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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

ANDERS! IN WELCHER WELT? – LESEN.

Und wieder liegt eine ereignisreiche (Spiel-)Zeit hinter uns. Auch in diesem Jahr stapelten sich die Bücher, Stücke, Libretti, Noten, Aufsätze, Zeitschriften und Zeitungen, die Liste unserer Lesezeichen im Browser wurde länger, Briefe, Postkarten, Postings … Das Lesen ist des Dramaturgen, ja was eigentlich? Die Grundlage des Berufes, ja. Aber Lesen kann und ist so viel mehr. Es ist das Eröffnen von Welten. Anderer Welten. Neuerer. Besserer. Manchmal auch Schlechterer. Das Eröffnen von Utopin. Dystopien. Ähnlich, aber doch ganz anders als das Theater, lädt das Lesen ein, neue Denk- und Spielräume zu betrachten, zu durchschreiten, zu beobachten, vielleicht sogar zu verändern.

Lesen verbindet, es verbindet uns als Gesellschaft, es gibt Anlass zum Diskurs, zur Diskussion, zum gemeinsamen Reden, Streiten, Lachen oder vielleicht auch Weinen. Und so habe ich auch in diesem Jahr meine Kolleginnen und Kollegen gefragt, was sich so auf ihrem Bücherstapel sammelt.

Den Anfang macht Chefdramaturg Horst Busch:

LUSTPRINZIP

Roman von Rebekka Kricheldorf

Als Theatergänger*in kennt man Sie. In Saarbrücken konnte man von ihr u.a. »Werwolf« oder »Der große Gatsby« auf der Bühne erleben. 2021 hat Rebekka Kricheldorf ihren ersten Roman geschrieben. Wer ihn noch nicht gelesen hat, kann sich auf eine rasante Reise in das Berlin der Neunziger Jahre freuen. Wahrhaftig, klug und wie immer witzig geschrieben. So lassen sich die Abgründe des Lebens ertragen.

Schauspieler Sébastien Jacobi meint zum Spielzeitmotto:

ANDERS – IN WELCHER WELT?

Wie Walter Benjamin richtig bemerkt: Um unser jetziges Jahrhundert zu verstehen, müssen wir das Vorherige genauer betrachten… Tauchen wir also in die 70er, 80er, 90er des letzten Jahrhunderts ein:

Und so empfiehlt er …

Ingrid Caven, Ein Gespräch mit Ute Cohen
»Chaos? Hinhören Singen«

Wer sich in unserer entzauberten Welt noch für die Poesie des Drecks interessiert – hier zu finden: in den Gedankenwelten der als Ingrid Schmidt in Saarbrücken geborenen großartigen Ingrid Caven. 

Der Empfehlung Horst Buschs schließt er sich ebenfalls an:

Rebekka Kricheldorf: »LUSTPRINZIP«

Auch dies für Alle, die einer Zeit der Verausgabung in Sehnsucht, des Exzesses und des glamourösen Scheiterns hinterher trauern. Beatgeneration goes 90er, als Berlin noch damit prahlte »arm aber sexy« zu sein. 

Von Rebekka Kricheldorf, die nicht nur schon einmal die Poetik Dozentur in Saarbrücken inne hatte, sondern auch die Autorin der am Saarländischen Staatstheater aufgeführten Stücke  »Werwolf« (2018/19) und »Der Große Gatsby« (2021/22) ist, hat ihren ersten Roman geschrieben. 

… zum Abtauchen in die philosophische Welt der 90er Jahre empfiehlt er …

Byung-Chul Han
»Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie«

Wer das Thema der postfaktischen Informationsgesellschaft und dem Verlust des Pathos der Wahrheit auf hohem philosophischen Niveau, aber dennoch lesbar, vertiefen möchte- dem sei Byung-Chul Han empfohlen!

Ballettdramaturg und Compagnie-Manager Klaus Kieser empfiehlt in ungewissen Zeiten ein Plädoyer eben genau dafür:

Anne Dufourmantelle: »Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse«

Nicht mehr ganz neu, doch in unserer bewegten Gegenwart nach wie vor lesenswert. 2011 im französischen Original und 2018 auf deutsch erschienen, verbindet die Autorin »auf vornehmste Art philosophisches Denken mit gesellschaftlicher Realität« (Süddeutsche Zeitung).

Luca Pauer, Leiterin des Jungen Staatstheaters und der Theaterpädagogin sowie Leiterin der sparte4, ergeht es so, wie vielen von uns, wenn der Bücherstapel wächst und wächst, die Zeit aber leider nicht mehr wird:

Meine Sommerlektüre ist »Stillleben« von Antonia Baum. Ehrlich gesagt liegt es schon seit Oktober 2021 auf meinem Schreibtisch. Es war die Initialzündung für unser neues Projekt »Oh Mama!« in der sparte4. Rebekka David wird Regie führen und ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit, auf Interviews, die wir mit Menschen aus Saarbrücken dafür führen werden und neue Perspektiven auf dieses Thema.

Maria Zakharine ist Souffleuse im Schauspiel, das Leben gehört auch für Sie zum Arbeitsalltag. Aber nicht nur. Ihr Literaturtipp ist ein richtiger Klassiker:

»Doktor Shiwago«, Teil 13 (1956) von Boris Pasternak ist eines der großartigsten Werke aus der russischen Literatur; ich interpretiere es natürlich in Bezug auf unser Spielzeitmotto und nicht zuletzt bewundere ich, wie aktuell dieser Roman heute immer noch ist.

Hier ist das wohl eindrücklichste Zitat daraus:

»Das größte Unglück, die Wurzel alles späteren Übels war der Verlust des Glaubens an den Wert der eigenen Meinung. Man ging davon aus, daß die Zeit, in der man den Eingebungen des sittlichen Gespürs folgte, vorüber sei, daß man jetzt mit der Stimme der Allgemeinheit zu singen und nach fremden, allen aufgezwungenen Vorstellungen zu leben habe. In wachsendem Maße begann die Herrschaft der Phrase, anfangs der monarchistischen, später der revolutionären Phrase. Diese Verirrung der Gesellschaft war allumfassend und ansteckend. Alles geriet unter ihren Einfluß. Auch unser Hauswesen hielt dem Verhängnis nicht stand. Es geriet ins Wanken. Statt der natürlichen Lebendigkeit, die stets bei uns geherrscht hatte, drang ein Teilchen der idiotischen Deklamiersucht auch in unsere Gespräche, es war ein zur Schau gestelltes, obligatorisches Herumklügeln über obligatorische Welthemmen…«

Claudia Reisinger ist Leiterin des Künstlerischen Betriebsbüros und Disponentin Schauspiel. Auf ihrem Bücherstapel liegen diesen Sommer drei Werke ganz weit oben:

»Die Geschichtensammlerin« von Jessica Kasper Kramer:

Ein Mädchen erhebt ihre Stimme, um die zu retten, die man zum Schweigen bringen will … Ein mitreißender und zugleich poetischer Roman für alle Leser von »Die Bücherdiebin« und »Der Schatten des Windes«.

