Vor der Premiere von Johann Strauss’ »Die Fledermaus« sprach Benjamin Wäntig mit Regisseur Aron Stiehl.
Aron Stiehl, Intendant des Stadttheaters Klagenfurt, ist für das Saarbrücker Publikum kein Unbekannter, er setzte bereits Erich Wolfgang Korngolds »Die tote Stadt« und Franz Lehárs »Die lustige Witwe« erfolgreich in Szene. Nun widmet er sich der »Königin der Operetten«.
Was bedeutet es für dich, Operette zu inszenieren?
Gute Operette muss natürlich in erster Linie unterhalten, aber ich merke bei jeder erneuten Beschäftigung mehr und mehr, wie sie mit Abgründen zu tun hat und wie einem dabei das Lachen auch im Hals stecken bleibt. Gerade in der heutigen Zeit, in der jeder auf seine Wahrheit pocht, sehen wir, dass absolute Wahrheiten – und da muss sich jeder an die eigene Nase fassen – nicht existieren. In der »Fledermaus« steckt letztendlich dieselbe Message wie in Verdis letzter Oper »Falstaff«, ebenfalls einer Komödie: »Tutto nel mondo è burla! Tutti gabbati!« – »Alles auf der Welt ist Scherz! Wir sind alle Betrogene!« Man muss über sich selbst lachen können, man muss einen ironischen Blick auf sich selbst werfen können.
Szene aus »Die Fledermaus« (Foto: Martin Kaufhold)
Wie steht es mit dieser Fähigkeit zur Selbsterkenntnis beim Personal der »Fledermaus«?
Gabriel von Eisenstein, der Protagonist, kann das nicht. Er ist ein Spießbürger, der sich für Weiß-Gott-Wen und anständig hält und seine festen Wahrheiten hat. Aber seine Ehe ist eine bürgerliche Fassade, hintenherum gehen er – wie auch seine Frau Rosalinde – auf geheime Partys wie die von Orlofsky und betrügen sich gegenseitig. Als Eisenstein scheinbar seine achttägige Haftstrafe antritt, spielen sie sich wortreich Abschiedsschmerz vor, während er weiß, dass er auf das Fest geht, und sie schon ihren Tenor erwartet – wie verlogen. Auch von der Musik wird diese Falschheit und Doppelbödigkeit unverhohlen herausgestellt. Nach pseudotragischen Tönen bricht im Terzett aus dem 1. Akt aus den Figuren plötzlich ein spritziger Polka-Rhythmus hervor. Die Musik von Johann Strauss ist sehr schonungslos und entlarvend, manchmal geradezu böse und immer sehr präzise.
Alles dreht sich in der »Fledermaus« also um Schein und Sein. Auf dem Fest im 2. Akt spielen sich alle eine andere Identität vor: Eisenstein, Rosaline, auch der Gefängnisdirektor. Nur Prinz Orlofsky ist echt.
Was steckt hinter diesem ominösen russischen Prinzen, der in der Operette als Hosenrolle angelegt ist, also von einem Mezzosopran gesungen wird?
In unserer Inszenierung changiert diese Figur zwischen Mann und Frau, angelehnt an die Berliner Kultfigur Chantal und ihr »House of Shame«. An Berliner Clubs wie dem »Berghain«, die für ihre Freiheiten, für ihre Authentizität legendär geworden sind, konnte man ja beobachten, wie sie immer touristischer wurden. Leute kamen zum Teil nicht mehr, um ihre Grenzen zu überschreiten, sondern nur, um sagen zu können: Ich war da.
Und so ergeht es Eisenstein auf besagter Party bei Orlofsky: Er trifft eine weltoffene Gemeinschaft, in der alle Standesunterschiede aufgehoben sind – weshalb das Stubenmädchen Adele in einer Robe ihrer Chefin ungestört Teil sein kann. Eisenstein, der Spießbürger, kann damit aber gar nicht umgehen und hat wohl auch etwas Angst davor, vor allem vor der queeren Seite von Orlofsky.
Worum geht es bei diesem Fest? Im Handlungsverlauf dient es ja eigentlich nur dazu, dass Eisenstein hauptsächlich von seinem Freund Falke, aber eigentlich von allen anderen auch, hereingelegt wird …
(Foto: Martin Kaufhold)
Neben dieser Operettenintrige und der Tatsache, dass alle Partygäste Eisenstein loswerden wollen, weil er wegen seiner bürgerlichen Scheuklappen nicht dazu passt, geht es um etwas, was man vermutlich schon im 19. Jahrhundert in Festen gesucht hat: Taumel und Rausch. Im Verlauf dieses Festes, in dem auch die anfangs musikalisch strenge Form sich immer mehr auflöst, kommt es zu einer allgemeinen Verbrüderung, zum einen transzendenten Moment der Kommunion: Alle sind so besoffen, dass sie zur Erkenntnis gelangen: Wir gehören zusammen, im Hier und Jetzt und denken nicht an morgen. Selbst Eisenstein, der sich zunächst sträubende Spießbürger, gibt sich dem ganz hin und entdeckt eine für ihn neue Welt. Doch danach kommt wie im echten Leben der Absturz und der Kater.
Szene aus »Die Fledermaus«
Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit dem Theater Bonn, die Produktion entstand dort 2020. Wie blickst du heute, zweieinhalb Jahre später, darauf?
Wenige Tage nach der Premiere kam es zur pandemiebedingten Schließung aller Theater, ja zu Grenzschließungen etc., was zuvor undenkbar war. Nun können wir dankbar sein, dass das Publikum zurückkommt. So ist in der Zwischenzeit eine Menge passiert, was natürlich auch meinen Blick auf so ein Stück verändert hat.
Im Wesentlichen wird die Inszenierung bei solchen Koproduktionen unverändert neueinstudiert. Ich begreife das Regiebuch von damals aber nicht als Vorlage, die es sklavisch zu kopieren gilt. Es ist wichtig, dass alle neuen Darsteller*innen sich ihre Rollen ganz zu eigen machen und ihre eigenen Farben hineinbringen. Das ist hier in Saarbrücken auch allen wunderbar gelungen!
Die Meisterin des Geschichtenerzählens Cornelia Funke beschwört mit dem modernen Advents-Klassiker HINTER VERZAUBERTEN FENSTERN den Glauben an eine Welt hinter den Dingen auf schönste Weise: durch Neugierde und Vorstellungskraft. Im folgenden Interview geben Regie und Schauspielende Einblicke in ihre Gedanken zur Geschichte – und was Theater mit dem Leben zutun hat.
Katharina Schmidt, du hast als Regisseurin dieses Theatertextes deine Idee dieser Geschichte auf die Bühne gebracht – was ist für dich denn diese Kalenderwelt?
