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Wiener Moderne vs. Londoner Kosmopolitismus

Benjamin Wäntig Gustav Holsts »Savitri« und Arnold Schönbergs »Erwartung« sind meines Wissens noch nie zusammen aufgeführt worden. Die zeitlichen Umstände bringen die Komponisten nah zusammen: Sie sind beide im September 1874 geboren und arbeiteten parallel 1908 an diesen Stücken, die aber in völlig andere Welten führen. Was trennt, was verbindet sie?

Julius Zeman Der kulturgeschichtliche Hintergrund von Schönberg in Wien und Holst in London ist trotz der Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlich. Schönberg war im Wien des frühen 20. Jahrhunderts im Zentrum der anbrechenden Moderne, konfrontiert mit den künstlerischen Revolutionen, mit dem neuen Menschenbild der Psychoanalyse – mit all diesen neuen Strömungen, die erst einige Jahre später in England ankamen. Holst war stark in der britischen Musiktradition verwurzelt, entdeckte um die Jahrhundertwende die Mythologie Indiens, damals noch Kronkolonie des weltumspannenden British Empire. Er hat sich viel von Reisen in die Ferne inspirieren lassen und sogar Sanskrit gelernt. Sein Ansatz, aber auch das Klima Londons insgesamt war kosmopolitischer.

BW Was folgt daraus für ihre Musik?

JZ Schönberg verabschiedete sich in diesen Jahren von der über Jahrhunderte vorherrschenden Tonalität. Bis zur Entwicklung seiner berühmten Zwölftontechnik sollten allerdings noch einige Jahre vergehen. In Bezug auf »Erwartung« sprach er von »freier Atonalität«. Das heißt, dass sich klassische harmonische Muster, wie wir sie aus der tonalen Tonsprache kennen, zum Beispiel Kadenzen, auflösen. Das geht Hand in Hand mit dem Text von Marie Pappenheim, in dem sich Gedanken in einem freien Fluss entfalten. Sie lösen einander in einem Bruchteil von ein paar Wörtern ab, bleiben oft unabgeschlossen. Es geht Schlag auf Schlag in schockartigen Kontrasten und die Musik folgt dieser zerrissenen Struktur. Marie Pappenheim, eine Ärztin, deren Bruder später zum direkten Kreis um Sigmund Freud gehörte, und Schönberg trafen durch ihren gemeinsamen Freundeskreis aufeinander. Er erzählte ihr, dass er endlich zum ersten Mal ein Bühnenwerk schreiben wolle, und bat sie um einen Text. Dem kam sie innerhalb von kürzester Zeit im Sommerurlaub nach. Sie berichtete Schönberg in einem Brief, wie sie auf einer Wiese lag und auf ganz spontane Art und Weise dichtete.

BW Die Surrealisten hätten später von »écriture automatique« gesprochen. Und Schönberg folgt dieser Dramaturgie?

JZ Ja, er komponiert sehr genau am Wort entlang. Auch wenn es einige strukturell genau kalkulierte Momente gibt, bleibt der Verlauf des Stücks überraschend. Es gibt auch keine »mathematische« Durchorganisation wie in späteren zwölftönigen Werken. Man merkt der Komposition ihre Spontanität an. Am ehesten spürt man eine übergeordnete Spannungskurve: ein verhaltener Beginn, der in den ersten drei kurzen Szenen schnell an Intensität zunimmt, eine lange zentrale Szene voller dramatischer Ausbrüche und ein kurzer Epilog, in dem sich die Musik quasi auflöst. Überhaupt ist die ganze Form des Monodrams, also ein Bühnenwerk mit nur einer Sängerin, fast ohne Vorbilder.

BW Was zeichnet Holst demgegenüber aus?

JZ »Savitri« ist überhaupt nicht spontan entstanden. Ihr geht eine jahrelange intensive Beschäftigung mit der indischen Mythologie voraus. Holst verarbeitet eine Episode aus dem Epos »Mahabharata«, erzählt sie aber in einer eigenen Deutung – wie auch in »Sita« –, indem er etwa eigene Vorstellungen von indischen philosophischen Konzepten wie der Illusionskraft Maya einfließen lässt. Entsprechend gründlich geplant ist auch die Komposition, die fast meditative Züge trägt.

Während Schönberg in dieser Zeit seinen Wandel hin zur Atonalität vollzog, entwickelte sich auch Holst weiter: weg von der großgesetzten Oper in der Wagnernachfolge wie noch bei »Sita« hin zu kürzeren, schlichteren Formen.