»Das Gefährlichste, was man in unserem Land tun konnte, war: zu schreiben.«
Ileana sammelt Geschichten. Manche sind Märchen, andere handeln von der Vergangenheit, und die gefährlichsten erzählen die Wahrheit. Wie die Gedichte von Ileanas Onkel Andrei. Doch die Wahrheit kann tödlich sein im kommunistischen Rumänien des Jahres 1989, wo Lebensmittel, Strom oder warmes Wasser knapp sind und die Menschen in ständiger Angst leben. Als Andrei verschwindet, ist die ganze Familie in Gefahr. Ileanas Geschichtensammlung wird von ihrem Vater vernichtet, sie selbst zu den Großeltern aufs Land geschickt. Doch die Securitate folgt ihr bis in die Wälder der Karpaten. Nun braucht Ileana eine Geschichte, die Mörder aufhalten kann …

»Wo man im Meer nicht mehr stehen kann«  von Fabio Genovesi

Der 6jährige Fabio hat es nicht leicht: Seine »10 Großväter«, die vielen unverheirateten Brüder seines Opas, reißen sich nur darum, ihn zu den kuriosesten Unternehmungen mitzunehmen. Erst in der Schule merkt Fabio, dass man als Kind auch mit Gleichaltrige spielen kann – doch da ist seine Rolle als Außenseiter schon vorprogrammiert. Die Kindheit am (und über weite Teile auch im) Meer ist für den Jungen ein ebenso großes Abenteuer wie die Entdeckung des Lesens und Schreibens. Und als sein Vater nach einem tragischen Unfall regungslos im Krankenhaus liegt, sind es die selbst verfassten Texte des inzwischen 12jährigen, die bei seinem Vater eine Reaktion auslösen. »Wo man im Meer nicht mehr stehen kann« ist eine virtuos erzählte Familiengeschichte voller liebenswert-schrulliger Figuren und sommerlicher Italien-Atmosphäre. Mit seinen autobiografischen Zügen ist der Roman gleichzeitig eine Liebeserklärung an die (wortwörtlich lebensrettende) Kraft des Schreibens und der Fantasie.

Vielleicht nicht so unbedingt ein Sommer-Lesebuch….. aber soo schön:

»Marianengraben«  von  Jasmin Schreiber

»Ein Buch, das Geborgenheit bietet und Hoffnung schenkt« meint Yasmina Banaszczuk.

Paula braucht nicht viel zum Leben: ihre Wohnung, ein bisschen Geld für Essen und ihren kleinen Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles auf der Welt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der sie in eine tiefe Depression stürzt. Erst die Begegnung mit Helmut, einem schrulligen alten Herrn, erweckt wieder Lebenswillen in ihr. Und schließlich begibt Paula sich zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise, die sie beide zu sich selbst zurückbringt – auf die eine oder andere Weise

Und im Hinblick auf die Lesungen in der kommenden Spielzeit:

Dörte Hansen und Christian Berkel …

Bei Ballettdirektor Stijn Celis geht es diesen Sommer etwas punkiger zu mit »Helene Hegemann über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition«:

Der Funke, der die Gegenwart abfackelt.

Helene Hegemann trifft Patti Smith zum ersten Mal in einer Mehrzweckhalle in Wien, die als Probebühne für Christoph Schlingensiefs »Area 7« dient. Eine Begegnung, die der damals Dreizehnjährigen im weitesten Sinne das Leben rettet.

Gabriele Kops ist Verwaltungsangestellte am Saarländischen Staatstheater. Zwei ihrer Herzensbücher handeln von Freundschaft, Lebenslinien, skurillen Träumen und Geheimnissen:

Ich habe in letzter Zeit ein wunderschönes Buch gelesen.
Es ist schon alt aber immer aktuell:

»Gegenüber« von Erika Pluhar

Es handelt von der ungewöhnlichen Freundschaft zweier Frauen, von Lebenslinien und der Einsamkeit im Alter.

Einsamkeit in Zeiten von Corona sicherlich ein großes Thema.
Ich schätze den Schreibstil und die liebevolle Sprache von Erika Pluhar.

Einer meiner Lieblingsautoren ist Haruki Murakami.
Ein Buch von ihm:
»Tanz mit dem Schafsmann«

Die Bücher des japanischen Autors lesen sich immer wie skurrile Träume. Die Handlung: eine verführerische Geschichte in einem geheimnisvollen Hotel.
Mehr wird nicht verraten.

Christoph Foss, Leiter der Dekorationsabteilung am Saarländischen Staatstheater, empfiehlt eine literarische Reise an die Küste Kolumbiens:

»Kogi ― Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert« von Lucas Buchholz

Botschaften aus dem Herzen der Welt
Fast 6.000 m ragen die Berge der Sierra Nevada de Santa Marta empor, direkt an der Küste Kolumbiens. Hier leben die Kogi, heutige Vertreter einer über 4000 Jahre alten Hochkultur. Nach Jahrhunderten der Abgeschiedenheit, wenden sie sich jetzt mit ihrem Wissen an die Menschheit. Ihre Worte können unsere moderne Gesellschaft inspirieren. Und sie können uns bei vielen unserer Herausforderungen unterstützen: den ökologischen, gesellschaftlichen und individuellen – und zwar auf verblüffende Weise!

Christiane Ast ist Souffleuse im Schauspiel und empfiehlt drei ganz unterschiedliche Literatur-Welten:

»Monschau«
Roman von Steffen Kopetzky

Ein Buch über den Ausbruch einer Pockenepidemie in den 60ger Jahren in Deutschland/ Monschau/ Eifel.

Es handelt sich um eine wahre Begebenheit: die ersten Symptome/ Krankheitsausbrüche, deren Vertuschung durch die Kommunalpolitik; die engagierte Arbeit einiger Mediziner und der ehrenamtliche Einsatz von Teilen der Bevölkerung, allerdings in Romanform. Es ist überhaupt nicht trocken zu lesen, sondern ich konnte das Buch, einmal angefangen, nicht mehr weglegen.

»Abschied vom Frieden«
Roman von F.C. Weißkopf

Das letzte Jahr vor dem ersten Weltkrieg: der Protagonist lebt in Prag, damals noch K&K, erlebt, erleidet die Liebesgeschichte seines Lebens, und ringsum dräut sich das Gewitter zusammen, das schließlich in das Attentat von Sarajevo mündet.

Damit endet die persönliche Geschichte der Liaison des Protagonisten mit seiner jungen Geliebten sowie die friedliche Koexistenz des Vielvölkerreiches Österreich/ Ungarn. 

»Die kleine Stadt«
Roman von Heinrich Mann

Schon aussortiert, genau wie das vorhergehende Buch, ist dieser Roman wieder auf mich zugekommen. Nun lese ich ihn, bin also mittendrin, und weiß nur, dass ich schon Heinrich Mann’s 

»Die Jagd nach Liebe« sowie »Professor Unrat“« (Vorlage für den Film »Der blaue Engel« mit Marlene Dietrich) verschlungen habe.

In eine italienische Kleinstadt bricht die »große Welt« ein, es erscheint eine Theatertruppe. Und ihre Protagonisten, im doppelten Sinne, bringen die Provinzhonoratioren sowie die Kleinstadtbevölkerung in Unruhe. Der »junge Held«, von den Frauen begehrt, die »junge Liebende«, ein chaotisch anmutendes, gar nicht angesagtem weiblichen Erscheinungbild entsprechendes Wesen, emanzipiert und damit die Männer überfordernd oder provozierend oder begeisternd.

Sommerzeit ist aber gewiss nicht nur Lesezeit. Und so gibt es gleich zwei musikalische Tipps:

Alexander Reschke, Betriebsdirektor und Chefdisponent, hat es diesen Sommer zurück in die 80er geholt – if I only could be running up that hill …

Dank Netflix und der 4. Staffel von »Stranger things« ist der Song »Running up that hill« von Kate Bush aus dem Jahr 1985 aktuell wieder überall zu hören.

Mein Tip für diesen Sommer das dazugehörige Album »Hounds of Love« das im September 1985 erschienen ist.
Keine Musik für den Sofortverzehr und den Nebenbeigenuss.
Wer die Möglichkeit hat, sollte auf jeden Fall die Vinyl Version der CD oder Streaming Fassung vorziehen.
Mein Highlight neben der schon erwähnten Single »Running up that hill«und der zweiten Auskopplung »Cloudbusting« von der man sich auch das Video ansehen sollte, ist der vorletzte Song der B-Seite »Hello Earth«.