KS: Im Gegensatz zu Ollis Schokokalender ist Julias Papierkalender ja zunächst sehr unscheinbar. Je mehr Julia sich aber für die Bilder zu interessieren beginnt, desto mehr beginnen die Bilder auch zu „leben“. Da wo die Schokolade schon längst aufgegessen ist, fängt ihr Abenteuer erst an. Die Kalenderwelt entblättert und entfaltet sich Stück für Stück und glänzt dann umso mehr. Sie steht für die Freiheit der Gedanken, die Fantasie und die Möglichkeit sich frei ausdrücken zu können, ohne Schranken und Grenzen.
Die Phantasie funktioniert also wie ein Schlüssel…?!
KS: Ja, sie ist eine große Kraft. Dass man mit dem Reindenken in Bilder und Situationen ganze Welten zum Leben erwecken kann, ist doch sehr besonders!
Solveig Eger und Salih Yarisli, was ist euch für eure Figuren besonders wichtig?
SE: Ganz klar ihre Fähigkeit eine Wirklichkeit zu träumen. Julia glaubt fest an die Welt, die sie in ihrer Phantasie erschafft und glaubt damit auch gleichzeitig sehr an sich selbst.
SY: Die Geschwisterbeziehung ist aber auch sehr zentral im Stück. Erzählt wird eine typische Hassliebe zwischen Bruder und Schwester – im Laufe der Geschichte merken beide aber, dass man nur zusammen vieles erreichen kann. Und durch Zusammenhalt entsteht richtige Freundschaft.
Die Reise in den Kalender ist also auch eine Reise zu sich selbst?
SE: In der Kalenderwelt erschafft sie sich Aufgaben, die es zu bewältigen gilt und wird somit zu einer kleinen Heldin.
SY: Durch diese magische Welt blicken Julia und Olli ja auch mit anderen Augen auf ihr Leben, ihre Familie, ihr wirkliches Haus. Das ist ein bisschen so wie Theater schauen (oder -machen): es zeigt den Alltag des Menschen – all unsere Bedürfnisse. Auch starke Gefühle, Streit und Konflikte. Und es zeigt Lösungen mit all dem umzugehen.
SE: Im Stück ist eine solche Lösung zum Beispiel, wie sie ihrem Wunsch nachgeht gebraucht zu werden und eine Bedeutung, einen Wert im eigenen Leben zu suchen. Das verstehe ich sehr gut, genauso ihren Wunsch eine Welt zu erhalten, die in ihrer Existenz bedroht ist. Das hat irgendwie auch etwas von der Revolte der jüngeren Generationen in unserer Welt.
KS: Diesen eben erwähnten Schlüssel, der die Phantasie ist, kann man gar nicht genug schätzen! Das heißt, durch Vorstellungsgabe öffnen sich konkret und in Bildern gesprochen immer mehr neue Türen, Fenster und damit Möglichkeiten. Mit Neugierde, was wohl hinter den Dingen – und im Falle von Julia hinter den Fenstern – stecken könnte, beginnt das Abenteuer! Entdeckergeist hat auch viel mit Theater zu tun…
Aha, ihr meint also alle Theater und Leben gehören irgendwie zusammen?
KS: Ganz eng sogar. Wir nehmen Geschichten, Situationen und Themen aus dem Leben, der Gesellschaft auf, filtern und kanalisieren sie, um sie dann letztendlich mit unseren Mitteln auf der Bühne zu erzählen. Auf diese Weise kann Theater auch wieder auf unser Leben zurückwirken – wie das Kalenderfenster, das immer wie ein Spaziergang wirkt und Julia Kraft gibt wieder frisch in ihre Welt, auf ihre Familie, zu blicken. In „hinter verzauberten Fenstern“ denkt Julia kleine Dinge wirklich groß, z.B. das Modellflugzeug, das sie in diese andere Welt zieht und zum Fliegen bringt. Vielleicht können Kinder und auch Erwachsene mit unserer Geschichte ermutigt werden, auch in ihrer Welt, ihrem Alltag groß, fantasievoll und visionär zu denken, denn ich glaube, nur so können wir unsere Welt verändern und verbessern.
Noch mehr Botschaften bitte!
SE: Im Theater lernt man Menschen, deren Handeln und die Motive dahinter zu begreifen. Somit ist das Theater für mich ein Ort, der Menschen näher zusammenbringen kann, wie unterschiedlich sie auch sein mögen.
SY: Entdeckt also die Menschen, das Leben, die Welt! Und verliert nie die Neugierde!
Das Gespräch führte Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb.
Yannick Meisberger ist Mitarbeiter des Adolf-Bender-Zentrums für Demokratie und Menschenrechte in St. Wendel. Aus Anlass der Uraufführung von »Ich, Akira« sprach Simone Kranz mit ihm über die Entstehung von Verschwörungserzählungen. Am Mittwoch den 5. Oktober wird es vor der Vorstellung »Ich, Akira« um 19 Uhr einen Vortrag von Yannick Meisberger zum Thema »Fake News, Hate Speech und Verschwörungserzählungen« in der sparte4 geben. Der Eintritt zum Vortrag ist frei.
Collage des Regieteams (Lea Jansen, Lorenz Nolting, Martha Szymkowiak) zu »Ich, Akira«.
Laut einer Statistik des Bundeskriminalamtes stieg die Anzahl der politisch motiviertenStraftaten im Kontext der Covid-19-Pandemie in Deutschland von 3559 in 2020 um 159% auf9201 Fälle in 2021. Wie erklären Sie sich diesen Anstieg?
Die Proteste gegen Politik und die Corona-Hygieneschutz-Maßnahmen brachten in den letzten zweieinhalb Jahren bundesweit viele Menschen auf die Straße. Menschen machten ihren Ängsten und Sorgen ― auch existentieller Art ― Luft und mobilisierten sich bis zuletzt zu Tausenden in vielen deutschen Städten. Die Demonstrationen und Kundgebungsveranstaltungen waren geprägt von Teilnehmer:innen unterschiedlichster Hintergründe und Szenen. So sammelten sich von Menschen der bürgerlichen Mitte über Esoteriker:innen, Verschwörungsideolog:innen, rechtspopulistischen und -extremen Personen und Initiativen verschiedenste Motive auf der Straße. Dabei ist der Anstieg politisch motivierter Straftaten aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen. Zunächst brachten Menschen auf diese Veranstaltungen vermehrt Symbole und Parolen, die antisemitische und volksverhetzende Inhalte propagierten oder auch den Holocaust verharmlosten oder gar leugneten. Hier wurden von kritischen Beobachter:innen der Demos vermehrt Strafanzeige gestellt auf Grundlage des §130 StGB. Ebenso potenzierten sich diese und ähnliche Straftaten auch im Internet. Des Weiteren häuften sich in den letzten beiden Jahren die Angriffe auf staatliche Institutionen durch Feind:innen der Demokratie. Politisch motivierte Sachbeschädigungen, Beleidigungen im Netz (aber auch offline) und Angriffe auf Polizei oder Journalist:innen sind seit 2020 bei den Corona-Protesten allgegenwärtig.