Obwohl die musikalischen Handschriften in beiden Stücken so unterschiedlich sind, haben wir jetzt bei den Proben Bestätigung dafür gefunden, wie gut sie sich ergänzen. Nicht nur durch den musikalischen Kontrast: Auch die inhaltliche Verbindung, die Fabian Sichert in seiner Inszenierung vornimmt, funktioniert sehr gut.

BW Was sind denn die musikalischen Herausforderungen solch unterschiedlich klingender Stücke?

JZ Bei »Savitri« wird es vor allem räumlich interessant, weil Orchester und Chor für die Zuschauer*innen unsichtbar hinter einer Wand positioniert sind. Mit den Sänger*innen kommuniziere ich nur per Monitor, was eine Herausforderung ist. Auch Holst hat sich im Übrigen für dieses Stück einen indirekten Klang vorgestellt. Das wird beim Zuhören sicher spannend, da man die Quelle und Richtung der Klänge nicht immer orten können wird. Besonders ist die Mischung der Klangfarben des Instrumentalensembles und des Damenchors. Die Chorpartie ist ganz anders als der Großteil der Literatur für einen Opernchor: Sie besteht nur aus Vokalisen, erfordert eine große Vielfalt von Dynamik und ist klanglich in den Orchestersatz integriert. Holst erweitert so die Klangfarbenpalette durch die Fülle an Schattierungen der menschlichen Stimme – mit wundervoller Wirkung.

»Erwartung« ist mit seiner komplexen, polyphonen Partitur zunächst einmal eine große Organisationsaufgabe. Eigentlich sieht Schönberg für das Stück einen riesigen Orchesterapparat vor. Wir spielen es jedoch in einer Kammerfassung für 17 Musiker*innen, wobei trotz der Reduktion nahezu alle Klangfarben aus der Originalfassung gewahrt bleiben. Es spielen nur alle als Solist*innen, sind gleichberechtigt und tragen die gleiche Verantwortung für ihre technisch und rhythmisch sehr herausfordernden Parts. Das kommt Schönbergs Vorstellungen von der Demokratisierung der Töne und des Orchesters entgegen. Dirigentisch ist das Stück wegen vieler Taktwechsel und ruckartiger Tempoänderungen anspruchsvoll, vor allem in der zweiten Hälfte. Das bedeutet, dass alle dieselbe Vorstellung vom jeweils nächsten Tempo haben müssen, weil ich diese Tempi beim Dirigieren nicht – wie sonst häufig möglich – durch Auftakte antizipieren kann. Außerdem verführt die enorme Spannung des Stücks dazu, dass viele Stellen zu intensiv und laut werden, obwohl Schönberg sehr genaue und differenzierte Dynamiken vorschreibt.

BW Du bist ja Korrepetitor und Kapellmeister am Saarländischen Staatstheater und hast schon in etlichen Vorstellungen am Pult des Saarländischen Staatsorchesters gestanden. Diese Produktion ist nun die erste, die du hier am Haus komplett in eigenen Händen hast. Wie sind deine Erfahrungen damit?

JZ Es ist ein schönes Gefühl, komplett eine eigene Interpretation gestalten zu können. Meine Erfahrungen, die ich als Dirigent an diesem Haus bisher gemacht habe, waren Nachdirigate, bei denen man sich weitgehend nach dem richtet, was die Kolleg*innen zuvor erarbeitet haben. Zwar beobachte ich viele Proben oder spiele auch am Klavier im Orchester mit, aber es kommt seltener vor, dass ich ganze Proben leite. Insofern ist das jetzt eine tolle und wichtige Erfahrung, ein Glücksgefühl, dass ich von Grund auf eine Interpretation mit dem Orchester erarbeiten kann.

Dazu kommt natürlich auch die Arbeit mit den Sänger*innen, die mich schon seit meiner Kindheit begleitet und mir immer eine große Freude ist. Gerade bei solch eher unbekannten und komplizierten Werken ist es wichtig, dass man sich von Vornherein auf ein musikalisches Konzept verständigt. Zur Freude am Musizieren in dieser Produktion trägt bei, dass alle – Soli, Chor und Orchester – die Stücke auf sehr hohem Niveau vorbereitet haben. Wenn alle wissen, wo wir musikalisch hinwollen, kann man sich besser auf die szenischen Proben konzentrieren und Hand in Hand mit der Szene immer mehr Feinheiten erarbeiten.