Auch Theaterpädagogin Anna Arnould-Chilloux hat einen Hörgenuss als Tipp:

Ich hätte ein Konzert, das ich sehr fesselnd und verzaubernd finde. 
Um Leichtigkeit bei warmem Wetter zu finden: Ein Konzert von Hania Ranihttps://youtu.be/sp3B97N67Cw

Zurück zur Literatur folgt nun wieder ein zeitloser Klassiker, dieses Mal von Maxine Theobald, die in dieser Spielzeit ihr FSJ-Kultur in der Dramaturgie des Saarländischen Staatstheaters absolvierte:

Jane Austen – Emma

»Emma« ist ein Roman der bekannten Schrifstellerin Jane Austen, welcher 1815 erstmals erschienen ist. Das Buch handelt von einer wohlhabenden, hübschen und intelligenten jungen Frau, namens Emma Woodhouse, die – und da ist sie sich der festen Überzeugung – sehr gut abschätzen kann, wer mit wem den Bund der Ehe eingehen sollte. Statt sich um ihr eigenes Liebesleben zu kümmern, versucht sie, ihre Freundin Harriet Smith bestmöglich zu verheiraten, doch dies lässt Missverständnisse und Liebeskummer aufkommen. Aber wer weiß… vielleicht findet Emma am Ende doch noch ihr Glück.

Ihre zweite Empfehlung hat auch Musikdramaturgin Anna Maria Jurisch während einer Zugfahrt verschlungen. Es geht um »Alte Sorten« von Ewald Arenz. Maxine Theobald schreibt dazu:

»Alte Sorten« – ein Roman von Ewald Arenz – handelt von zwei Frauen, Sally und Liss, die unterschiedlicher gar nicht sein könnten, aber ähnliche Vergangenheiten teilen. Die junge Sally  – gerade in ihrer Abiturphase – entflieht ihrem alltäglichen Leben, das aus Vorurteilen, Erwartungen, Pflichten und Erwachsenen besteht, und möchte ihre Ruhe haben. Auf dem Land begegnet sie Liss, einer starken, aber sehr verschlossenen Frau, die auf einem Bauernhof lebt. Sofort merkt Sally, dass Liss nicht wie andere Erwachsene ist. Sie übernachtet bei Liss, doch aus Stunden wurden Tage und aus Tage wurden Wochen. Für Sally ist Liss ein großes Geheimnis, denn ihr wird klar, dass sie das Haus nicht immer alleine bewohnt hat und ihr vieles verschweigt. Während sie zusammen die Hofarbeit erledigen und über die alten Birnensorten in Liss Garten reden, deren intensiven Geschmack Sally so gerne mag, erfahren die beiden gegenseitig von ihren Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden.

Anna Maria Jurisch findet außerdem:

»Alte Sorten« ist ein Buch, das ich zufällig für meine letzte längere Zugreise gekauft und in einem Rutsch durchgelesen habe. Sehr klar, sehr bewegend, sehr poetisch und ein kleines bisschen die Sehnsucht nach endlosen (Spät-) Sommertagen befeuernd. Wer Gartenarbeit liebt, wird das Buch wahrscheinlich schätzen!

Aber auch andere Welten, in die es sich einzutauchen lohnt, kann Anna Maria Jurisch empfehlen:

Judith N. Shklar, »Über Ungerechtigkeit«

Keine klassische Sommerlektüre, aber wahnsinnig spannend, augenöffnend – Was bedeutet Schicksal und was bedeutet Veränderlichkeit? Wie viel Einfluss haben unsere Entscheidungen auf das, was in unseren Leben passiert? Eine faszinierende Betrachtung, die unsere fragile Gegenwart rahmt – auch wenn das Buch bereits aus den 1920er Jahren stammt.

Joan Didion, »Das Jahr magischen Denkens«

Die Kraft der Sehnsucht und die Kraft von Hoffnung – Joan Didions Essays sind immer lesenswert, aber dieses Buch ist kein Reisebericht, keine gesellschaftspolitische Analyse, sondern eine sehr intime Betrachtung von Zusammensein, Familien und Lebensperspektiven. Keine leichte Kost, aber inspirierend.

Gewandmeisterin Martina Lauer empfiehlt für einen wunderschönen Lese-Sommer die Begegnung mit dem Wasser:

Delia Owens‘ »Der Gesang der Flusskrebse«

… und:

Benjamin Myers‘ »Offene See«

In Valda Wilsons Buchempfehlung geht es um die wohl grundsätzlichsten Welten, nämlich die von Gut und Böse:

Einfach nur ein sehr persönlicher Tipp:

Neil Gaiman, »Good Omens« (»Ein gutes Omen«). Am besten auf Englisch lesen!

Schauspieler Bernd Geiling hat gleich zwei Leseempfehlungen:

Richard Powers »Die Wurzeln des Lebens«

Die Zerstörung der Natur und damit der Lebensgrundlagen der Menschen auf diesem Planeten schreitet unaufhaltsam voran.
Eine Gruppe ganz unterschiedlicher Individuen findet zusammen und beschließt zu handeln, aktiv zu werden, geht in den Widerstand.

Und zahlt einen hohen Preis…

… und:

Hanya Yanagihara  »Ein wenig Leben«

Selten hat mich ein Buch beim Lesen so erschüttert wie dieses.
Die Geschichte einer Gruppe von vier Männern, die in lebenslanger Freundschaft und Liebe miteinander verbunden sind, obwohl einer von ihnen, getrieben von seinen inneren Dämonen, sich immer wieder in Dunkelheit, Schmerz und Selbstzerstörung begibt.

Verena Bukal ist Schauspielerin und liest ihre Bücher gerne an ganz unterschiedlichen Orten. Und empfiehlt deswegen:

Park4night 

Eine App, um überall Campingplätze oder (kostenlose) Stellplätze zu finden. Preise, Informationen und Fotos inbegriffen. Sie ist gratis, außer man bucht die Pro-Version 😉 Viel Spaß damit!

Judith Fecher arbeitet in der Ausstattungsabteilung und mag es gerne spannend. Also hat sie zwei Empfehlungen für Fans des Nervenkitzels:

Ich lese am liebsten Psycho-Thriller, aber mich nervt an manchen Autoren, dass sie anscheinend der Meinung sind, je brutaler und ekliger der Mord (bzw die detaillierte Beschreibung davon), desto spannender wird das Buch. Meistens ist dem nicht so und deshalb liebe ich Bücher, die eher die psychologischen Aspekte in den Fokus nehmen und dadurch eine bedrohliche Spannung aufbauen.

»Klima« von David Klass
Ein selbsternannter Umwelt-Terrorist sprengt Ziele in die Luft, die die Umwelt zerstören und nimmt dabei auch den Tod von Unschuldigen in Kauf.
Das Buch ist sehr spannend geschrieben und man bekommt einen Einblick in die Psyche des Täters, der als liebender Familienvater und Umweltaktivist beschrieben wird. Man ertappt sich beim Lesen dabei, mit dem Terroristen zu sympathisieren und stellt sich zwangsläufig die Frage, wie weit man gehen darf, um ein höheres Ziel zu erreichen
.

»Todesmarsch« von Stephen King
1979 veröffentlicht unter dem Pseudonym Richard Bachmann

Früher war ich ein begeisterter Stephen-King-Leser. Er hat wirklich tolle spannende Bücher geschrieben. Aber dieses ist ein bisschen anders: subtiler, psychologischer, sein bestes Buch meiner Meinung nach.
Ja, der alte Schinken ist schon über 40 Jahre alt, aber die Geschichte absolut lesenswert.

