Kategorien
Theaterblog

Momente der Befreiung

Stephanie Schulze: »Hoffmanns Erzählungen« verbindet mehrere Liebesgeschichten, in denen der Erzähler Hoffmann selbst zum Protagonisten wird, in einem Spiel zwischen »Realität« und »Phantasie«. Was hat deine Phantasie entzündet, als du dich diesem Stück genähert hast?

Bente Rolandsdotter: Wir gehen mit unserer Produktion auf die Reise in eine Welt von Erinnerungen und Nostalgie, von Liebe und Zweifel. Der große Humor, aber auch der Umgang mit Liebe und Wahnsinn in »Hoffmanns Erzählungen« verlangen nach phantastischen, überdrehten Kostümen. Für die Kostüme waren übergroße, markante Silhouetten und eine sorgfältig zusammengestellte Farbpalette eine große Inspirationsquelle. Kardinäle, die sich in Schachfiguren verwandeln, eine gnadenlose Studentengruppe in der Uniform toxischer Männlichkeit und eine Party am frühen Morgen, die die Form eines Bacchanals annimmt.

In welche Räume führt ihr Hoffmann und auch das Publikum?

Marian Nketiah: Die Räume, die der Zuschauer erlebt, sind vielmehr Gedankenwelten als reale Orte. Es sind Versatzstücke aus Hoffmanns Erinnerungen – etwa der Balkon einer Wohnung, der Altar einer Kirche, die Duschen einer Jungen-Umkleide. Orte, an denen prägende Momente erlebt und Erinnerungen geschaffen wurden. Ähnlich wie an einem Filmset existieren diese Orte gleichzeitig und nebeneinander und bilden die Kulissen für einzelne, fragmentarische Momente und Szenen, die als eine Art »Kopfkino« Hoffmanns bezeichnet werden können. Dieses »Kopfkino« erleben wir als Zuschauer nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf der Leinwand, die stetig um das Bühnengeschehen kreist und auf der immer wieder Videoprojektionen zu sehen sind. In den Videos sehen wir entscheidende Momente zwischen Hoffmann und Stella.

Szene aus »Hoffmanns Erzählungen«

In den Videos sehen wir dann entscheidende Momente zwischen Stella und Hoffmann an realen Orten, jedoch nicht frei von Surrealität, wenn zum Beispiel durch Schnitte Räume nahtlos gewechselt werden können bzw. ineinander übergehen. Oder Figuren scheinbar durch Wände gehen können. Das ist sehr nah an Hoffmann.

Auf der Bühne führt ihr das Thema der gespaltenen Persönlichkeit und auch das Spiel mit Doppelgängern fort. Hoffmann taucht gleich mehrfach auf …

BR: Es handelt sich um einen traumähnlichen Zustand, in dem Hoffmann durch Erinnerungen und Reflexion versucht zu verstehen, was in der Beziehung schiefgelaufen ist. Indem wir mehrere Hoffmanns in jeweils unterschiedlichem Alter auf der Bühne haben, schaffen wir für ihn die Möglichkeit, seine Vergangenheit neu zu gestalten und sich seine Zukunft vorzustellen. Diese vielschichtige Erzählweise zeigt sich im Kostüm durch eine dunkle, verzerrte Sicht auf die Welt, die auch von grotesken Gestalten bevölkert wird. Erinnerungen verschmelzen mit verworrenen Alpträumen. Das geblümte Hemd von Hoffmanns erstem Date geht über in einen verwaschenen Bademantel und später in ein übergroßes, fleckiges Künstlerhemd. Die warme Farbpalette mit nostalgischen Rosa- und Orange-Tönen, sowohl bei Hoffmann als auch bei Stella, trifft auf das gnadenlose Schwarz-Weiß der Außenwelt.

Die Episoden lesen sich als Variationen von Fehlschlägen in einer Liebesbeziehung zwischen zwei Künstlern. Wer ist Stella bzw. die anderen drei Frauen? Und wie seid ihr mit dem männlichen Blick auf Stereotypen von Weiblichkeit umgegangen?