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Nagellack ist für alle da!

Hallo, mein Name ist Pauline Stiller und ich mache momentan ein Praktikum im Staatstheater in der Theaterpädagogik. In den ersten beiden Wochen durfte ich bei der Produktion »Blutbuch« helfen und zusehen. Ich habe viel gelernt und bin tollen Menschen begegnet, wofür ich sehr dankbar bin. Anfangs war die Situation noch neu für mich und ich musste mich erst daran gewöhnen, doch mit der Zeit habe ich gemerkt, wie wichtig aber auch sensibel das Thema des Stückes ist. Deshalb möchte ich euch heute ein wenig von meiner Sicht und zu dem Thema erzählen.

In meiner Kindheit wurde ich sehr tolerant und offen erzogen, weshalb es für mich nie ein großes Thema ist, wenn jemand »anders« ist. In dem Stück habe ich erst gemerkt, wie schwierig es manchmal ist »anders« sein. Mir ist auch aufgefallen, wie oft wir, auch wenn es unbewusst passiert, die genderqueere Personen in Schubladen stecken und nicht einsehen wollen, wer sie sind. Und oft reicht es nicht nur »tolerant« zu sein, sondern wir sollten sie schützen, respektieren und sie so behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen. Ich habe auch gemerkt, wie wichtig es ist, jeden Menschen mit Respekt und Offenheit zu begegnen, unabhängig von seiner Identität. Und vielleicht ist das der wichtigste Schritt, dass wir den Mut haben, auf andere zu zugehen, ihnen zu zuhören und das Leben so zu feiern, wie es ist.

»Blutbuch« ist mehr als nur ein Theaterstück. Es ist ein Aufruf, die Grenzen zu sprengen, die uns daran hindern, wir selbst zu sein. Falls du also Lust hast, ein Stück in die richtige Richtung zu gehen und einen tollen Theaterabend zu erleben, empfehle ich dir das Stück von Herzen.

Ich wünsche mir für die Zukunft, dass jeder so leben kann, wie mensch möchte, ohne dafür kritisiert zu werden.

Buchempfehlung von Luca Pauer zum Thema „genderqueeres Leben“.
(Vielen Dank an „Der Buchladen“ in der Försterstraße)
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Schein-Heiliger Abend im Familienkreis

Evelyn reicht’s: Jahrelang hat sie sich abgemüht, um das perfekte Weihnachtsfest für ihre Familie zu zaubern, gedankt hat es ihr keine*r. Darum bucht sie nun eine Reise nach Thailand, mit im Gepäck ihre beste Freundin Ada und ihre erwachsenen Kinder Iris und Simon nebst Anhang. Trotz Sonne und Strand merken sie schnell: Egal, wohin man reist, sich selbst nimmt man immer mit, inklusive aller Widersprüche und Konflikte.

Gesa Oetting »Tradition is just peer pressure from dead people.« (Übersetzung: Tradition ist nur Gruppenzwang der Toten) – dieses Zitat stellen Sie Ihrem Stück voran. Sind Traditionen wie solche an den Weihnachtstagen durchweg überholt, oder gilt es, sie neu zu denken?

Rebekka Kricheldorf Ich halte die Traditionspflege für sehr ambivalent. Sie bedeutet einerseits, eventuell völlig unreflektiert Praktiken zu reproduzieren, einzig aus dem Grund, weil man es halt immer schon so gemacht hat. Dann werden Rituale hohl, weil der religiöse Ursprung verloren ging, oder grausam, wenn sie, wie im Stierkampf, heutigen ethischen Standards zuwiderlaufen, oder sexistisch, wie bei augenzwinkernd-harmlosen, aber im Kern misogynen Bräuchen wie dem Brautstrauß-Werfen.

Aber Traditionen können ja auch identitätsstiftend sein. Sie geben dem Leben Struktur, halten Gemeinschaften zusammen, bieten Anlass zu Feier und Besinnlichkeit. Also würde ich für einen affirmativen, aber kritischen Umgang mit Traditionen plädieren.

Es ist kein Wunder, dass gerade Weihnachten in der Literatur ein so beliebtes Sujet ist, da zu diesem Fest eine Vielzahl an Erwartungen, Werten und Vorstellungen aufeinanderprallen. Und es kann auch einen Anlass bieten, wie in meinem Stück, darüber zu debattieren, was Familie überhaupt ist.