In einem Amerika der Zukunft unter einer herrschenden Militärdiktatur brechen jedes Jahr 100 Jugendliche zu einem makabren „Todesmarsch“ auf, einem Wettbewerb, den 99 von ihnen nicht überleben werden. Dem Sieger winkt lebenslanger Luxus. Der Marsch geht so lange, bis nur noch ein Läufer übrig ist. Wer zu langsam ist oder sich nicht an die Regeln hält, wird erschossen.  Der Leser wird förmlich hineingezogen in diese düstere Geschichte, in die Psyche der jungen Läufer, in Freundschaften die entstehen, obgleich im Angersicht des Todes, in ihre Hoffnungen und Verzweiflung.
Es gibt noch ein Buch von »Richard Bachmann«, kurz danach geschrieben. Es heißt »Menschenjagd« und greift ein ähnliches Thema auf, was aber meiner Meinung nach die Qualität und die Spannung von „Todesmarsch“ nicht mehr erreicht.

Auch Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb findet man nicht selten mit einem Buch in der Hand. Für den diesjährigen Lese-Sommer empfiehlt sie:

»RADIKALE ZÄRTLICHKEIT« von Seyda Kurt

Der politische Aspekt von Beziehung, Liebesbeziehung oder Beziehung, die einen intimen Austausch beinhaltet, habe ich nicht immer vor Augen. Schon gar nicht, wenn ich diese Beziehung Jahrzehnte kenne. Dass diese über den rein privaten Wert auch einen gesellschaftskonstituierenden hat, ist ein Gedanke, den man gar nicht oft genug ins Bewußtsein holen kann. Und wenn das so geschmeidig gelingt wie im Fall von Şeyda Kurt, ist das eine schöne Reise, die einen wieder eine utopische Kraft spüren lässt. Es hat auch nicht unwesentlich mit der Arbeit an BERENIKE von Jean Racine zutun…

… und:

WIE SPÄTER IHRE KINDER von Nicolas Mathieu

Dieser Autor kann nahbare Figuren beschreiben, deren Leben holzschnittartig erfasst werden und so reich wirken, im skizzierten. Die gesamte Stadt hat man vor Augen, die Hitze im Körper, plötzlich. Dann diese Jugend, diese Begegnungssehnsucht, dieses Abhängen, dieses Perspektivensuchen. Ganz sinnlicher Sozialrealismus. Und wer es nicht schafft, dem wird es nächste Spielzeit auch auf der Bühne der Alten Feuerwache erzählt (Psst!: Premiere ist am 23.3.23)!

Sänger Algirdas Drevinskas mag es humoristisch und empfiehlt:

»Abraham kann nichts dafür« von Ephraim Kishon

… eine Satire witziger als die andere. Viel Spaß beim Lachen!


Dem Lesetipp von Schauspieler Fabian Gröver kann sich eigentlich keiner entziehen:

»Eine kurze Geschichte der Menschheit« von Yuval Noah Harari

Warum ich das Buch empfehle?

Wir Homo sapiens blicken auf ein lange (Erfolgs-)geschichte zurück,
die uns sowohl an die Spitze der Nahrungskette als auch in die gottgleiche Position versetzt hat,
über Wohl und Wehe dieses Planeten entscheiden zu können/zu müssen.
Aber sind wir überhaupt clever genug, das nicht zu verbocken?
»Dieses Buch lässt Hirne wachsen.«, schreibt der Kritiker des Magazins »ZEIT Wissen«.

Insofern sollte jeder Homo sapiens es gelesen haben.

Martin Hennecke, Schlagwerker im Orchester des Saarländischen Staatstheaters, hat einen klangvollen Tipp in eigener Sache:

 »In welcher Welt leben wir gerade, und was können wir daraus machen?«

Das ist eine Frage, die meine Kollegen von Percussion Under Construction und mich während des ersten Lockdowns der Pandemie sehr beschäftigt hat. Was passiert gerade? Können wir diese Zwangspause irgendwie sinnvoll nutzen? Können wir uns künstlerisch mit der Situation auseinandersetzen und verschiedene Perspektiven einnehmen und beleuchten? Kann daraus möglicherweise ein positives Narrativ entstehen? Können wir – untereinander als Ensemble und auch mit unseren Freund*innen aus der ganzen Welt – trotz Isolation zusammen musizieren? Herausgekommen ist unser erstes Album »Locked Down?«, welches mittlerweile in vier Kategorien für den Opus Klassik nominiert ist, und auch im Post- (oder Zwischen-?) Coronasommer nichts von seiner Magie eingebüßt hat.

Orchestermanager Alfred Korn kann gleichermaßen privat wie beruflich eine besondere Empfehlung aussprechen für alle Schostakowitsch-Interessierten und die, die es noch werden wollen:

»Dmitri Schostakowitsch. Briefe an Iwan Sollertinski« herausgegeben von Dmitri Sollertinski und Ljudmila Kownazkaja. Aus dem Russischen von Ursula Keller.

In diesem Zusammenhang empfehle ich wärmstes Schostakowitsch-Aufnahmen mit Michail und / oder Vladimir Jurowski. Zu den Referenzaufnahme zählen sicherlich die unter der Leitung von Gennadi Roshdestwenskij…

Auch Meike Koch, Theaterpädagogin Musiktheater und Konzert & Koordinatorin Theater und Schule, hat einen einen Tipp für alle, die ihren musikalischen Horizont erweitern möchten:

Podcast »Klassik für Klugscheißer« von BR Klassik: Zugegeben, ein provokanter Titel, aber jede Woche wieder sauber recherchiert und unterhaltsam präsentiert. Laury und Ulli informieren uns mit ihrer lockeren und lustigen Art über klassische Musikgeschichte. Sollte man betrunken komponieren? Wie macht man am besten Schluss (musikalisch gesehen, natürlich)? Und welche Strukturen verhindern Diversität in den Orchestern?
Regelmäßig begrüßen die beiden spannende Gäste und erstellen zu jeder Podcast-Folge eine passende Playlist mit Musiktiteln. Eine absolute Hörempfehlung, auch für alle, die noch keine Klassik-Klugscheißer sind, sondern es noch werden wollen.

Aber auch einen Buchtipp hat sie auf Lager:

»Die Erde der Zukunft« von Eric Holthaus

Die Klimakrise ist nur eines von vielen schlimmen Themen, die wir momentan jeden Tag über die Medien aufnehmen und verarbeiten müssen. Wegschauen ist keine Option, Hinschauen aber oft schmerzhaft und verzweifelnd. Wie wäre es aber, einen optimistischen Blick in die Zukunft zu werfen? Eric Holthaus nimmt uns mit in das Jahr 2050 und erklärt, wie wir die Klimakrise verhindern und es uns gelingt, den Kollaps unserer Ökosysteme abzuwenden. Dabei zeigt er uns Szenarien, die Hoffnung machen.

»Es ist eines der schönsten Bücher, das ich je gelesen habe«, mit diesen Worten überreichte mir meine Kollegin Anna Maria Jurisch »Herzzeit«. Ein Buch, was den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan wiedergibt. Und damit ist es ein bewegendes Zeugnis zweier Menschen, die sich liebten und sich gegenseitig verletzten, die einander brauchten und doch miteinander nicht leben konnten. Und was soll ich sagen, meine Kollegin hatte Recht …

In den Spielzeitferien geht es für viele von uns nach Hause. Aber was bedeutet das eigentlich, »Zuhause«? Ein Ort? Ein Mensch? Ein Hund? Was macht uns aus, wo gehören wir hin? »Über eine Sehnsucht und die vielleicht wichtigste Suche unseres Lebens« schreibt Daniel Schreiber in seinem essayistischen Roman:

Wir wünschen Ihnen einen schönen Lese-Sommer, viel Freude beim Entdecken neuer (literarischer) Welten. Vielleicht finden Sie ja in der einen oder anderen ein neues Zuhause. Oder eben die Welt, die Sie gerade brauchen.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

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Eine Trostapotheke im Welt:raum

Vom 15.-21. Juli 2022 im welt:raum Saarbrücken:
https://www.weltraum-saarbruecken.de/trostapotheke


Initiiert von Alis Knieling und Martina Fries ist die Trostapotheke Orpheus ein Ort, an den man gehen kann, wenn man traurig ist, wenn es einem mal nicht so gut geht oder wenn man einfach für den manchmal etwas langweiligen Alltag ein bisschen Mut und Hoffnung sammeln möchte. Dort kann man sich dann Trost suchen, indem man sich einen Text aussucht und geben lässt, der einem bei seinem Problem weiterhilft, einem neue Ziele verschafft oder einfach Trost spendet, damit es einem besser geht. Hierbei haben auch die Teilnehmen der Schreibwerkstatt des Staatstheaters, »Wortakrobaten« genannt, mitgewirkt und viele Texte geschrieben. Weitere Texte wurden zudem von anderen Leute geschrieben und anonym an den welt:raum geschickt.  