BR: In unserer Version lebt Stella in Hoffmanns Erinnerung, als seine Nachbildung dessen, was passiert ist. Hoffmann sieht in diesem Rückblick Stella in verschiedenen Versionen, stereotype Frauenfiguren seiner eigenen Erinnerungen: Sie wird zur Braut (Olympia), die in einem riesigen Brautkleid ertrinkt, zur künstlerischen Seelenverwandten (Antonia) im passenden Partner-Bademantel und zuletzt zu einer Mischung aus dekadenter Nachtclubsängerin und mythologischer Sirene (Giulietta), die von ihrer Klippe ruft. Für Hoffmann stellt Giulietta die sexuelle Bedrohung einer Frau dar, die ihre Sexualität unter Kontrolle hat, während er selbst als alternder Mann seine frühere Stärke verliert.

Es gibt noch eine andere Frau, die Hoffmann begleitet. Die Muse, die bei euch in ihrer ganzen Körperlichkeit erscheint. Wie habt ihr zu dieser besonderen Erscheinung gefunden?

BR: Wir wollten, dass Hoffmanns innere Kräfte mit Ego und Muse auf der Bühne Gestalt annehmen, ein Yin und Yang des Geistes, nackte Zwillingsengel, die um die Kontrolle über seine Gedanken ringen und kämpfen. Die Nacktheit der Muse ist aus einem langen Prozess erwachsen. Ich habe nach einem freien weiblichen Körper gesucht, frei von jeglicher Norm und sexuellen Konventionen. Ein weiblicher Körper, der gleichzeitig menschlich, lustig, schön, funktional und auch müde sein darf.

Um diesen Bodysuit anzufertigen, habe ich alles Mögliche ausprobiert: Wie bewegt sich die lose Haut des Arms, wo genau geht die Wölbung der Schulter in die Rundung des Bauchs über und wie groß ist eine »ganz normale« Brustwarze? Muses Körper aus Trikotstoff, Schaumstoffperlen, Polsterung und Silikon zu erschaffen und dabei ohne Wertung oder mit dem Wunsch nach Konformität oder Kontrolle auf ihn zu blicken, war eine Befreiung. Es geht mir dabei auch darum, sich selbst und andere mit Neugier und Freude zu betrachten.

Szene aus »Hoffmanns Erzählungen«

Der Körper ist ein wichtiger Topos sowohl in E.T.A. Hoffmann’s Erzählkosmos als auch in der Oper: nicht nur der als schön gelesene Frauenkörper, auch der deformierte Körper von Kleinzack, der leblose Puppen-Körper von Olympia, der kranke Körper von Antonia, die Macht und Ohnmacht im Zusammenhang mit Sex … Wie spiegelt sich dieses Thema in eurer Performance wider?

BT: Auch der männliche Körper wird in unserer Inszenierung thematisiert. Während Hoffmann nach Klarheit darüber sucht, warum seine Beziehung gescheitert sind, wird sein Körper als Träger von Zugehörigkeit und als einzige Grundlage seiner Existenz greifbar. Es stellen sich Fragen: Wo beginne ich, wo höre ich auf? Ich wollte, dass die drei verschiedenen Altersstufen von Hoffmann durch Farbe und Muster miteinander verbunden sind, aber das Gefühl des Kostüms spiegelt auch wider, wie Hoffmanns Körper im Verlauf der Aufführung immer verletzlicher wird.

Vielen Dank für den Einblick in eure Gedanken!

Kategorien
Theaterblog

Eine Oper zwischen Erinnern und Vergessen

Jacques Offenbach und sein Librettist Jules Barbier basierten »Les contes d’Hoffmann« auf mehreren Erzählungen des extravaganten deutschen Romantikers E. T. A. Hoffmann, Autor von Phantastik und Schauer-Literatur. In der Oper tritt der Autor Hoffmann selbst als Protagonist auf. Es ist eine Geschichte über das Geschichtenerzählen – eine metatextuelle Form, in der die Geschichte einen kritischen Kommentar zu sich selbst abgibt.

Während Hoffmann sich an seine vergangene Liebesbeziehung mit Stella erinnert, fragt er sich nach den möglichen Gründen, warum diese Romanze zu Ende ging. Seine Erinnerungen sind widersprüchlich – weniger von Fakten und Ereignissen bestimmt, sondern eher ein Strudel von Assoziationen und Eindrücken. Durch das Erzählen versucht Hoffmann, dem emotionalen Chaos in seinem Herzen und Verstand einen Sinn zu geben – ähnlich wie bei einer Psychotherapie.