GO Scharfe Sticheleien, unliebsame Wahrheiten und eine Familie, die sich wortwörtlich an die Gurgel geht – das Weihnachtsfest in Ihrem Stück hält mit viel Humor und Wortwitz alles parat. Spaß beiseite – hat das Konzept »Kernfamilie« ausgedient?

RK Wenn man sich weltweit umsieht, in welchen Gemeinschaftsformen Menschen sich organisieren, kann man diese Frage nur mit einem klaren Nein beantworten. Die Kernfamilie – schon oft totgesagt, kritisiert, satirisch attackiert – erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Ihr Fortbestehen füllt auch die Kassen der Therapeuten, denn auch als Keimzelle der Neurose hat die Familie nach wie vor Gültigkeit. Familie bedeutet Halt und Geborgenheit, aber ebenso auch Verletzung und Trauma.

Ich finde alle Denkansätze interessant, die versuchen, den Familienbegriff neu zu denken. Wenn die klassische Familie so konfliktbehaftet ist, wäre dann eine Wahlfamilie nicht das bessere Konzept? Sollten Freunde und Freundinnen nicht denselben oder gar einen höheren Stellenwert haben wie Verwandte? Auch eine feministische Kritik an der Familie als Ausbeutungsapparat weiblicher Arbeitskraft finde ich schlüssig, das klingt in meinem Stück ja auch ein bisschen an.

In »Mehr Lametta am Meer« streiten die Figuren ja auch heftig darüber, wer zur Familie gehört und wer nicht. Die beste Freundin? Der Lover? Ich finde es wichtig, in meinen Stücken solche alternativen Familienentwürfe zur Debatte zu stellen und ein Nachdenken darüber anzuregen.

GO Bei Evelyn und Co kollidieren Lebensentwürfe und Ideale: Vegetarische Ernährung versus Plastik in Form von Lametta am Baum – kann man noch einen nicht schein-Heiligen Abend verbringen?

RK Für jemanden, für den Fleischverzehr Tiermord ist, oder der im Jungfrauenkult zutiefst misogyne Strukturen am Werk sieht, war der Heilige Abend vielleicht noch nie „heilig“ im Sinne von: ethisch unbedenklich, unschuldig und rein. Aber im Grunde sind wir scheinheilig in allem, was wir tun, nicht nur an Weihnachten, sondern auch über den Rest des Jahres. Das würde ich nicht allzu sehr verteufeln, es ist ziemlich menschlich. Wir sind eben inkonsequente Lustmenschen, faul und verführbar, hedonistisch und bequem. Dafür sollten wir uns nicht ständig geißeln, sondern einfach mal dazu stehen und gucken, wie wir mit dieser Disposition arbeiten könnten. Das bedeutet, dass wir im Klimaschutz nicht weiterkommen, wenn wir uns ständig gegenseitig unsere individuellen (Umwelt)-Sünden vorrechnen, sondern eher mit einem großen, eventuell radikalen, politischen Konzept.

GO Trotz Klima-Krise und dem Bewusstsein für den eigenen CO2-Verbrauch erlebt die Tourismusbranche steigende Zahlen. In »Mehr Lametta am Meer« zerrupfen Tiere nach und nach die Weihnachtsdeko – die Natur, die zurückschlägt? Sind wir noch zu retten?

RK Angesichts der immer größer werdenden Probleme mit dem Overtourism wäre es höchste Zeit zum Umdenken. Wir müssten Arbeit und Freizeit, Abenteuer und Erholung komplett neu definieren. Auch da sehe ich wenig Sinn in Appellen an individuellen Verzicht, sondern eher den Bedarf nach schärferen Regeln, der Verteuerung von Flugreisen zum Beispiel oder (was viele überforderte Städte ja schon machen) eine tägliche Besucher-Obergrenze. Das schließt direkt an meine Antwort auf die letzte Frage an: Den Ruf nach einem großen, politischen Konzept. Angesichts der aktuellen Weltlage bin ich persönlich da eher pessimistisch. Wenn wir schon allein in Deutschland keine mickrigen Zugeständnisse an den Klimaschutz hinbekommen, wie soll das global funktionieren?

Also ist das Schlussbild, dass nach unserem – immer wahrscheinlicher werdenden – Verschwinden die Tiere sich die Erde zurückerobern und die Überbleibsel unserer Kulturleistungen und religiösen Rituale fleddern werden, gar nicht so überzogen.

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Wir sind alle eine Bettwurst.