Attila Hildmann wurde zunächst als Star der veganen Kochszene berühmt, bevor er sich ab2020 an Demonstrationen des Querdenker-Milieus und der Corona-Leugner Szene beteiligte.Dabei kam es auch zu der im Stück zitierten Äußerung »Hitler war ein Segen im Vergleich zurKommunistin Merkel, denn sie plant mit Gates einen globalen Völkermord von siebenMilliarden Menschen.« (Quelle: YouTube, Videotitel: Attila Hildmann verteidigt Hitler, greiftBundeskanzlerin und die Grünen auf seiner Kundgebung an, hochgeladen von: JüdischesForum, Link: https://www.youtube.com/watch?v=_lRFjPrwVFA ). Ist diese Verquickung von Historie und politischen Vorgängen heute, typisch für die Thesen von Verschwörungserzählungen?
Collage von Thorsten Köhler zu »Ich, Akira«
Die Thesen der Verschwörungsideolog:innen sind keine neuen und auch wenig bis überhaupt nicht modern in ihren Inhalten. Sogenannte »Verschwörungserzählungen« erzählen seit Jahrhunderten altbekannte Inhalte weiter. In der extremen Rechten hält sich seit vielen Jahrzehnten die Verschwörungserzählung des »großen Austausches«, in dem behauptet wird, dass die Europäer:innen durch arabische Menschen ausgetauscht werden sollen – ein angeblicher Plan der »Elite«. Allein dieses Beispiel zeigt, wie sehr die Rechtsextreme mit Angst und Panik »arbeitet«, um politisch Stimmung zu machen. Verschwörungserzählungen beinhalten nicht zuletzt Narrative von »die da oben« gegen »uns hier unten«. Somit wird ein dichotomes Weltbild generiert und Menschen werden in Gut und Böse aufgeteilt. Verschwörungsglaubende vermuten sich natürlich immer in der Gruppe der Guten und Aufgeweckten und sehen hinter allem staatlichem die Verschwörung gegen das Volk. Attila Hildmann ist ein spannendes und ebenso gefährliches Beispiel, wie sich Menschen radikalisieren und somit keine Gegenrede mehr zulassen wollen und können. In Krisenzeiten berufen sich Menschen nicht selten dann auch noch auf Zeiten in denen es »dem eigenen Volk« vermeintlich besser ging. Somit ist der Bezug Hildmanns auf den Nationalsozialismus mitunter zu erklären.
Inzwischen liegt ein Haftbefehl wegen Volksverhetzung, Beleidigung, Bedrohung undöffentlicher Aufforderung zu Straftaten gegen Attila Hildmann vor, der nicht vollstrecktwerden kann, weil er sich in die Türkei abgesetzt hat und als türkischer Staatsbürger nichtausgeliefert wird. Trotzdem ist er noch im Netz, vor allem über den Messenger Dienst Telegram aktiv. Kann man dagegen nicht vorgehen?
Telegram ist ein Messenger, der sehr strenge Datenschutzrichtlinien einhält und somit keine Informationen an Strafverfolgungsbehörden regulär rausgibt. Das macht Telegram zwar nicht zu einem rechtsfreien Ort, allerdings ist es für Polizei und Staatsanwaltschaft mehr als herausfordernd Straftäter:innen ausfindig zu machen.
Am 8. September 2021 wurde in Idar-Oberstein ein 20-jähriger Tankstellenmitarbeiter voneinem 49-jährigen Mann erschossen, weil er ihn aufgefordert hatte, seine Maske korrekt zutragen. Zu seiner Tat befragt, äußerte der Angeklagte im Prozess, er habe » er habe ein Zeichen setzen« müssen. Ähnlich hat sich auch der Andres Breivik geäußert, der in Norwegen 2011, 77 Menschen aus rechtsradikalen Motiven heraus, tötete. Woher kommt dieser Wahn?
Wie zuvor schon erwähnt, fühlen sich Verschwörungsglaubende in ihrer Krise der Gruppe der Guten und Auferweckten zugehörig. Sie vermuten die Verschwörung ausgehend von Staat und »Elite«, meinen damit nicht zuletzt eine angebliche jüdische Weltverschwörung. Je nachdem wie tief sich Menschen in die Maschinerie der Verschwörungserzählungen hineinsteigern, entwickelt sich einerseits eine Art Verfolgungswahn und andererseits die Idee aktiv werden zu müssen, wenn man sich in die Ecke getrieben fühlt. Das »Zeichen setzen wolle« richtet sich dann an den Staat. Verschwörungserzählungen funktionieren mitunter so, dass sie Menschen vermeintlich leichte Erklärungsansätze für hochkomplexe (soziale) Zusammenhänge bieten, in Momenten in denen Menschen auf Sinn- und Identitätssuche sind. So wird eine Realität dekonstruiert und eigene Wahrheiten zu einer neuen Wirklichkeit zusammengebaut. Daher klingen Verschwörungserzählungen auch nicht selten so wirr und wahnhaft.
Graphik von Eric Schwarz zu »Ich, Akira«
Im Stück erzählt Akira davon, dass es nicht nur ihm als Hund unmöglich sei, mit seinemHerrchen, einem Verschwörungstheoretiker zu sprechen, sondern dass Menschen oft keinegemeinsame Sprache mehr hätten, wenn einer von ihnen Anhänger vonVerschwörungstheorien sei. Ist das auch ihre Beobachtung? Kann man Anhänger:innen von Verschwörungserzählungen in Gesprächen überzeugen?
Pauschal kann man das schwer beantworten. Grundsätzlich wird es schwieriger mit Menschen im Gespräch zu bleiben, wenn sie wirre und wahnhafte Gedanken und Ideen glauben und verbreiten. Wenn das Gespräch aber erstmal abgerissen ist, wird es natürlich nicht einfacher vor allem lieb gewonnene Menschen weiterhin in seiner Nähe zu halten. Es kommt auch darauf an, wie sehr sich Personen in diese Verschwörungserzählungen verstricken und was sie noch zulassen. Mit manchen kommt man vielleicht an den Punkt, an dem man solche Gespräche nicht weiterführen möchte und sich eine Verbindung somit verflüchtigt. Mit anderen ist die Verbindung so stark oder stark genug, um miteinander diskutieren zu können. In Diskussionen muss es immer ums überzeugen wollen und überzeugen lassen gehen. Wenn das auf der Grundlage von Fakten und Empathie geschieht, ist noch nicht alles verloren.