Szenenfoto Hoffmanns Erzählungen @ GöteborgsOperan/Lennart Sjöberg

Offenbachs Oper funktioniert wie ein Kaleidoskop. Elemente aus den Erzählungen Hoffmanns reflektieren sich gegenseitig wie in einem Spiegel. Dieses Prinzip gilt sowohl für den Text als auch für die wiederkehrenden musikalischen Muster der Komposition.

Jede Spiegelung offenbart einen weiteren Aspekt derselben Erinnerung – die von Hoffmanns Beziehung zu Stella. Stella ist Olympia ist Antonia ist Giulietta ist eine Frau und drei Frauen zugleich. Es war Offenbachs Wunsch, dass alle diese Rollen von einer Sopranistin gesungen werden. Tatsächlich offenbart jede Seite von Stella jedoch eine andere Wahrheit über Hoffmann selbst.

In seinen Erinnerungen begegnet Hoffmann sich selbst als junger idealistischer Mann in der Geschichte von Olympia, dann als männlicher Schriftsteller, der sich durch das künstlerische Talent seiner der Sängerin Antonia bedroht fühlt, und als desillusionierter Mann neben der gefährlich verführerischen Giulietta.

Szenenfotos Hoffmanns Erzählungen | Foto: GöteborgsOperan/Lennart Sjöberg

Hoffmanns Erzählkunst ist ein kreativer Prozess, um seine Persönlichkeit zu enthüllen. Wir begegnen drei verschiedenen Hoffmanns – drei Überlagerungen, die Hoffmann zum Geschichtenerzähler machen. Jeder Akt hat eine ähnliche Grundstruktur, die von Märchen inspiriert ist – es gibt eine Prinzessin (Stella, Olympia, Antonia, Giulietta), einen Torwächter (Lindorf, Coppélius, Dr. Miracle, Dapertutto) und einen Prinzen auf seiner Mission, die Prinzessin zu retten (Hoffmann).

Hoffmann wandelt durch die Landschaft seiner Erinnerungen wie durch ein Filmset seines Lebens. Es ist keine lineare Erzählung, sondern eine endlose Spirale, der er folgt. Seine Erinnerungen sind von Nostalgie, Bedauern und Hoffnungen geprägt.

Die Perspektive auf die Geschichte ist keine objektive, sondern ganz subjektiv durch den Impuls der Erinnerung gefärbt. In diesem Prozess versucht Hoffmann, sich von seiner obsessiven Liebe zu Stella zu befreien. Seine Befreiung besteht darin, seine Obsession zu erkennen und ihr eine Form zu geben – die der Geschichten, die er erzählt.

Kategorien
Theaterblog

»Ein sehr besonderes Theatererlebnis«

Gesa Oetting Bei Arthur Miller ist die Rolle des Willy Loman älter angelegt, Regisseur Christoph Mehler hat sich bewusst für eine jüngere Besetzung entschieden. War die Rolle des Loman schon auf deinem Radar?

Fabian Gröver Willy Loman hatte ich tatsächlich nicht auf dem Schirm, aber da ich mir mit der Rolle seines Sohnes Biff vor 30 Jahren meinen Platz an der Schauspielschule und danach mein Erstengagement erspielt habe, war das Stück an sich über die Jahre immer irgendwie ein Begleiter. Dass ich mich jetzt aus dem Blickwinkel der Vaterfigur Willy dem Material annähern kann, führt nochmal zu einem ganz anderen, tieferen Verständnis der Geschichte.

GO Was macht für dich die Inszenierung aus?

FG Das ist nicht leicht zu beantworten, ohne allzu viel zu spoilern. Wir haben jedenfalls eine grandiose Bühne, die uns ermöglicht, nahtlos zwischen Willys zahlreichen Erinnerungsmomenten und der Jetztzeit zu switchen und so die Geschichte der Familie über die Jahre hinweg zu erzählen. Dabei geben sich surreale (Alb-)Traumsequenzen und reale Spielszenen immer wieder die Hand und durch den Einsatz unserer vier Live-Kameras entsteht schon ein sehr besonderes Theatererlebnis. So fühlt es sich jedenfalls auf der Bühne an, sehen werde ich es ja (leider) nicht.