Zusammen ist man weniger allein

Es war in Kiel am Kai, da begegnen Luzi und Dietmar sich. Sie zeigt ihm die Stadt, beim Tanztee wird geschwoft, man beschnuppert sich, kommt sich näher im Schrebergarten, wie eine Liebe beginnt eben! Sie beschließen: Jetzt fängt ein neues Leben an. Und zwar gemeinsam, nicht mehr allein. Dietmar zieht bei Luzi ein, wird in die Geheimnisse des Staubsaugens eingeweiht, beim Weihnachtsfest liegt die berühmte Bettwurst (eine Nackenrolle, natürlich!) unter dem Baum und verloben tut man sich auch noch! Voller Enthusiasmus tanzen und singen Luzi, Dietmar und ihr Chor durch die Freuden des kleinbürgerlichen Liebesglücks, tanzen in die Liebe hinein. Alles könnte so schön sein, wären da nicht Dietmars kleinkriminelle Komplizen, die Luzi entführen.

Mehr ist mehr

1971 ist er erschienen, Rosa von Praunheims Film »Die Bettwurst«, und avancierte schnell zum Kultfilm. Nicht zuletzt wegen seiner Hauptdarsteller*innen, beides Laien: von Praunheims Tante Luzi Kryn und Dietmar Kracht, den von Praunheim in der Berliner Stricherszene »entdeckte«. Schonungslos exaltiert und höchst amüsant reiht sich »Die Bettwurst« in von Praunheims Filmästhetik im »Camp«-Stil ein. »Camp« ist die Liebe zur Übertreibung, die richtige Mischung aus Phantastik, Leidenschaftlichkeit und Naivität. »Camp« ist Leben als Theater, ist Parodie und Selbstparodie, immer gepaart mit Eigenliebe. »Es ist gut, weil es schrecklich ist …« (1) schreibt Susan Sontag 1964 in ihren Essay Anmerkungen zu ›Camp‹. Vermeintlich lächerlich, dilettantisch und eine Zurschaustellung des Banalen, zeichnet »Die Bettwurst« ein selbstironisch-scharfes und zugleich liebevoll-verspieltes Bild einer Liebesbeziehung.
Im Herbst 2022 kam das Musical in der Bar jeder Vernunft in Berlin zur Uraufführung. Inszeniert hat Rosa von Praunheim selbst, als Hommage an seinen Film, und an seine immer etwas zu laute, immer etwas zu schrille Tante »Luzi Superstar« und ihre unbeirrbare Selbstliebe.

Hemmungslose Hingabe

Da ist Luzi, Sekretärin in der Gerichtsmedizin, lebenslustig, in bunten Kleidern und einer Wohnung mit noch bunteren Tapeten. Den zweiten Weltkrieg und große Armut hat sie erlebt, bis sie aus Polen mit ihrer Mutter nach Kiel gekommen ist. Und da ist Dietmar – homosexuell, die Jugend im Erziehungsheim verbracht –, der seine kleinkriminelle Vergangenheit und Berlin hinter sich lassen will. Das Leben ist ein Abenteuer. Beide passen nicht so richtig rein in die Gesellschaft, und ins heteronormative Bild einer kleinbürgerlichen Partnerschaft passen sie schon gar nicht. Beide sind sie irgendwie auf der Flucht und auf der Suche nach Liebe und Glück, auf der Suche nach einem Platz – und finden ihn beieinander.
Und auf einmal gibt es Aussicht auf Verbundenheit. Ich habe ein Recht auf Liebe. Das übermäßige Streben nach Harmonie vereint, das Trennende wird ignoriert. Aus Not, aber auch aus Sehnsucht, denn: Zusammen ist man weniger allein. Zweckgemeinschaft im positivsten Sinne. Wir heilen alle Wunden nur mit Liebe. Behütet und beobachtet von ihrem Chor, Schicksalsgöttinnen gleich, malen Luzi und Dietmar mit großer Freude und noch größerer Hingabe über den Rand sämtlicher Klischee-Schablonen einer Paarbeziehung – und stoßen dabei auf ihre ganz eigene Art von Verbindung.
Die Bettwurst war ein Traum. Ein Traum von Akzeptanz: Lass das Gegenüber sein, wie es ist, ob schrill, ob bunt, ob laut, ob leise – wir sind alle eine Bettwurst. Egal wie und egal wen: Lieben ist erlaubt. Am besten fängt man gleich bei sich selbst an, denn was gibt’s Schöneres, als sich selbst zu lieben. Und so treffen sich Luzi und Dietmar im Himmel wieder, feiern sich und das Leben und ihre Liebe.