Mehr Infos zum Stück und den Vorstellungsterminen unter:
In dem Dramentext VERFAHREN geht es um den historischen NSU-Prozess und das Bedürfnis der Aufarbeitung dieser rechtsextremistischen Mordserie sowie um die neueren Anschläge und Methodiken aus der rechten Szene den Rechtsstaat zu schwächen. Ein Stoff, der durch die literarische und theatrale Bearbeitung zu einem fiktionalen Dialog mit uns Publikum geworden ist und – nicht ohne humoreske Überzeichnung – ein Appell der Positionierung an uns richtet. Regisseurin Marie Bues gibt uns im Gespräch mit Produktionsdramaturgin Bettina Schuster-Gäb Einblicke in ihren inszenatorischen Umgang mit Stück und Thematik.
Bettina Schuster-Gäb: Was ist inszenatorisch reizvoll an dem Verfahrensstoff?
Marie Bues: In erster Linie: die politische Botschaft! Verfahren ist einerseits ein Reflektieren des NSU-Prozesses und damit ein Reflektieren unseres Justizsystems und seiner Grenzen, sowie andererseits ein politisches Aufarbeiten unangenehmster jüngster deutscher Geschichte.
BSG: Es wendet sich also nicht nur den letzten 20 Jahren oder sogar den Nachwende-Jahren zu ,…
MB: … sondern auch unserem Hier und Jetzt, der Verlängerung der Terrorachse von rechts bis in unsere Gegenwart hinein und will diesen Rechtsruck thematisieren. In einer Zeit, in der Rechtsextremisten Attentate begehen, Hackangriffe auf Kommunen verüben, rechte Parolen über freie Wahlen wieder Einzug in Landesparlamente erhalten, in einer Zeit, in der rechte Meinungen also wieder salonfähig in der Mitte der Gesellschaft werden, und in der in nicht allzu fernen Ländern demokratische Grundprinzipien abgeschafft und mit den Füßen getreten werden, indem dort Diktatoren das Ruder übernehmen, in diesen Zeiten sollte das Theater und seine zeitgenössischen Autor*innen genau diese demokratische Schieflage reflektieren und in unser Bewusstsein bringen.
BSG: Wie schafft dies Kathrin Röggla und an was kann sich die Regie hier abarbeiten?
MB: Das Stück betrachtet den Prozess nicht aus einer Opfer- oder Täterperspektive, sondern versucht »normalen« Bürger*innen, den Zuschauer*innen eines Prozesses und ihren unterschiedlichen Meinungen zu dem Prozess Raum zu geben. Damit bringt sie verschiedene Strömungen in der Gesellschaft zum Sprechen, und weist auch deren Ängste und Verwicklungen in die Themen, die der Prozess aufwirft, auf. Ihre Sprache ist präzise und humorvoll, ja manchmal von beißendem bitteren Humor, der entlarvend ist. Es ist die Sprache, die durch dieses Verfahren führt und uns die Kraft von Sprache im Gericht, überhaupt das Werkzeug der Sprache als Machtinstrument verständlich macht. Sie ist die eigentliche Hauptakteur*in.
BSG: Und was ist mit den Figuren im Stück? Wie schaffen sie die Balance zwischen dokumentarischem Material und literarischer wie auch theatraler Fiktion?
MB: Multiperspektive ist ein vertrautes Mittel im Theater, durch Einteilung eines Textes in Figuren per se, und dennoch ein ungewöhnliches Mittel, wenn es um so einen hochpolitisierten Prozess geht, an dem sich gesellschaftlich so vieles entzündet hat. Es wäre einfacher, sich einseitiger, also klarer zu positionieren. Ich bin dankbar, dass Kathrin Röggla differenziert schaut, jahrelang verschiedene Perspektiven auf diesen Prozess recherchiert und in Worte gefasst hat. Das ist sehr wertvoll in einer Gesellschaft, die angesichts bestimmter Diskurse zur Generalisierung neigt. Dass die Rechtstaatlichkeit eine Grundstütze der Demokratie ist, was vielen im Alltag fernab politischer Entscheidungen so nicht klar ist, wird im Stück zur Grundthematik ausgebaut. Im Stück wird das durch die Gerichtsdienerin gezeigt, die sozusagen das Sprachrohr des Gerichts ist und immer mehr angegriffen wird, ins Schleudern kommt beim Reenactment dieses Prozesses. Weil er eben viel zu ausufernd ist, weil er einerseits zu klein angesetzt wurde (die Theorie eines Trios, anstatt eines großen Netzwerks) und anderseits nicht genug gerichtet hat (betreffend die Angeklagten selbst sowie die schweigenden rechten Helfer, die vor weitergehenden Ermittlungen verschont blieben, die Versäumnisse seitens des Staats betreffend) etc.
BSG: Insofern sprechen die Figuren auch über sich hinaus für eine Gerichtsöffentlichkeit, die Aufarbeitung verlangt. Hier geht es dann plötzlich viel mehr um Erinnerungskultur als um Figurenpsychologie – und damit auch um die Zukunft.
MB: Absolut. Da es im Text immer wieder die Schauspieler*innenebene gibt, in der die Spieler*innen darüber sprechen, wie das Reenactment des Prozesses ihnen so gelingt und was daran wiederum nicht ganz hinhaut, liegt in dieser Methodik auch die gesellschaftliche Möglichkeit der Selbsthinterfragung und der zukünftigen »demokratischen Verbesserung« für uns als Theaterschauende.
BSG: Das Regieteam besteht ja noch aus Heike Mondschein, Bahar Meriç und Kat Kaufmann – wie spielen die Elemente Bühne und Kostüme, Choreografie und Musik in dieser Arbeit ineinander?
MB: Wir haben uns für eine abstrakte Setzung entschieden: eine Bühne, die an Orte der demokratischen Öffentlichkeit erinnert, an eine antike Agora oder an öffentliche Platzarchitekturen, aber auch an ein Labyrinth. Wir haben das Stück so nicht direkt ins Gericht gesetzt (das macht ja bereits der Text), sondern an einen allgemeineren Verhandlungsort des öffentlichen Lebens, der Demokratie. Durch die abstrakte Setzung und die immergleiche Situation im Stück – das Warten auf den Prozess oder auf den Fortgang des Prozesses – haben wir uns erlaubt eine eigene Art theatraler Ebene einzuziehen: eine etwas grotesk überhöhte Körperlichkeit der Figuren und der Gruppe »Emporencommunity«. Die Choreographin Bahar Meriç hat hier an verschiedenen zeichenhaften Bewegungen für die einzelnen Figuren gearbeitet und einige Gruppenbilder und Choreografien geschaffen, die den Zustand der Prozessbeobachter*innen auf artifizielle Art und Weise beschreibt.
