, dass man sich von Vornherein auf ein musikalisches Konzept verständigt. Zur Freude am Musizieren in dieser Produktion trägt bei, dass alle – Soli, Chor und Orchester – die Stücke auf sehr hohem Niveau vorbereitet haben. Wenn alle wissen, wo wir musikalisch hinwollen, kann man sich besser auf die szenischen Proben konzentrieren und Hand in Hand mit der Szene immer mehr Feinheiten erarbeiten.

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Mystische Klangwelten

Benjamin Wäntig Wie bereitest du dich auf eine Uraufführung vor, deren Musik noch niemand gehört hat?

Stefan Neubert Der größte Unterschied ist, dass es keinerlei Aufführungstradition gibt, geschweige denn Aufnahmen. Dadurch kann man sich viel frischer an ein Stück annähern. Wo sind die dramatischen Höhepunkte? Wie sind die einzelnen Teile gewichtet? Das Kennerlernen und Verstehen der Struktur ist ein spannender Prozess. Für mich waren die Leitmotive ein großer Baustein dabei. Holsts Umgang damit ist einzigartig. Es gibt natürlich auch Leitmotive bei anderen Komponisten, aber bei Holst durchziehen sie fast jeden Takt, überlagern sich. Wenn man die Charaktere dieser Motive begreift, ergeben sich daraus organisch die Temporelationen. Dabei ist außerdem wichtig, dass die Musik nah an der Sprache ist. Wenn man den Gesangsstimmen mit dem natürlichen Sprechrhythmus folgt, ergeben sich Rückschlüsse für Tempo und Rubato.

Original Manuskriptseite zur Oper »Sita« | Foto: Holst Foundation/British Library, London

BW Vokal-, insbesondere Chorwerke machen ja auch einen Großteil von Holsts Œuvre aus.

SN Gerade die Chorpassagen sind hochinteressant, besonders die Stellen, die aus dem Off klingen. Dazu zählen die Stimmen der Erde als vierstimmiger Frauenchor, die mit kühnen Harmonien eine mystische Atmosphäre verströmen und nach typischem Holst klingen.

BW Noch zwei Beobachtungen zu Holsts Leitmotiven: Einerseits sind sie häufig relativ kurz, aber Holst gelingt es trotzdem, aus ihnen größere Teile und Zwischenspiele zu entwickeln, ihnen geradezu sinfonische Dimensionen zu verleihen. Andererseits entwickelt er Motive aus anderen heraus, schafft also auf diese Art musikalisch-dramaturgische Zusammenhänge im Stück.

SN Sinfonischen Charakter erhalten die Leitmotive durch ihre Harmonisierung und Instrumentierung. Das Vorspiel zum 2. Akt besteht nur aus dem dreitaktigen Motiv der Treue von Sita und Rama, das vom Hornquartett in die übrigen Blech- und Holzbläser wandert. Dazu wird es harmonisch immer komplexer: von einfachem Dur hin zu einer Folge von schwebenden Septakkorden. Im 3. Akt erscheint das Treuethema wiederum in veränderter Form, wenn Rama von Sita als Gefangener spricht. Nun steht es in Moll mit einer dissonanten Basslinie dazu und nimmt so die Bedrohung des Treueversprechens am Ende musikalisch voraus.

Holsts Leitmotive stehen also nicht einfach eins zu eins für eine Figur oder ein Gefühl, sondern sie sind in permanenter Entwicklung – ein Verfahren, dass in dieser Komplexität nur wenigen Komponisten in der Nachfolge Wagners gelungen ist.

BW Welche Vorbilder hörst du sonst in der Partitur heraus? Auch wenn Holst selbst das Werk im Nachhinein als »wagnerianisches Gebell« abgetan haben soll, finde ich, dass sich dieser Vergleich am Ende gar nicht so sehr aufdrängt.

SN Für mich auch nicht. Holst hat hier weitgehend einen eigenen Stil gefunden, auch wenn er ihn später weit über das spätromantische Idiom hinaus entwickelt hat. Manche verminderten oder halbverminderten Akkorde oder große Ausbrüche erinnern etwas an Wagner. Ein größeres Vorbild, vor allem in Bezug auf die changierende Harmonik, sehe ich aber etwa bei Richard Strauss.

BW Wobei mich die musikalische Klammer von »Sita« an »Tristan und Isolde« erinnert: Während man in letzterem – vereinfacht gesagt – fünf Stunden auf die richtige Auflösung des rätselhaften Tristanakkords wartet, liegt auch »Sita« eine übergeordnete Kadenz von Des nach C zugrunde, die als kosmologische Idee von Anfang bis Ende über dem ganzen Stück steht.

SN So wichtig Wagner für Holsts strukturelle Überlegungen sicher gewesen ist, so ist doch Holsts musikalisches Idiom ganz anders und eigen. Man findet immer wieder etwas, das ich nur unspezifisch als britischen Klang bezeichnen kann: fanfarenartige Blechbläsersätze und eine gewisse Noblesse à la Elgar oder auch Vaughan Williams, mit dem Holst ja in engem Austausch stand. Anderes erinnert mich an Debussy, etwa die vielen leisen Stellen mit feinen dynamischen Abstufungen zwischen zwei- und dreifachem Pianissimo oder auch der häufig stark aufgefächerte Streichersatz. Holst scheut aber auch nicht die große Operngeste, sodass an den melodiösen Höhepunkten Puccini durchscheint. Es ist insgesamt eine Musik zum Genießen, die immer klangvoll, melodienreich und durch ihre Instrumentierung und Harmonik sehr farbig ist.

BW Bei aller kompositorischer Reife handelt es sich ja um ein frühes Stück im Œuvre des Komponisten. Was weist für dich auf den späteren Holst voraus?

SN Immer wieder finden sich solche Stellen. Am Ende des 2. Akts bei Ravanas Beschwörung der Finsternis tauchen stark dissonante Orgelpunkte in den Posaunen auf, die schon deutlich nach »The Planets«, vor allem »Mars«, klingen. Genauso das Intermezzo im 3. Akt, das konsequent in einem schwankenden 5/4-Takt geschrieben ist und so den offenen Ausgang der Situation der Angriffssituation in Musik fasst.

Die modernste Stelle des ganzen Stücks ist wenig später im 3. Akt, wo zum rhythmischen Hämmern des Brückenbaus verschiedene Motive geschichtet werden: das Lied der Holzfäller aus dem Off, Ravanas Beschwörung, Sitas Sonnengruß – alles gleichzeitig übereinander montiert.

BW Noch eine spekulative Frage: Warum hat Holst »Sita« liegengelassen, nachdem die Oper den ersehnten Wettbewerbspreis verfehlt hatte?

SN Ich kann mir vorstellen, dass eine solche Enttäuschung jemanden dazu veranlassen kann, radikal mit etwas Vorherigem abzuschließen, um sich auf Neues zu konzentrieren. Obwohl ich »Sita« für sehr originell und keineswegs epigonenhaft halte: Holst hat sich im Folgenden auf der Suche nach seinem individuellen Stil immer mehr von den Vorbildern der Romantik gelöst und mit anderen Formen und vor allem auch kleineren Besetzungen experimentiert. Nur in wenigen Werken wie »The Planets« hat er auf große Orchesterbesetzungen zurückgegriffen. Auf diesem Weg ist »Sita« eine wichtige Etappe: Die Oper hat es aber verdient, nicht nur als bloße Zwischenstufe betrachtet zu werden, sondern als spannendes Werk mit eigenen (Klang-)Qualitäten.