Während der letzten beiden Dienstage durfte die Schreibwerkstatt des Saarländischen Staatstheater in den Räumen des »welt:raums« schreiben. Geschrieben wurden jedoch nicht nur Texte, sondern es wurde auch mit Wörtern gespielt und »Brainstorming« betrieben.

Durch Assoziationsketten, schockierende »Urban Legend«-Erzählungen und improvisierte Geschichten-Kreise sind mal moralische, mal philosophische Ratschläge und Sprichworte entstanden; wie zum Beispiel: »Flieg nicht zu hoch mein kleiner Freund«, »Keiner Fata Morgana hinterher laufen«, »Egal wo man is(s)t, Hauptsache mit Freunden«. Oder auch geheimnisvolle Weisheiten wie »Man kann Spiegeleier auch auf heißem Stein braten« und »Auch mit Maden in den Haaren siehst du wunderschön aus«.

In dieser sehr konzentrierten Stimmung während der letzten Dienstage sind durch diese philosophischen Ratschläge Texte zum Mutmachen entstanden. Diese »Text-Tabletten« (wie in einer echten Apotheke!) sollen gegen Liebeskummer, Einsamkeit, Angst oder das Gefühl der Sinnlosigkeit helfen…

Wir hoffen, dass es uns gelungen ist; Spaß hatten wir auf jeden Fall dabei! Kommt doch zur Trostapotheke und lasst Euch einige Textmedikamente von den Trostapotherker*innen verschreiben.

Einige Lektüre-Tipps für den Sommer haben wir auch parat. Wir lesen Ihnen auch gerne ein paar Ausschnitte der Texte vor, die uns schonmal im Leben geholfen haben vor.

Die Trostapotheke ist vom 15.-21. Juli in Saarbrücken im welt:raum (direkt am St. Johanner Markt) für Euch da, um Euch bei euren Problem zu unterstützen und Trost zu schenken!

Die Wortakrobaten aus der Schreibwerkstatt.

Die Wortakrobaten des Saarländischen Staatstheaters würden sich sehr über ein paar neue Gesichter in der Schreibwerkstatt freuen! Macht gerne mit und werdet ein Teil der Wortakrobaten! Anmeldungen an Theaterpädagogin Anna Arnould-Chilloux unter a.arnould@staatstheater.saarland.

Anna Arnould-Chilloux,
Theaterpädagogin für Schauspiel und Tanz

Joline, Praktitantin im Jungen Staatstheater

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SPIEL DER EXTREME

Dirigent Roger Epple über Mahlers 7. Sinfonie.