Die Kostüme sind sehr »fashionable«, extrem/exaltiert, und stimmen nicht in jedem Moment mit der im Stück befindliche Beschreibung der Figuren überein. Das haben wir gemacht, weil wir die Figurenbeschreibungen als gedankliche Verortungen empfanden, die auf der Bühne nicht 1:1 beglaubigt werden muss. Wir haben zum Beispiel auch nicht »typbesetzt«: den »Sogenannten Ausländer« spielt im Stück eben auch kein türkischstämmiger Schauspieler. Das wäre nicht gut gewesen und hätte Klischees bestätigt, gegen die das Stück sich aktiv wendet. So wenden wir uns auch in der Besetzung gegen ein Typcasting nach Nationalität, Hautfarbe oder Gender.
Die Musik von Kat Kaufmann versucht auch die Trauer und die Ernsthaftigkeit mit ins Zentrum zu rücken und auf der musikalischen Ebene neben aller Aufgedrehtheit der absurden Beobachter*innenpositionen das Wesentliche nicht aus dem Auge zu verlieren: die unfassbare Grausamkeit dieser Mordserie, und der Kontinuität dieser Taten und ihrer gedanklichen Anfänge in unserer Gesellschaft.
BSG: Du hast dich seit Beginn deiner Regielaufbahn bewusst für zeitgenössische Dramatik entschieden – deine Regiearbeiten lesen sich als seismographische Stimme der Jetztzeit, u.a. lässt sich daraus eine enge Verbundenheit mit Thomas Köck und Sivan Ben Yishai, aber auch mit Felicia Zeller, Elfriede Jelinek und Sibylle Berg herauslesen. Was haben diese Texte, was klassische Stoffe nicht haben?
MB: Mich mit unserer unmittelbaren Gegenwart zu beschäftigen und dies mit unserer heutigen Sprache und unserem heutigen Humor zu reflektieren, ist eine ganz bewußte Entscheidung. Mit Autor*innen, mit denen ich mich auseinandersetzen kann, mit denen ich Themen der Stücke besprechen und damit auch ein stückweit erarbeiten kann. Das interessiert mich persönlich am meisten am Theater. Ich habe Spass daran mich damit zu beschäftigen, wie aus unserer Zeitgenossenschaft eine Sprache, wie daraus Perspektiven und Spielweisen entstehen.
Marie Bues (Regisseurin und Künstlerische Leiterin des Theater Rampe Stuttgart) studierte Schauspiel an der Staatlichen Hochschule in Stuttgart. Seit 2008 inszeniert sie als freie Regisseurinu.a. am Staatsschauspiel Hannover, Theater Basel, Theater Osnabrück, Residenztheater München, Staatstheater Karlsruhe und am Nationaltheater Mannheim. An Produktionshäusern wie denSophiensaelen Berlin, der Garage X Wien oder dem Schlachthaus Theater Bern arbeitet sie in unterschiedlichen freien Konstellationen. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit verbindet sie mit Autor*innen wie Felicia Zeller, Sivan Ben Yishai, Thomas Köck und Nicoleta Esinencu. Am Saarländischen Staatstheater war 2016/2017 ihre Uraufführungsinszenierung von »Ich, dein großeranaloger Bruder, sein verfickter Kater und du« von Felicia Zeller zu sehen. In dieser Spielzeit inszeniert Marie Bues nun die Uraufführung »Verfahren« von Kathrin Röggla.
Im Inneren – die Tanzgruppe iMove beim diesjährigen Tanzfestival Saar mit ihrem Stück » InnerMOVEments«.
Ist es nicht schön zu tanzen? – und dann auch noch im Theater? Das Jugendtanzensemble iMove, welches 2009 gegründet wurde, besteht aus vielen tanzbegeisterten Jugendlichen, die regelmäßig im Staatstheater trainieren und auftreten. Bereits in der Vergangenheit haben die Tänzer*innen von iMove ihr Talent und ihre Leidenschaft zum Tanzen auf den Bühnen des Saarländischen Staatstheaters unter Beweis stellen können und Hunderte von Zuschauer*innen begeistert – oft sogar zu Tränen gerührt.
Claudia Meystre, die Trainerin von iMove, erzählt in dem folgenden Interview mehr über die Gruppe, die Tänzer*innen und sich und berichtet über vergangene sowie zukünftige Projekte.
M.T.: Wann hast du angefangen das Jugendtanzensemble iMove hier am Theater zu trainieren?
C.M.: Seit September 2018 trainiere ich die Gruppe. In dieser Zeit habe ich einen Anruf von Klaus Kieser, dem Colmpanymanager des Saarländischen Staatsballetts und Dramaturg, erhalten, der mich gefragt hat, ob ich Interesse daran hätte, iMove zu übernehmen. Damals hatte die Gruppe kein regelmäßiges Training, wodurch sie auseinandergefallen ist. Das Theater brauchte einen neuen Trainer oder Trainerin, um iMove wieder aufzubauen und die Gruppe nochmal neu zusammenzubringen.
M.T.: Erzähl mehr über dich und deinen Beruf.
C.M.: Mit sechs Jahren habe ich begonnen zu tanzen. Ich war zu diesem Zeitpunkt im Kinderballett und habe in meiner Freizeit immer sehr gerne und sehr viel getanzt. Nach dem Abitur bin ich nach Braunschweig gegangen. Dort habe ich bei »T.A.N.Z.-Braunschweig!«– einer Modernen Tanzschule – ein Vorbereitungsjahr absolviert. Während dieser Zeit habe ich mich an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden beworben und wurde nach zwei Vortanzen für den Studiengang Diplom Tanzpädagogik angenommen. Das Studium dauert vier Jahre und beinhaltet einerseits eine fundierte Tanzausbildung, andererseits natürlich den Bereich Pädagogik, wozu auch sehr viel Theorie gehört sowie Choreographie. Nachdem ich mein Studium abgeschlossen habe, bin ich dann 2008 ins Saarland gezogen und unterrichte seitdem Tanz an diversen Tanzschulen und an Institutionen wie dem Saarländischen Staatstheater. Des Weiteren bin ich Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik Saar im Bereich Rhythmik, Bewegung und Tanz für Schulmusiker*innen und führe viele Schulprojekte durch. Außerdem habe ich schon bei vielen Fortbildungen als Dozentin gearbeitet. Unterrichten tue ich vor allem modernen, zeitgenössischen Tanz und Ballett bzw. auch Kinderballett.