Gesa Oetting

(1) Anmerkungen zu ›Camp‹ in Susan Sontag: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt, 1982.

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»Ich will auch als Frau über geilen Scheiß schreiben!«

In »Von Fischen und Frauen« treffen sich zwei Frauen zufällig beim Angeln und kommen ins Gespräch. Der Untertitel lautet »Kleines, extrem harmloses Drama übers Angeln«. Dabei verhandeln die beiden eigentlich extrem un-harmlose, komplexe Themen wie Selbstverwirklichung oder Transgenerationalität, verpackt in scheinbar belangloses Plaudern beim Angeln. Wie kam’s zu dieser Kombination?

Es kam dazu, weil mir auffiel, dass an verschiedenen Theatern Männer einen lustigen kleinen Abend über irgendein cooles Hobby machten. »So einen Abend wollten wir einfach schon immer mal machen«, hieß es dann. Ich habe da ein starkes Ungleichgewicht empfunden, dass an uns als weiblich gelesene Personen die Erwartung besteht, dass wir uns mit explizit feministischen Themen auseinandersetzen müssen. Diese kleinen Hobby-Abende habe ich irgendwie als Provokation empfunden, obwohl sie sicher nicht so gemeint sind. Es hat nur eben gezeigt, welche Freiheiten wir uns manchmal nicht nehmen können. Natürlich will ich auch als Frau über »geilen Scheiß« schreiben, der einfach Spaß macht. Ich habe mir dann das Angeln ausgesucht, das stand für mich für ein ur-männliches Hobby. Beim Schreiben wurde dann schnell klar, dass bereits in dieser Anlage und Umkehrung automatisch so viele geschlechtsspezifische Themen sichtbar werden. Im entspannten Plauderton große Themen zu verhandeln fand ich ein interessantes Spannungsfeld. Das habe ich im Untertitel versucht einzufangen. Mir gefiel die Kombination aus extrem und harmlos, weil sich das für mich normalerweise kaum vereinbaren lässt. Vielleicht könnte man die Beschreibung als Modus für das Stück sehen. 

Bei deinem dramatischen Erstling »Ich, Akira. Monologstück für einen Hund mit einer Frage«, den du zusammen mit Leo Meier geschrieben hast, spricht ein Hund. Und in »Von Fischen und Frauen« kommt ein Urzeitfisch zu Wort. Was können Tiere ausdrücken, wozu Menschen nicht in der Lage sind?

In diesem konkreten Fall wartet eine Anglerin ja bereits ihr Leben lang darauf, diesen URZEITFISCH zu fangen, es wird den ganzen Tag über ihn gesprochen. Da fand ich es nur fair, ihn einmal selbst zu Wort kommen zu lassen. Was dieser dann zu sagen hat, ist eigentlich wieder recht »menschlich«. Das Schöne ist ja, dass aus der Perspektive der Schreibenden erstmal alle Figuren in der Lage sind, alles auszudrücken. Dass es da überhaupt keine Grenzen gibt, und alles denkbar ist, ist das Tolle am Theater! Außerdem sind Tiere in der Literatur ja oftmals sehr symbolträchtig oder wir projizieren viel in sie hinein. Damit zu spielen finde ich einen lustvollen Vorgang. Wenn solche Figuren im Theater vorkommen, ist in jedem Fall die Fantasie der Schauspieler*innen besonders gefragt. Ich hoffe, dass das Spaß macht!

Deine Figuren sprechen oft direkt mit dem Publikum – suchen sie Verbündete?

Als Schauspielerin waren für mich die besten Momente immer die, in denen ich in direkten Kontakt mit dem Publikum treten, es ansprechen konnte. Ich mag das immer sehr, wenn der Umstand nicht ignoriert wird, dass ein zuhörendes und zusehendes Publikum in diesem Moment real anwesend ist. Das ist für mich immer noch ein super magisches Setting und eine Konzentration, die es so sonst selten gibt. Diese Verbindung kann man ruhig stärken und etwas »Beziehungsarbeit« leisten, auch wenn es »nur« durch die Figuren geschieht. 

Du hast selbst Schauspiel studiert, wie beeinflusst dich deine Arbeit als Schauspielerin beim Schreiben?