Als Gustav Mahler seine neue Sinfonie dem Münchener Impresario Emil Gutmann mit den Worten »es ist mein bestes Werk und vorwiegend heiteren Charakters«, für eine geplante Tournee anpries, verriet er uns sicherlich nur einen kleinen Teil der Wesensmerkmale, die seine Siebte prägen. Den kompositorischen Nukleus des opulenten fünfsätzigen Werkes bilden die von Mahler als »Nachtstücke« betitelten Sätze Zwei (»Allegro Moderato«) und Vier (»Andante amoroso«). Sie wurden schon 1904, ein Jahr vor den übrigen Sätzen konzipiert. Ohne Zweifel sind diese der Sphäre des Nächtlichen, Heimlichen verbunden (der häufig verwendete Zusatz für die gesamte Sinfonie »Lied der Nacht« stammt jedoch nicht vom Komponisten). Das Spiel mit Hell und Dunkel, Nah und Fern, Tag und Nacht, Dur und Moll manifestiert sich schon mit den ersten Hornrufen des zweiten Satzes, aus denen eine Art Vogelstimmen-Konzert erwächst. Dieses bricht aber schon kurz darauf wieder über dem bereits aus der 6. Sinfonie bekannten »Dur-Moll-Siegel« jäh in sich zusammen, bevor es auf die imaginäre Wanderschaft durch Ort und Zeit geht.
Man durchschreitet mit dem für Mahler subtilen Humor verschiedenste Gefühlszonen, die von billiger Prater-Atmosphäre bis hin zu »weltferner Einsamkeit« reichen (an die weit entfernte Herdenglocken hinter der Bühne erinnern). Ort und Zeit scheinen aufgehoben, die Wirklichkeit diffundiert gleichsam. Zeitgenossen erinnerte diese einzigartige Kompositionsweise ― das ständige Changieren zwischen Dur und Moll ― damals offenbar an Chiaroscuro-Malerei. Aus heutiger Sicht und einer gewissen historischen Distanz ist dieses exzessive Dunkel-Hell-Spiel ein originär Ma(h)lerischer Ansatz.
Der Fokus musikhistorischer Betrachtungen im Hinblick auf die Auflösung gängiger harmonischer Regeln der damaligen Avantgarde vor Arnold Schönberg lag bisher hautsächlich auf der Entwicklung der Chromatik (Liszt, Wagner, Strauss), der Nutzung neuer Skalen (Debussy) oder spezifischer Akkordschichtungen (Skrjabin). Leider wird dieser Aspekt in Mahlers Werk, ebenso wie das von ihm virtuos angewandte Prinzip der ständigen entwickelnden motivisch-thematischen Variation und seine differenzierte melodische Klangfarbendifferenzierung bisher viel zu wenig gewürdigt. So gesehen wundert es auch kaum, dass gerade Schönberg in der 7. Sinfonie das Schlüsselwerk sieht, das seine anfängliche Mahler-Skepsis in Bewunderung verwandelt und dass Anton Webern sie als seine Lieblingssinfonie bezeichnet. Vielleicht ließ sich Schönberg sogar von Mahlers ungewöhnlicher Instrumentierung der 2. Nachtmusik (4. Satz) zu seiner Serenade, op. 24 inspirieren? Hier wie dort bereichern die Klänge von Mandoline und Gitarre das nächtliche Ständchen. In der Sinfonik um die Jahrhundertwende waren diese beiden Instrumente durchaus nicht gebräuchlich. Im Zentrum der Sinfonie steht an dritter Stelle das 1905 gemeinsam mit den Randsätzen komponierte Scherzo. Von Mahler mit »schattenhaft« überschrieben, gehört es ebenso zur Sphäre der Nacht ― offenbart hier aber ihre furchteinflößende, gespenstische, unfassliche Seite.  Das Nichtfassliche steht dem grob Verzerrten gegenüber. »Klagend« kommen die Melodien und Seufzer daher. Viel Gedämpftes wirbelt spukhaft ständig auf und ab. Wilde Glissandi, grelle Absturzfiguren, Melodiefetzen münden mehrfach in den Versuch eines Walzers, der aber mehr und mehr verzerrt die Konventionen ernsthaften Musizierens sprengt und schließlich regelrecht aus den Fugen gerät. Er mündet »wild« in eine Montage aus Walzer und Trio-Elementen, die brachial wie in einem Vollrausch höchst ordinär daher donnern, bevor dann auch noch die Tempoeinheit mittels collagenartiger Einschübe ins Wanken gerät.  Man fühlt sich fast zwangsläufig an das (später komponierte) Meisterwerk »La Valse« von Maurice Ravel »erinnert«.
Mahler geht in seinem Prozess der Auflösung noch einen Schritt weiter: An manchen Stellen trennen sich sogar in der vertikalen Struktur die Wege (so z.B. bei Ziffer 170), wenn Instrumentengruppen einfach weiterspielen, andere aber quasi vom Geschehen abgekoppelt ihren individuellen Puls behaupten (Flöten/Piccolo). Dieser äußerst avantgardistische Ansatz der Entkoppelung der gemeinsamen Zeitebenen ist bei Mahler auch in vielen früheren Sinfonien (z.B. Finale der 2., im 4. Satz der 3. Sinfonie oder beim Anfang der 4. Sinfonie) ein höchst reizvoller Teil seiner Schaffensweise. (vgl. ähnliche Prozesse bei Charles Ives: z.B. »The unanswered question«, ab 1906 komponiert).
Noch vor Béla Bartók verwendet Mahler im Scherzo auch das später nach Bartók benannte starke Anreißen der Saiten, »dass die Saiten an das Holz anschlagen« als wirkungsvollen Effekt einer abrupten Unterbrechung. Im Trio des Scherzos erinnert die Solo-Bratsche, später auch andere Stimmen, an den Eröffnungsgedanken des Kopfsatzes und stellt so eine kaum äußerlich wahrnehmbare Brücke zwischen diesem und dem Ersten Satz her. Dort wird die komplette markante Melodie gleich zu Beginn der Sinfonie »mit großem Ton« von einem Tenorhorn (ein weiteres ungewöhnliches Instrument in der sinfonischen Literatur) über dem für Mahler typischen Trauermarsch-Rhythmus vorgestellt.
Es muss für Mahler nach einer kurzen sommerlichen Schreibblockade bei der Überfahrt über den Wörthersee der erlösende Einfall gewesen sein, der ihn zu der vielzitierten Aussage »Hier röhrt die Natur« veranlasste. Der Marsch gewinnt an Fahrt und manifestiert den exzessiven Gebrauch von ab- und aufsteigenden Quarten. Dieses markante Intervall zieht sich neben einem Motiv, das durch Tonrepetitionen charakterisiert wird, beinahe mottoartig durch die ganze Sinfonie. Unterbrochen wird der hochkomplexe und für alle Beteiligten äußerst fordernde Satz lediglich von einem schwärmerischen, durch zahlreiche agogische Angaben angereicherten Seitensatz. In der Durchführung weitet sich dieser Gefühlsbereich, gleichsam wie an einem Faden über den Ton B gesponnen, in völlig neue Sphären. Breite choralartig angelegte gedehnte Akkorde, die von Trompetensignalen eingeleitet bzw. unterbrochen werden, erinnern stark an eine ähnliche Stelle im »Urlicht«, dem 4. Satz seiner Auferstehungssinfonie. Dort erklingen von der Altistin die sinnigen Worte »Da kam ich auf einen breiten Weg«. Ein Weg, der in unserem ersten Satz im Zentrum dessen in einer Art fast religiösen, feierlich-verklärten Vision das Fenster in eine völlig andere, jenseitige Welt eröffnet. Unterstrichen wird dieser unbeschreiblich wunderbare Blick, einem Lichterlebnis gleich, durch »sehr weich geblasene« Posaunen in H-Dur und durch den erstmaligen Gebrauch (nach 316 Takten Pause!) der Harfen.
Diese extremen Spannungspole, die Ambiguität des Eröffnungssatzes, bzw. die nächtlichen bis schaurigen Welten der Mittelsätze sind dem Rondo-Finale allem äußeren Anschein nach völlig fremd – leuchtet es doch in geradezu penetrantem strahlendem C-Dur und operiert mit Pomp, Pauken und Trompeten. Diese scheinbare Eindeutigkeit einer positiven Folie warf bei vielen Interpreten immer wieder Fragen und Zweifel auf. Die ganz offensichtliche, wohl nicht bierernst gemeinte Anspielung auf Wagners »Meistersinger« wurde von manchen Zeitgenossen gar als Sakrileg empfunden.
Es gibt zahlreiche Belege, die das geradezu Experimentelle der Konzeption des Finalsatzes untermauern. Allein schon das abrupte Ende der ersten »Festwiesen-Episode« wirkt noch heute wie eine bewusste Provokation. Völlig ohne Übergang wird einfach ein statischer As-Dur-Klang (Takt 51) angeschnitten, der das nächste Thema dann harmonisch vorbereitet. Man könnte es vielleicht mit einem filmischen Mittel, einem »Reiß-Schwenk« in der Kameraführung vergleichen. 
Das Spiel mit Allusionen und Zitaten (z.B. bemüht Mahler in diesem Zusammenhang auch den Schlusssatz von Schumanns 2. Sinfonie, dessen Aneignung von »C-Dur«) liefert weitere Hinweise in diesem Sinne. Die ständige Metamorphose des Materials, das Kommen und Gehen erinnert an eine Art wildes Würfelspiel, Kaleidoskop aus Vergangenheit und Gegenwart, Mischung aus Ernst und Humor, aus Bekanntem und scheinbar Bekanntem. 
Angesichts Mahlers profunder Kenntnis von Goethes »Faust« ließe sich mutmaßen, ob nicht in gewisser Hinsicht auch die Osterspaziergang-Szene und Fausts Sicht auf das bunte Gewimmel der vielen Menschengruppen samt dem Glockengeläut eine der Inspirationsquellen für diesen Satz waren. Die Tatsache, dass der komplette zweite Teil von Mahlers 8. Sinfonie auf Goethes Faust fußt, könnte einen weiteren Hinweis liefern. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass sich das zuletzt im 4. Satz extensiv zelebrierte Klopfmotiv (mit der jeweils charakteristischen Tonwiederholung) gegen Ende des Satzes zum Anfang von »Morgen kommt der Weihnachtsmann« ergänzt, nachdem schon zuvor eine »Rute« im Orchester ihren Auftritt bekommen hat. Die türkisch gefärbte »Janitscharen-Musik«, die man u. a. aus Mozarts »Entführung« kennt, scheint sogar noch einen Hinweis auf die vorderasiatische Herkunft des Nikolaus zu liefern. Überhaupt trägt das gesamte Finale auf wunderbare Weise durchaus opernhafte Züge. 

Als jemand, der alle Sinfonien Mahler mehrfach dirigieren durfte, stellte sich im Laufe der Jahre bei mir persönlich folgender Effekt ein: Je länger ich mich mit Mahler im allgemeinen und mit der Siebten im Besonderen beschäftige, desto mehr kann ich dem doppelbödigen Reiz dieses zugegebenermaßen singulären Satzes abgewinnen.

In diesem Sinne hoffe ich sehr, dass wir unsere Freude an Mahlers 7. Sinfonie mit möglichst vielen von Ihnen teilen dürfen.

Roger Epple 

für die Aufführung im Mai 2022 mit Saarländischen Staatsorchester

Roger Epple.

Roger Epple zählt zu den profiliertesten deutschen Dirigenten seiner Generation. Nach festen Dirigentenpositionen an der Oper Leipzig und am Mannheimer Nationaltheater war er langjähriger Generalmusikdirektor am Opernhaus Halle und am Oldenburgischen Staatstheater.

Er dirigierte über 100 namhafte Orchester in Asien, Nord, Mittel- und Südamerika sowie Europa, z.B. die Rundfunksinfonieorchester von Paris, Amsterdam, Berlin, Dublin und Leipzig, des SWR, das Orchestre National de Belgique Brüssel, das Deutsche Sinfonieorchester Berlin, das Gewandhausorchester Leipzig, Sao Paolo Symphony Orchestra, Mexico City Philharmonic, das Shanghai Symphony Orchestra, das Singapore Symphony Orchestra, Royal Flanders Philharmonic, das National Symphony Orchestra of Taiwan, die meisten deutschen Staatsorchester und viele hervorragende Spezialensembles wie Concerto Köln und das Ensemble Modern.