M.T.: Wer sind eigentlich die Tänzer*innen bei iMove? In welchem Alter sind sie?
C.M.: Die Tänzer*innen bei iMove sind Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 24 Jahren. Sie sind Schüler*innen, Studierende, Auszubildende etc., die Spaß daran haben, im Team zu tanzen und ihrem Hobby, ihrer Leidenschaft zum Tanz bei iMove nachzugehen.
M.T.: Gibt es irgendwelche Kriterien, um überhaupt bei iMove mitmachen zu können? Brauch man bereits Tanzerfahrung oder gibt es eine bestimmte Altersbeschränkung?
C.M.: Die Altersgrenze liegt bei 14-21 Jahren. Manche Tänzer*innen bei iMove sind zur Zeit älter als 21. Das liegt daran, dass diese Tänzer*innen schon wirklich sehr lange ein Teil der Gruppe sind und ich wollte ihnen – gerade auch durch die lange Auszeit aufgrund der Pandemie – die Möglichkeit geben, in dieser Spielzeit nochmal dabei zu sein. Eine tänzerische Voraussetzung gibt es nicht und ich mache auch keine Vortanzen. Natürlich sollte man die Lust am Tanzen und die Leidenschaft dafür mitbringen und es ist schon von Vorteil, wenn man eine rhythmische bzw. tänzerische Erfahrung mitbringt. Manche im Team haben z.B. schon rhythmische Sportgymnastik, Hip-Hop oder Ballett betrieben. Unsere Choreographien sind relativ anspruchsvoll und dann kommt man dadurch auch schneller rein, aber ich setzte das nicht voraus, nein. Für jeden steht das Training offen und man kann das gerne ausprobieren. Ich habe schon oft mit Anfängern gearbeitet und versuche jede*n einzuarbeiten und miteinzubringen.
M.T.: Hat die Gruppe regelmäßige Trainingszeiten und wo trainiert iMove? Könntest du kurz erzählen, wie so ein Training abläuft und was das für ein Tanzstil ist?
C.M.: iMove trainiert in der Regel immer montags von 17:00-18:30 Uhr oder von 17:00-19:00 Uhr. Die Probenzeiten können aber variieren, vor allem wenn iMove an einer Produktion arbeitet. Wir trainieren dann auch mehrmals in der Woche und häufig drei Stunden am Stück, also das ist dann auch sehr viel intensiver. Die Tanzgruppe und ich choreographieren auch meist eher modernen Tanz. Je nachdem, welcher Tanzstil in den Produktionen gefragt ist, arbeiten wir auch mit anderen Elementen z.B. im Bereich Hip-Hop oder Ballett. Ich arbeite aber auch viel mit Partnerringen, Flowwork, Improvisation und das Selbstgestalten von Choreos durch die Tänzer*innen. Montags trainieren wir in der Regel im großen oder auch kleinen Ballettsaal des Großen Hauses im Staatstheater.
M.T.: Die Projekte von iMove sind immer Theaterproduktionen, richtig? Man lernt dadurch auch sicherlich sehr viel über das Wesen des Theaters kennen? Die iMover*innen stehen viel auf der Bühne des Theaters und bekommen so auch einen Eindruck, wie es dort und hinter den Kulissen abläuft. Dieses Theatergeschehen selbst mitzuerleben ist bestimmt sehr aufregend und für viele eine tolle Erfahrung.
C.M.: Die Projekte des Jugendtanzensembles sind hauptsächlich Theaterproduktionen. Dazu gehören zum einen unser eigenes Stück, das wir alle zwei Jahre in der Alten Feuerwache beim Tanzfestival Saar vorstellen, zum anderen aber auch andere Projekte, die Teil von Theaterstücken sind, wie jetzt in dieser Spielzeit bei der Oper »Alcina« im Großen Haus. Auch in der sparte4 haben wir schon etwas gezeigt. Dadurch lernt man das Theater natürlich in all seinen Facetten kennen und bekommt Einblicke in alle Spielstätten – von der kleinen bis zur großen Bühne, wie auch dahinter. iMove arbeitet aber auch an Projekten außerhalb des Theaters, wie in wenigen Monaten am Pfingstsonntag in der Johanniskirche bei der Nacht der Kirchen. Wir haben aber auch schonmal eine Modenschau am Theater am Ring in Saarlouis anlässlich des 60. Jubiläums choreographiert.
M.T.: Bei welchen Produktionen hat iMove in der Vergangenheit mitgewirkt und was waren das für Projekte? War die Gruppe dann Teil einer größeren Theaterproduktion oder waren das sogar eigene Projekte von iMove?
C.M.: Begonnen haben wir mit einer Werkschau in der sparte4 im März 2019 und das hieß »iMove – we move on« . Da ging es einfach darum, die Gruppe nochmal neu zu präsentieren und aufzuzeigen, dass iMove wieder da ist. Das Stück dauerte ca. 30 min. Dann kam es zu der Modenschau im Theater am Ring Saarlouis. Dort haben wir die 50er/60er Jahre nachgestellt und die Kleidung aus dieser Zeit präsentiert. Das war aber mehr eine tänzerische Modenschau mit einer Liveband aus Saarlouis. Anschließend waren wir auch beim Theater Überzwerg, wo wir am Theaterfest ein 15-minütiges Stück aufgeführt haben. Im März 2020 hat die Gruppe dann im Rahmen des Tanzfestival Saar ihre erste eigene Produktion von mir vorgestellt. Diese hieß »Zeitwärts«. Danach kamen leider Corona und der Lockdown. Das Staatstheater hatte dann die Kampagne »Stay at home« aufgerufen und iMove hat dazu ein kleines Video erarbeitet, wo jede*r iMover*in einen eigenen kleinen Tanzabschnitt hatte und am Ende habe ich das dann zu einer Videocollage zusammengeschnitten. Im September 2021 – nachdem sich die Situation wieder ein wenig auflockerte – konnten wir dann am Theaterfest an der Völklinger Hütte teilnehmen. Im Anschluss folgte die Opernproduktion »Alcina«, die im Dezember 2021 Premiere hatte und unser letztes Stück »InnerMOVEments« im März beim diesjährigen Tanzfestival Saar in der Alten Feuerwache.
M.T.: Und welche Produktionen sind für die Zukunft geplant?