Das beeinflusst mich immer und überall. Ich denke oft zuerst über einen Spielanlass nach und entwickle davon ausgehend die Szenen. Lese natürlich selber ganz oft laut, gebe die unfertigen Texte meinen Kolleg*innen und merke dann manchmal schon, was gestrichen werden muss, einfach weil es beim laut Aussprechen nicht »flowt« oder keinen Spaß macht. Ich gehe also mehr mit einer Spieldynamik los als mit einem Thema, und beides findet dann im Prozess hoffentlich zusammen.

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Treffen sich zwei Anglerinnen

»Ich liebe es. Ich liebe es, ich liebe es, ich liebe es. Ich liebe es. Meine Mutter liebte es und jetzt liebe ich es.«

Frühmorgens am See: Voller Vorfreude beginnt Anglerin1 ihren Tag. Da taucht Anglerin2 auf. Ungewöhnlich, unhöflich, fast unheimlich, denn eigentlich angelt es sich doch am besten allein. Aber schnell merkt Anglerin1: Anglerin2 ist ebenfalls ein waschechter Profi! Beide angeln schon ihr Leben lang an genau diesem See, nur an verschiedenen Angelplätzen. Und sie haben sogar denselben Lieblingsköder! Sie plaudern über das beste Equipment und ihre Mütter und Großmütter – selbstverständlich auch leidenschaftliche Anglerinnen, die ihr Wissen seit Generationen an ihre Töchter tradieren. Und das Fischen ist nicht nur Passion, es dient dem Lebensunterhalt der Familie!
Nicht lange, und die beiden offenbaren sich sorgsam gehütete Geheimnisse. Anglerin2 hat seit einem Jahr nichts mehr gefangen, und Anglerin1 erfährt, dass Angelregel Nummer 3, an die sie ihr gesamtes Leben geglaubt (»Keine Profi-Anglerin darf mehr als 55 Kilo wiegen.«), ja die sogar ihr ganzes Leben bestimmt hat, eine Lüge ist. Eine Lüge ihrer Mutter und Großmutter. Beide sind erschüttert in ihren Anglerinnen-Grundfesten.

»Sollten Sie heute noch fangen, dann ist alles ganz wunderbar und die Limitierung Ihrer Lizenz verfällt. Wenn nicht, tragen Sie leider offiziell nichts Relevantes zu unserer Gesellschaft bei und Sie wissen, was Ihnen dann blüht?«

Und dann gibt es da auch noch den Bootshausverleiher. Der ist unheimlich mitteilsam und stört die beiden permanent. Doch damit nicht genug! Er hetzt den beiden Anglerinnen die Fischereiaufsicht auf den Hals. Und die sagt klipp und klar: Entweder die Anglerinnen fangen heute noch was, oder sie verlieren ihre Angellizenz. Womit der Bootshausverleiher allerdings nicht gerechnet hat: Die Fischereiaufsicht hält nicht nur Auflagen für die Anglerinnen parat, auch er selbst kriegt Butter bei die Fische – er muss sein Haus abbauen, es ist zu nah am Wasser gebaut. Zu allem Übel zieht nun auch noch ein Sturm auf… Gelingt es den beiden Angelrinnen, einen Fisch zu landen? Am besten sogar einen Urzeitfisch?!

»Wie schade, dass mein Lebensziel nicht der glücklichste Tag ist, sondern der URZEITFISCH.«

Was als harmlose Angel-Plauderei mit kleinen, feinen Fangfragen beginnt, lässt bald in die tiefsten Tiefen der See(le) blicken. Bleibt man immer Kind seiner Eltern? Wie kann man sich von den Wünschen und Prägungen durch Erziehung und Umwelt, von einem »Das haben wir schon immer so gemacht!« lossagen? Wie geht man trotz (Versagens-)Ängsten seinen eigenen Weg? Welche Traditionen und Geschichten lohnen sich zu bewahren, und von welchen kann man sich getrost verabschieden? Wie gehen Frauen miteinander um, wenn es um persönliche und berufliche Selbstverwirklichung geht? Wie dem Erwartungsdruck entgegentreten, den die Gesellschaft an Frauen richtet – erwerbstätig zu sein und gleichzeitig Mutter, und darüber natürlich auch noch stets glücklich? Und am besten mit Idealgewicht.