Als Gastdirigent war er u.a. an der Staatsoper Berlin (Ariadne auf Naxos), an der Hamburgischen Staatsoper (Fidelio), an der Deutschen Oper Berlin (Zauberflöte), in Paris (Elegy for young lovers),an der Oper Leipzig (Cosí fan tutte), am Opernhaus Graz (Enrico), am Nationaltheater München (Kassandra), am Aalto-Theater Essen (Rake’s Progress), an der Stuttgarter Staatsoper (Wozzek), an der Oper Köln (Das schlaue Füchslein) tätig sowie bei den renommierten Festivals in Luzern, Florenz, Verona, Dresden, Strasbourg und München.

Im Bereich des Musiktheaters dirigierte er inzwischen rund einhundert Produktionen, auf dem Konzertpodium hat er sich u.a. als ausgewiesener Spezialist für die Sinfonik Gustav Mahlers etabliert. Der Echo-Klassik- und BMW Musiktheater-Preisträger spielte zahlreiche CDs u.a. für die Labels Sony Classical, Teldec, Wergo, Capriccio und CPO ein. Über 40 Uraufführungen von Komponisten aus aller Welt belegen sein Interesse für die Musik der Zeit – er hat sich aber auch immer wieder für die Wiederentdeckung von vergessenen Kompositionen stark gemacht (so z.B die Uraufführung von Werken von Egon Wellesz, Berthold Goldschmidt oder Paul Dessau).


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Der Dramaturgieschreibtisch

Else Lasker-Schüler-Dramatikpreisverleihung

Die Stückepreise gehen an Ariane Koch (»Die toten Freunde (Dinosauriermonologe)«), Patty Hamilton (»Peeling Oranges«) und Svenja Viola Bungarten (»Die Zukünftige«), die aus 100 Einsendungen von einer Jury ausgewählt wurden.

Nach einer Begrüßung durch die Intendanten Markus Müller (Mainz) und Urs Häberli (Kaiserslautern) und einem Musikbeitrag aus dem Else Lasker-Schüler Zyklus op.26A von Wilhelm Rettich verleiht die Ministerpräsidentin Malu Dreyer die Preise.

Sätze wie »Kultur ist das Herz der Gesellschaft«, »Theater und Kultur stehen für eine freiheitliche Welt und eine freie Gesellschaft« oder »Wir sind stolz auf unsere Theater« werden gesagt.

Es folgt eine szenische Lesung von Lisa Eder aus »Worst Case« von Kathrin Röggla, eine Laudatio von Dr. Frank Raddatz und Dankesworte von Kathrin Röggla.

Die Jury fand folgende Worte zum Schaffen Kathrin Rögglas:

Mit Kathrin Röggla wird eine Dramatikerin geehrt, die sich nicht scheut, gegenwärtige Themen aus dem Mittelpunkt unserer Gesellschaft in den Fokus ihrer Stücke zu nehmen. Die gebürtige Salzburgerin schafft es, mit Rhythmus, Bildlichkeit und Gestik hoch reflektierte Antworten auf das zu geben, was sie als forcierte Denkerin und Aktivistin wahrnimmt. Ihre Figuren werden sich selbst fremd, sie sprechen gerne im Konjunktiv oder in der dritten Person von sich selbst und spiegeln den Wahn nach Optimierung und der damit einhergehenden Überforderung wider. Um diesen realistischen Eindruck zu gewinnen und auf der Bühne darbieten zu können, hat Kathrin Röggla vor Ort für ihre Stücke recherchiert und Interviews mit in dieses Raster passenden Menschen geführt.

Nach einem Stehempfang steht die Vorstellung vom Pfalztheater Kaiserslautern »Der Popper« von Caren Jeß, der Stückepreisträgerin aus dem Jahr 2020 in einer Inszenierung von Ingo Putz, auf dem Programm.

Am 2. April 2022 hat die Uraufführung von Kathrin Rögglas Stück »Verfahren« Premiere in der Alten Feuerwache. Die Schriftstellerin und Dramatikerin kondensiert den fünf Jahre währenden Prozess um den NSU als literarische Zeitzeugin für uns in einen Theaterabend, der vielstimmig den Prozess und mit ihm verbundene Ängste und Erfahrungen offenlegt. Es ist kein Dokumentartheater, sondern ganz klar eine fiktive Grundsituation unter zivilen Prozessbeobachter*innen, die ein Wunsch eint: zu verfolgen, dass Recht Gerechtigkeit schafft.

Im Anschluss an die Vorstellungen am 27.04. und 19.05. gibt es die Möglichkeit, über das Gesehene zu sprechen. Unter dem Titel »Im Gespräch bleiben: Rassismus und Rechtsextremismus heute« lädt Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb mit der Initiative Yalla! und dem Adolf-Bender-Zentrum zum Nachgespräch.


Horst Busch,
Chefdramaturg und Künstlerischer Leiter Schauspiel

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Der Dramaturgieschreibtisch

Nationaler Gedenktag für die Opfer von Terrorismus

Die Bundesregierung hat am 16.02.2022 die Einführung eines Nationalen Gedenktages für die Opfer terroristischer Gewalt sowie dessen jährliche Begehung ab dem 11. März 2022 beschlossen. Der 11. März knüpft an den Europäischen Gedenktag für die Opfer des Terrorismus an, der nach den Bombenanschlägen in Madrid vom 11. März 2004 eingeführt wurde. Die Europäische Union gedenkt seit 2005 jährlich den Opfern terroristischer Gräueltaten weltweit.

Der 11. März ist heute.

Streetart entlang der Saar erinnert an die Opfer des rechtsextremen Terroranschlags in Hanau. Foto © Bettina Schuster Gäb.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte dazu: »Auch in den letzten Jahren haben furchtbare terroristische Taten wie das islamistische Attentat am Berliner Breitscheidplatz und die rechtsterroristischen Anschläge in Halle und Hanau unser Land erschüttert. Islamistische, rechtsextremistische und linksextremistische Anschläge haben in der Nachkriegsgeschichte großes Leid verursacht.

Wir wollen, dass das Schicksal der Opfer und ihrer Angehörigen uns allen in Staat und Gesellschaft bewusster ist. Wir wollen, dass die Opfer nie vergessen werden. Wir denken auch an die Menschen, die verletzt und traumatisiert wurden. Die Anschläge haben das Leben vieler Menschen dramatisch verändert. Viele kämpfen sich mit großer Kraft zurück ins Leben. Wir dürfen sie dabei nicht alleinlassen. Wir wollen die Betroffenen und ihre Familien mit mehr Empathie und Sensibilität unterstützen – in allen staatlichen Stellen.

Für all dies steht der Nationale Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt, den wir ab diesem Jahr immer am 11. März begehen. Dieser Tag wird ein Tag der Erinnerung, des Mitgefühls, aber auch der Mahnung sein, mit aller Entschlossenheit gegen terroristische Bedrohungen vorzugehen.«

Die gesamte Pressemitteilung des Bundesministerium des Innern und für Heimat finden Sie hier: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2022/02/gedenktag-terroropfer.html

Die Namen der Opfer des rechtsextremen Terroranschlags in Hanau an einer Häuserwand entlang der Saar. Foto © Bettina Schuster Gäb.

Am 2. April 2022 hat die Uraufführung von Kathrin Rögglas Stück »Verfahren« Premiere. Die Schriftstellerin und Dramatikerin kondensiert den fünf Jahre währenden Prozess um den NSU als literarische Zeitzeugin für uns in einen Theaterabend, der vielstimmig den Prozess und mit ihm verbundene Ängste und Erfahrungen offenlegt. Es ist kein Dokumentartheater, sondern ganz klar eine fiktive Grundsituation unter zivilen Prozessbeobachter*innen, die ein Wunsch eint: zu verfolgen, dass Recht Gerechtigkeit schafft.