C.M.: In Zukunft geplant sind, wie bereits kurz erwähnt, am Pfingstsonntag ein kleines Stück bei der Nacht der Kirchen in der Johanneskirche Saarbrücken, wo ein Teil der Gruppe in Mitten einer Kunstinstallation tanzen wird und im September der Spielzeit 2022/23 eine weitere Vorstellung von »InnerMOVEments«. Weiteres kann ich noch nicht sagen, denn das steht noch nicht fest, aber beim nächsten Tanzfestival in zwei Jahren werden wir dann nochmal ein eigenes Stück entwickeln.
M.T.: Die letze Produktion von iMove »InnerMOVEments«, die bereits am 13. März 2022 in der Alten Feuerwache des Saarländischen Staatstheaters uraufgeführt wurde, handelt von Gefühl, von Emotionen. Es geht darum, was die Jugendlichen fühlen, was sie von innen heraus bewegt, über was sie im Alltag nachdenken. Das Stück besteht demnach aus vielen verschiedenen Gefühlszuständen – Freude, Angst, Liebe, Einsamkeit, Trauer, Freundschaft, Zufriedenheit, Neid, Wut, Aggression und Hoffnung. Diese vielen Choreographien, das Licht, das Bühnenbild – alles, was zu solch einer Produktion gehört – sind das Ideen von dir, die du bereits vor dem ganzen Entwicklungsprozess erarbeitet hast oder sind die dir auch teilwese spontan in den Sinn gekommen? Wie gehst du bei solch einem großen Projekt als Choreographin vor?
C.M.: Es blieb uns zwischen der Premiere von »Alcina« und dem Tanzfestival nicht mehr viel Zeit, weshalb die Choreographie teilweise aus Bewegungsmaterial bestand, das ich schon aus vorherigen Tanzkombis entnahm, die ich entwickelt habe. Zum Teil habe ich das Material aber auch entsprechend der verschiedenen Emotionen direkt für das Stück erarbeitet. Mir ist es aber auch immer sehr wichtig, die Vorschläge der Jugendlichen zu berücksichtigen und mit einzubringen sowie die Stärken jedes Einzelnen herauszufiltern, sodass die Tänzer*innen ihr Talent auch auf der Bühne zeigen. So eine Stückentwicklung ist aber sehr prozessorientiert. Anfangs habe ich immer eine Idee und bringe Material mit. Aber wenn ich merke, das Material funktioniert nicht so gut, dann entwickelt sich das manchmal in eine ganz andere Richtung. Ich muss Dinge streichen, ergänzen, verändern und deshalb setzt sich das alles während des Entwicklungsprozesses immer mehr zusammen – auch dann schlussendlich mit meinen Ideen zum Licht, zum Bühnenbild usw.
M.T.: Wie kam es zu dem Thema dieser Produktion? Wie bist du auf diese Idee gekommen? Was möchten die Tänzer*innen und du mit diesem Stück bewirken?
C.M.: Gerade die Corona-Pandemie und der Klimawandel haben uns sehr mitgenommen und berührt. Aus diesem Grund hatte ich die Idee, das Thema »Was uns bewegt« in Bezug auf diese aktuellen Zustände aufzugreifen. Von Seiten der Tänzer*innen kam da aber immer weniger Interesse, da dieses Thema schon in diversen Bereichen thematisiert wurde. Wir haben beschlossen, uns dann zusammenzusetzen und einfach mal darüber zu reden, wie es uns untereinander so geht, was uns beschäftigt, was die Jugendlichen im Hinblick auf ihre Zukunft denken und dazu habe ich mir viele Notizen gemacht. Am Schluss haben sich dann bestimmte Grundemotionen herauskristallisiert und auch ich fand das dann viel interessanter, so allgemein in das Themengebiet Emotionen zu gehen. In dem Stück geht es weniger darum, etwas aufzuzeigen, sondern dem Publikum einfach diese Emotionen, die unterschiedlichen Gefühle näherzubringen. Ich hatte das Gefühl, dass die Tänzer*innen, aufgrund ihres Ausdrucks an dem Abend, sich alle in diesen Emotionen wiederfinden konnten, weil natürlich auch jeder diese Emotion kennt und diese dann auch hervorgerufen hat.
Das Interview führte Maxine Theobald, die ein FSJ-Kultur in der Dramaturgie des Saarländischen Staatstheaters absolviert und selbst bei iMove tanzt.
Hast Lust bekommen, selbst Teil von iMove zu werden? Dann melde dich bei der Leiterin und Choreographin Claudia Meystre, claudiameystre@gmx.de.
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S. Kranz: Du forscht zurzeit am Max Delbrück Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin und am Kölner Institut für Softwaretechnologie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln. Wie kam es dazu?
M. Hennecke: Ich habe mich mit meinem Projekt »The Unanswered Question« für das Austauschprogramm »Kunst trifft Wissenschaft« beworben. Dieses Programm wurde gemeinsam von derHelmholtz Information and Data Science Academy und der Akademie für Theater und Digitalität in dieser Spielzeit erstmalig initiiert. Voraussetzung für die Bewerbung war, dass man eine Forschungseinrichtung der Helmholtz-Gemeinschaft findet, die das Projekt unterstützt und einen Studienaufenthalt ermöglicht. Ich hatte das Glück, dass gleich zwei Einrichtungen mir ihre Unterstützung zugesagt haben und nach einem gemeinsamen Gespräch, haben wir dann beschlossen, uns mit beiden Helmholtz Einrichtungen zu bewerben. Das hat geklappt.
Auszug aus der Partitur von Charles Ives
S. Kranz: Woran forscht ihr genau?
M. Hennecke: Was mich schon länger beschäftigt, ist die Frage, wie man es schaffen kann, das Publikum mehr in die Konzerte oder die Theateraufführungen einzubinden. Jeder, der auf der Bühne agiert, weiß, welchen großen Einfluss das jeweils vor Ort anwesende Publikum auf die Vorstellung oder das Konzert hat. Deswegen habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, Daten der Zuschauer zu erfassen und sie als Teil des Konzertabends zu nutzen. Diese Daten sollen durch Künstliche Intelligenz bearbeitet werden, um daraus einen Orchester-Liveremix zu generieren. Der Titel des Projektes bezieht sich auf das gleichnamige Orchesterwerk »The Unanswered Question« des amerikanischen Komponisten Charles Ives. Ives ließ sich zu diesem Musikstück von dem Gedicht »The Sphinx« des Lyrikers Ralph Waldo Emerson inspirieren. Darin geht es um die Sphinx, die die Stadt Theben belagert. Um an ihr vorbei zu kommen, muss man ein Rätsel lösen. Wer falsch antwortet, wird gefressen. Einzig der thebanische König Ödipus kann ihr entkommen, indem er erkennt, dass der Mensch die Lösung des Rätsels ist. Es geht also um die Frage nach dem menschlichen Sein. Ich fand es spannend, mich dieser Frage mit Hilfe der künstlichen Intelligenz zu nähern und für die Entwicklung eines Prototyps diese Komposition zu nutzen.
