Die Produktion »Wie später ihre Kinder« hat Schauspiel-Hospitantin Christina Schmidt zum Nachdenken über Zugehörigkeit angeregt und was das eigentlich mit dem Menschsein zu tun hat.
Von Christina Schmidt
Wir alle kennen das unbestimmte Gefühl einer Zugehörigkeit zu einer Region, einem Ort, einem Haus. Ob wir dem gegenüber positiv oder negativ eingestellt sind, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Oftmals verbinden wir eine große Sehnsucht nach etwas mit dem Gefühl der Zugehörigkeit und die nicht seltene Rückkehr dorthin ist ein Versuch diese Sehnsucht zu stillen.
Doch wie genau lässt sich dieses unbestimmte Gefühl erklären? Und wie nutzt es der französische Bestseller-Autor Nicolas Mathieu in seinem Roman, zu welchen Schlüssen kommt er?
Der französische Autor Nicolas Mathieu erzählt in seinem Roman »Wie später ihre Kinder«, dessen deutschsprachige Erstaufführung unter der Regie von Leyla-Claire Rabih seit dem 25. März 2023 in der Alten Feuerwache zu sehen ist, von genau diesem Gefühl. Was macht es mit Jugendlichen, wie gehen sie damit um?
Er erzählt die Geschichten des 14-jährigen Anthony, sein Erwachsenwerden in der von der Montanindustrie geprägten französischen Provinz sowie die von Hacine, Kind von marokkanischen Einwanderern, der versucht in dem Land heimisch zu werden, das ihn, wie so viele andere, außen vor lässt.
Die Leben der beiden Jungen kreuzen sich im Laufe der vier erzählten Sommer immer wieder. Es geht um Rache und das Erwachsenwerden, das einem Selbstfindung und Zurechtfindung abverlangt, in einer Welt, in der die Vergangenheit über allem schwebt. In der die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, in der die Hochöfen des Tals noch qualmten und die Väter noch Aussicht auf Arbeit und gute Jobchancen hatten. Väter, die nicht in einer abgehängten und vergessenen Region lebten. Hacine versucht, als erfolgreicher Drogenboss groß raus zu kommen und Anthony flüchtet sich nach seinem Schulabschluss ins Militär. Die Hoffnung auf Veränderung und Verbesserung des Lebens, im Vergleich zu dem ihrer Väter, ist groß.
Anerkennung als menschliches Grundbedürfnis
Die Frage der Zughörigkeit ist ein roter Faden, der sich durch den gesamten Roman und auch durch den gesamten Theaterabend zieht. Der Wunsch nach Anerkennung und Zugehörigkeit zeigt sich in der Geschichte auf verschiedene Weise: einerseits die Einwanderung und das Zurechtfinden in einer neuen Kultur, ohne seine eigene Kultur und seine Wurzeln dabei zu verlieren und andererseits das Streben nach einem bürgerlichen, anerkannten Leben in einem eigenen Haus mit sicherem Job. Außerdem das tief in der französischen Gesellschaft verwurzelte Streben nach elitärer Anerkennung und in diesem Fall vor allem die Abgrenzung von einer Bergarbeiter-Kultur, in der Solidarität und Kumpelwesen vorrangig waren. Ich habe mich gefragt, was das denn eigentlich ganz ursprünglich ist und wie sich Zugehörigkeit definieren lässt. Wissenschaftlich gesehen, gibt es mehrere Arten von Zugehörigkeit. Vor allem in den Human- und Geisteswissenschaften sind sie vertreten. Man kann etwa einem sogenannten Kollegial-Organ, beispielsweise einem Verein, zugehörig sein. Auch das Teil-Sein in einer sozialen Gruppe oder einer Sozialkategorie, wie etwa einer Berufsgruppe, gehören dazu. Aber vor allem das Gefühl sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen und darin sozialen Rückhalt und Bestätigung zu finden, beschreibt die Art von Zugehörigkeit, mit der sich der Roman beschäftigt, am besten. Sie ist vor allem eines: identitätsstiftend.
Das Lexikon der Psychologie beschreibt Zugehörigkeit sogar als »menschliches Grundbedürfnis«, also etwas, ohne das ein Mensch gar nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen leben kann.
Kann man Zugehörigkeit steuern?
Vor allem in dem Alter in dem sich die Jugendlichen in »Wie später ihre Kinder« befinden, stellt man sich viele Fragen zur eigenen Identität und ist tendenziell viel damit beschäftigt sich selbst kennenzulernen. In dieser Zeit hinterfragen viele eben auch ihre Herkunft. Anthony und Hacine sind beide – aus unterschiedlichen Gründen – nicht zufrieden mit ihrer Zugehörigkeit. Vor allem Anthony will von Anfang an nur weg. Bei Hacine hat man als Leser und/oder Zuschauer fast schon das Gefühl, dass er sich in gewisser Weise mit allem abgefunden hat. Ihn belastet vor allem das Gefühl einer beinahe schon doppelten Zugehörigkeit. Sowohl in Marokko, als auch in Frankreich fühlt er sich nie vollkommen angenommen. Er schafft es jedoch, in Frankreich wirklich Fuß zu fassen und sich ein Leben aufzubauen. Nicht vollkommen uneingeschränkt, aber trotzdem ein zufriedenstellender Alltag in einem konsistenten Umfeld. Grund dafür ist nicht zuletzt seine französische Freundin Coralie, die ihm einen anderen Lebensentwurf aufzeigt.
Anthony hingegen ist von dem Wunsch besessen, loszukommen und seine Herkunft abzuschütteln. Nach diversen Fehlstarts sowohl beim Militär, als auch in der Liebe zu der – gesellschaftlich scheinbar unerreichbaren – Steph, kehrt er zurück: in seine Stadt und in sein altes Leben. Der Wunsch, seinen Vater zu übertrumpfen, besser und erfolgreicher zu sein, scheitert. Die Zeitarbeit wird ihm, wie vielen anderen, zur finanziell abhängig machenden Alltagsdiktatur. Das Leben seines Vaters immer im Hinterkopf, muss Anthony – genau wie Hacine – erkennen dass es für ihn nicht möglich ist, seine Zugehörigkeit abzulegen und eine neue zu finden.
Die Beantwortung der Frage, ob man Zugehörigkeit steuern kann ist also gar nicht so einfach.
Mathieus Geschichte zeigt klar, dass es für die Protagonisten nicht möglich ist, ihrer Lebenswelt und -realität komplett zu entfliehen. Gelebtes bleibt Teil ihres Weges, wenngleich sie es schaffen mit ihrer Vergangenheit zu leben, ohne sich von vormaligen Urteilen und Fehlern leiten zu lassen. Mathieu beschrieb das Lebensgefühl seiner Protagonisten in einem Interview als »verbauten Horizont«. Doch am Ende des Theaterabends scheint er freier zu sein, als die Alltagshelden es wahrnehmen – Zugehörigkeit hin oder her.
Über die Autorin dieses Artikels: Christina Schmidt (20) ist Studentin der Theaterwissenschaft und Germanistik an der JGU Mainz und hat in ihrer Dramaturgiehospitanz sowohl die Proben begleitet, als auch in der Dramaturgie mitgearbeitet. Ihre Aufgaben changierten von Bühneeinrichtung über Fassung aktualisieren bis hin zum Blogbeitrag.
Die letzten Vorstellungstermine: 17.5., 23.6., jeweils 19.30 Uhr, Alte Feuerwache