Im Anschluss an die Vorstellungen am 27.04. und 19.05. gibt es die Möglichkeit, über das Gesehene zu sprechen. Unter dem Titel »Im Gespräch bleiben: Rassismus und Rechtsextremismus heute« lädt Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb mit der Initiative Yalla! und dem Adolf-Bender-Zentrum zum Nachgespräch.

Bettina Schuster-Gäb und Frederike Krüger,
Dramaturginnen

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Politik und Musik

Über die Unfreiheit der Musik im Unpolitischen

»Es affiziert mich Alles, was in der Welt vorgeht: Politik, Literatur, Menschen – über Alles denke ich in meiner Weise nach; was sich dann durch Musik Luft machen, einen Ausweg suchen will.« Diese Worte Robert Schumanns, der mit wachem Geist die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgte, haben bis ins Heute nichts an ihrer Wirkkraft verloren. Verweisen sie doch auf das große Potenzial der Musik und die damit verbundene Wirkungsfähigkeit, durch ihre Performanz und das musikalische Erleben zur Verarbeitung und Spiegelung außermusikalischer Eindrücke und Prozesse beizutragen.

Dabei charakterisiert sich dieses Potenzial jedoch nicht nur als Kür, sondern auch als Pflicht, in dessen Bezugsrahmen sich auch eine Spaltung vollziehen kann: Nämlich die Trennung zwischen dem Anspruch der Musik als autonome Kunst und der Gefahr ihrer Instrumentalisierung zur gesellschaftlichen und staatlichen Repräsentation und Machtkonsolidierung bzw. Machterosion bis hin zum Missbrauch durch totalitäre Systeme.
Auch der Künstler oder die Künstlerin muss sich immer wieder der Frage nach ihrer eigenen Autonomie angesichts sozialer und politischer Konstellationen stellen; ein Umstand, der nur allzu oft mit äußeren Erwartungen, der Romantisierung des politischen (Wider-)Stands und der Rezeption dessen kollidiert.  Vor diesem Hintergrund charakterisiert sich die Musik als das, was sie ist: Ein Spannungs- und Inspirationsfeld zwischen Emotion und Ratio, zwischen Autonomie und (Sach-)Zwang, deren Betrachtung interdisziplinäre, intersektionale Perspektiven erfordert.
Dabei lässt sich der Mehrdimensionalität der Musik als historischem wie ästhetischem Phänomen nur Rechnung tragen, wenn man die vielfältigen Dynamiken von gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozessen, die von Musik eingeleitet oder begleitet werden, berücksichtigt. Dort ist die entscheidende Frage nicht, ob Musik politisch ist, sondern wie und mit welchen Mitteln sie als Instrument zur Konsolidierung oder auch zu Destabilisierung von Staats- und Gesellschaftsformen eingesetzt worden ist. Und wird.
Einhergehend mit den Fragen nach dem durchaus ambivalenten Abhängigkeitsverhältnis von Politik und Musik, drängen sich weitere auf … Wie frei ist die Kunst? Bedeutet Freiheit = neutral? Und behelfen wir der Kunst mit dem Anspruch, sie stehe über allem, wirklich zu einer Autonomie? Um welchen Preis? Ist die Musik also ein kunstvolles Spiel mit Tönen, Klängen, Harmonien, Rhythmen? Drückt sie immer etwas aus? Beschreibt sie einen Gegenstand, einen Sachverhalt, ein Gefühl? Dient sie gar einem Zweck? Ja. Und Nein. Welche politischen Dimensionen die Musik erfüllt, ist abhängig von den jeweiligen zeitgenössischen Verhältnissen und Visionen. Und der Streit über die Autonomie der Musik ist wohl so alt wie die Kunstform selbst, zu dem die Komponisten verschiedener Jahrhunderte ihren Beitrag beisteuerten, ob sie wollten oder nicht. Das Publikum übrigens genauso. Ob es will oder nicht.

Im 5. Sinfoniekonzert stehen zwei Komponisten auf dem Programm, deren Werden und Wirken als Kunstschaffende in besonderem Maße von der ambivalenten Abhängigkeit von Politik und Kunst geprägt war.
1946 wurde Pēteris Vasks in der lettischen Kleinstadt Alzpute als Sohn eines Pfarrers geboren – zu einer Zeit, in der das Land im Zuge des Zweiten Weltkriegs als Lettische Sozialistische Sowjetrepublik der Sowjetunion angegliedert worden war. Die Eindrücke seiner Kindheit wurden vom staatlichen Terror des sowjetischen Zentralregimes bestimmt: Massendeportationen und Zwangsumsiedlungen auf der einen Seite, gelenkter Zuzug von Menschen aus anderen Reginen der UDSSR auf der anderen Seite. Die Regierung der Sowjetunion verfolgte eine massive Politik der »Russifizierung« des Baltikums.

Vasks musste mit ansehen, wie Unschuldige aus ihren Häusern vertrieben und in sibirische Straflager verschleppt wurden. Stalins Tod 1956 sollte keineswegs so etwas wie Wiedergutmachung bedeuten – den Überlebenden des politischen Terrors wurde das strikte Verbot ausgesprochen, über das erlebte Unrecht zu reden. Schon früh sollte die Musik ein Weg Vasks sein, seinen erschütternd prägenden Erlebnissen einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen.
Auch das Leben Schostakowitschs war geprägt von den Eindrücken des sowjetischen Terrorregimes. Ein Umstand, der sich in besonderer Weise auf die Betrachtung seiner Musik auswirkte. Vor dem Hintergrund der omnipräsenten existenziellen wie künstlerischen Gefahr, denen Schostakowitsch als Mensch und Musiker ausgesetzt war, ist die Rezeption seiner Musik nahezu ideologisch überfrachtet. Es scheint fast zur Gewohnheit geworden sein, in jedem seiner Töne nach Hinweisen auf eine Art der Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten seiner Zeit zu suchen. Kein Wunder, überlebte Schostakowitsch doch nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch eine Diktatur, in der der Künstler den massiven Schikanen der Kulturbehörden ausgesetzt war und seine Genese als Komponist mit dem Aufstieg des totalitären Stalin-Regimes zusammenfiel. Propaganda und Sozialismus auf der einen Seite, Verbote und Verfolge auf der anderen bestimmten den Alltag. Und damit die Musik.

Denn die Musik ist Alltag. Sie ist artifiziell, sie ist hypothetisch, sie ist intellektuell, sie ist sinnlich, sie ist politisch oder gar polemisch. Sie spiegelt die Gesellschaft, genau so wie sie sie formt. Sie kann Identität stiften, genauso wie sie Identität abbilden kann. Und Identität ist immer politisch.

Nun ist angesichts des immer komplexer werdenden Weltgeschehens, einer Nachrichten- und Weltenlage, die mehr einer Dystopie denn Utopie gleicht, dieser Wunsch nach Eskapismus, der mit dem Bedürfnis der vermeintlich unpolitischen Freiheit der Kunst einhergeht, nur allzu verständlich. Doch ist es nicht eine der großen Qualitäten, der Musik, dass sie mit den Originären Mitteln der Kunst einen politischen Diskurs erzählt und damit sinnlich wirken lässt?

Wer also jederzeit und immer von der (politischen) Freiheit der Musik ausgeht, setzt damit aufs Spiel, dass es sie irgendwann nicht mehr geben kann. Die Freiheit. Der beraubt die Kunst nicht mehr nur ihrer Dimension und Relevanz, sondern auch ihrer Widerstandsfähigkeit.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

Weitere Informationen sowie Karten für das 5. Sinfoniekonzert finden Sie hier.

 Als Informationsquelle für diesen Beitrag diente der Sammelband »Musik – Macht – Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne«, herausgegeben von Sabine Mecking und Yvonne Wasserloos. Erschienen bei V & R unipress, Düsseldorf 2012.