S. Kranz: Wie geht ihr das Forschungsvorhaben konkret an?
M. Hennecke: Nach einem ersten Aufenthalt an der Akademie für Theater und Digitalität im Herbst letzten Jahres, bei dem ich an der künstlerischen Umsetzung des Projektes gearbeitet habe, war ich mit dem Schauspieler Raimund Widra am Max Delbrück Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin.
Raimund Widra im MRT des Max Delbrück Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin. Foto Martin Hennecke.
Dort forscht das Ultrahigh Field Facility an MRTs, die 2 ½ mal so stark sind, wie ein normales MRT. Raimund Widra hat sich in diese MRT gelegt und das Gedicht rezitiert und dabei wurde sein Herz aufgenommen. Dabei wurde eine Vielzahl von Daten generiert, die im Projekt als Datenmaterial und Input für die Künstliche Intelligenz dienen sollen. Zurzeit bin ich am Institut für Softwaretechnologie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Dort beschäftigen wir uns gerade mit der Erfassung der Zuschauerdaten und der Programmierung der künstlichen Intelligenz, die für das Projekt nötig sind.
S. Kranz: Du sprichst von der Erfassung von Zuschauerdaten, was ja aus Datenschutz-Gründen ein brisantes Thema ist. Was sind das für Daten und wie werden sie erfasst?
M. Hennecke: Also wir sammeln humanoide Daten, welche das ganz konkret sein werden und wie wir das während des Konzertes bewerkstelligen, ist gerade eine unserer Forschungsfragen. In der engeren Auswahl sind drei Möglichkeiten. Da ist erstmal die Aufzeichnung des Pulsschlags der Zuschauer, das kennt man ja von Sport-Apps, es gibt so Armbänder, die den Pulsschlag an das eigene Smartphone weitergegeben. Aus dieser Aufzeichnung kann man dann die Herzfrequenz errechnen. Diese Herangehensweise würde sich gut anbieten, weil die Technik schon vorhanden ist und es relativ einfach zu bewerkstelligen wäre. Die zweite Möglichkeit, mit der wir experimentieren, sind Gesichtserkennungs-Kameras. Auch da gibt es schon Software, die erkennen kann, ob sich jemand freut oder ob jemand traurig ist, aber auch zum Beispiel ob sich jemand bewegt oder gestikuliert, ob er ruhig ist oder unruhig. Die Gesichtserkennung zur Generierung von Daten zu nutzen hätte den Vorteil, dass mankeine Leute verkabeln muss, sondern einfach ein paar Kameras hinstellt und das Publikum aufnimmt. Die dritte Möglichkeit, die wir gerade noch untersuchen ist, ob man über Apps einen Fragebogen ans Publikum leitet und aus den unterschiedlichen Antworten Scores, also ein Punktesystem kreiert. Am elegantesten wäre es, da weiß ich aber noch nicht ob wir das hinkriegen, wenn wir jetzt diese drei Möglichkeiten alle gleichzeitig nutzen und miteinander verbinden.
S. Kranz: Und diese Daten sollen dann die Komposition von Charles Ives verändern?
M. Hennecke: Ja, bei der Aufführung planen wir, das Publikum in zwei Gruppen zu teilen, sodass zwei Remixe entstehen, die dann nacheinander gespielt werden. So kann man die Veränderung der Komposition besser nachvollziehen.
S. Kranz: Und hast du keine Sorge, dass die Zuschauer nicht bereit sind, ihre Daten zur Verfügung zu stellen?
M. Hennecke: Es wird ja niemand gezwungen, in das Konzert zu gehen. Aber die Datensicherheit muss man natürlich im Blick behalten, das ist klar. Auf der anderen Seite kann das natürlich auch ein schönes Themenfeld eröffnen, diese Techniken gehören ja zu unserem Alltag. Wie steht es mit der Privatsphäre und Überwachung im öffentlichen Raum? Auf was lassen wir uns da ein? Es kann sehr spannend sein, da thematisch drauf einzusteigen.
S. Kranz: Indem man im Anschluss an so einem Konzert darüber spricht?
M. Hennecke: Ja genau oder auch in Folgeprojekten, also wenn andere Komponisten vielleicht mit der Technologie Stücke schreiben, die sich dann genau so einem Thema widmen.
S. Kranz: Und wie sieht das praktisch aus? Nehmen wir mal an, da sitzen hundert Zuschauer, die hören diese Originalkomposition und strahlen alle wie die Honigkuchenpferde, weil es ihnen wahnsinnig gut gefällt und gleichzeitig geht ihr Puls total hoch. Wie verändert das dann die Musik, wird sie schneller, kommt da eine bestimmte Tonalität dazu? Du bist ja wahrscheinlich derjenige, der das festlegen wird.
M. Hennecke: Ich muss die Eckpfeile setzen, aber es ist ein bisschen komplizierter. Denn nicht die unmittelbare Reaktion der Zuschauer steuert den Remix, sondern diese Daten werden dann mit den Daten von Raimund Widras Herz korreliert. Eine Künstliche Intelligenz wird unterschiedlichste Relationen zwischen diesen Daten feststellen, es gibt da sehr viele Möglichkeiten.
S. Kranz: Aber trotzdem bleibt ja die Frage: Wie verändert sich die Komposition dadurch? Also, schneller, lauter, leiser, andere Tonart, …?
M. Hennecke: Da gibt es unendlich viele Möglichkeiten, man kann auch mit dem Raum spielen, aus den Worten des Schauspielers könnte ein kleines Drumset entstehen und so weiter und so weiter. Mir wäre es allerdings am liebsten, wenn ich das nicht so kleinlich festlegen müsste, sondern ich hoffe, dass wir ein Programm schreiben, das selbst entscheidet. Für eine Relation wie »schnellerer Pulsschlag = schnelleres Tempo« braucht man ja keine Künstliche Intelligenz. Im Idealfall sollte die Künstliche Intelligenz, die wir angelernt haben, selbst entscheiden, was daraus entsteht. Das wäre eigentlich das spannendste Ergebnis des Ganzen, vielleicht sogar eine der Antworten auf »The Unanswered Question«.
Nachsatz: Das Projekt von Martin Hennecke soll als Prototyp in einer Voraufführung im Mai, in der Akademie für Theater und Digitalität gezeigt werden. In Saarbrücken kann man die Aufführung in der kommenden Spielzeit in der Alten Feuerwache erleben.
Das Gespräch entstand in Mitarbeit von Emma Berber.