Der Text von Noëlle Haeseling steckt voller Symbole und Doppelbödigkeiten, die Regisseurin Theresa Thomasberger in ihrer Inszenierung fein auslotet. Irgendetwas ist anders, merkwürdig, fast unheimlich an diesem Kosmos der Anglerinnen, der auf den ersten Blick so harmlos scheint. Es sind nicht nur die umgekehrten Vorzeichen der binären Geschlechterwelt, mit denen absurd und äußerst humorvoll jongliert wird – es sind die Figuren, hinter deren arglosem Geplauder immer noch etwas mehr steckt. Jede*r hat ein Geheimnis, das unter der Wasseroberfläche des Sees, unter dem Nebel, schlummert. Das Geheimnisvolle, Traumhafte à la David Lynch und »Twin Peaks« waren nicht nur für die Kostüme von Mirjam Schaal, sondern auch für die Musik von Oskar Mayböck große Inspiration. Das Bühnenbild (ebenfalls von Mirjam Schaal): Zwei vereinzelte Steine für zwei vereinzelte Anglerinnen, dazu ein Bootshaus, in dem sich der Bootshausverleiher nahezu verbarrikadiert – Sozialkontakte, der Umgang mit dem Gegenüber, scheinen die Protagonisten zu überfordern.

»Es kommt gar nicht auf die richtigen Gedanken beim Warten an. Es kommt darauf an, ob im See noch Fische sind oder nicht.«

Die beiden Anglerinnen warten. Warten auf Fisch. Der Fang des Urzeitfisches, »sehr gruselig und sehr mysteriös«, ist es dann auch, der das Leben an Land endgültig ins Wanken bringt. Als Verkörperung von Geschichte und Tradition kommt er aus der Tiefe des Sees und macht die tiefen Ängste, Sehnsüchte und Zweifel der Figuren sichtbar. Anglerin1 sieht sich mit einer Lüge konfrontiert, die sie an allem zweifeln lässt, aber schließlich eine Weiterentwicklung ermöglicht. Anglerin2 ist die Freude am Angeln vergangen, weil alles immer Sinn und Zweck haben muss. Versagensängste blockieren sie – sie kann sich nicht befreien vom Erwartungsdruck ihrer Familie, den besten Fang zu landen. Doch wie lange lohnt es sich zu warten? Wann muss man akzeptieren, dass man nicht erreicht, was man sich vorgenommen hat?

»Mein Vater zum Beispiel war Lyriker, mit Fangen, Auswerfen, Warten, Betäuben und ähnlichen Kompetenzen hatte er nichts am Hut.«

Entstanden ist das Stück, weil Haeseling auffiel, dass Männer an Theatern öfters »einen kleinen lustigen Abend über irgendein cooles Hobby machten«, während von als weiblich gelesenen Personen erwartet wird, sich mit explizit feministischen Themen auseinanderzusetzen. Um sich davon zu befreien und auch als Frau über »geilen Scheiß« schreiben zu können, »der einfach Spaß macht«, fiel die Wahl auf die Verbindung von Frauen und dem für Haeseling urmännlichen Hobby Angeln. Und diese Anlage offenbart viel Potenzial, um die binären Geschlechterrollen auseinanderzunehmen: Hier sind die Frauen die Brotverdienerinnen. Man wünscht sich eine Tochter als Angel-Kumpanin und ist traurig über die Geburt eines Sohnes. Und allein schon die Geburt ist nicht der schönste Tag des Lebens, weil er mit zu vielen Schmerzen verbunden ist. Der erste Knoten gerät zum Initiationsritus wie die erste Menstruation – wegen dem frau sich vor dem Vater schämt. Der Vater überhaupt, er erscheint hier als »nie so besonders kompetent«, mit Angeln kennt er sich gar nicht aus, deswegen sucht man auch keinen Rat bei ihm. Auch der Bootshausverleiher versteht nichts vom Angeln und ist »ein wenig zu einfach gestrickt«. Er trägt sein Herz auf der Zunge, und sein Haus ist »zu nah am Wasser gebaut«, wie er selbst. Brauchen Boote (Männer) überhaupt ein schützendes Haus (Patriarchat), wenn es in ihrer Natur liegt, ihr Leben lang mit Wasser (Personen m/f/d) in Berührung zu sein? Auf jeden Fall muss er es abbauen, und dieser Abbau steht vielleicht für die zentrale Frage des Stücks in Bezug auf heutige Gender-Diskussionen: Muss man erst alles abreißen, damit etwas Neues entstehen kann? Und nicht nur im Umgang zwischen Mann und Frau oder zwischen Anglerin1 und Anglerin 2, auch allgemeingültig steht die Frage: Wie kann frau/man ein Miteinander ohne ein Gegeneinander gestalten?

Gesa Oetting