GO Was ist in der Inszenierungsarbeit besonders herausfordernd, interessant, (un)angenehm?

FG Ganz platt gesagt: Sich in eine Figur hineinzuarbeiten, der es aus multiplen Gründen gelinde gesagt »nicht gut geht«, kann schon unangenehm sein, weil es nicht spurlos an einem vorübergeht.
Sobald ich dann aber anfange, lauter krudes Zeug zu träumen, dass irgendwie mit der Figur zu tun hat, ist das ein gutes Zeichen dafür, dass sie sich auf den Weg ins Unterbewusstsein gemacht hat.
Das ist dann allerdings sehr beglückend, denn es ermöglicht später eine große Freiheit beim Spielen, da der »Kopf« sich ein bisschen raushalten kann. Die Parallelität vom Spiel für die große Bühne und gleichzeitig für die bereits erwähnten Kameras ist mir bisher auch noch nie begegnet und insofern besonders reizvoll.      

GO Manchmal möchte man Willy Loman, ja die ganze Familie schütteln ob all der Geheimnisse und Missverständnisse, obwohl sie sich eigentlich alle sehr gern haben. Was würdest du den Lomans wünschen?

FG Dass sie zu gegebener Zeit den Mut und die Kraft aufgebracht hätten, miteinander zu reden. Heute würde man Ihnen dazu auch gerne einen Therapeuten an die Seite stellen. Da ist so viel Unausgesprochenes im Raum, falsche Vorstellungen vom Gegenüber, unerreichbare Zielsetzungen und und und… Aber wie jeder selbst weiß, ist so eine ungeschönte Offenheit innerhalb einer Familie mit all den festgefahrenen Rollenbildern und Strukturen meist unmöglich, was für den Fortbestand mancher Familienbande wiederum überlebenswichtig sein dürfte.         

GO Die Angst vor dem Scheitern und vor der Scham, die Angst, nicht gut genug zu sein, nicht beliebt genug, ist ein großer Motor für die Handlungen von Willy und Biff – wie sehr kannst du dich als Schauspieler damit identifizieren?

FG Es liegt in der Natur der Sache, dass all diese Themen auch zu meinem beruflichen Alltag gehören. Vor allem in der Probenarbeit (»trial and error«) ist das Scheitern ein ständiger Begleiter und da kann
es schon passieren (mir zumindest), dass auch Scham und so etwas wie Angst, die Rolle schlichtweg nicht ausfüllen zu können, mal um die Ecke schauen. Und natürlich war im Laufe meines Theaterlebens auch nicht jedem oder jeder meine Arbeit gut genug, aber ich persönlich fände es auch furchtbar, wenn immer allen alles gefallen würde. Meine Person eingeschlossen.
     

Kategorien
Theaterblog

Ein Untersuchungsfeld für die Bühne

Anna-Elisabeth Fricks Arbeiten oszillieren zwischen Sprechtheater und Performance. In der Alten Feuerwache bringt sie einen Abend »Verlorener Erinnerungen« heraus.  Dramaturgin Simone Kranz sprach mit ihr über die Proben.

Simone Kranz Anna, nach den ersten Proben bin ich sehr fasziniert von deiner Arbeitsweise. Kannst du deine `Methode´ beschreiben?

Anna-Elisabeth Frick Ich weiß gar nicht, ob man das eine Methode nennen kann. Ich bin eine große Sammlerin, ich interessiere mich für alles, was mit dem Thema, das ich gerade bearbeite, zu tun hat. Dieses Material bearbeite ich dann mit den Spielenden. Dabei suche ich die Themen schon so aus, dass es eine Verbindung zu meiner Biografie gibt. Bei »Lethe« ist das Bindeglied mein Vater, der mit Demenz verstorben ist.

K Geht es dir um Aufklärung?

F Das wäre zu kurz gegriffen. Es gibt ja schon Hilfsangebote und Themenabende. Ich möchte mehr einen sinnlichen Raum schaffen, in den das Publikum eintauchen kann. Die Orientierungslosigkeit des Krankheitsbildes Demenz entspricht für mich einem gesellschaftlichen Phänomen. Jeder und jede kennt doch das Gefühl, auf einmal Dinge nicht mehr zu verstehen, die politischen Zusammenhänge nicht mehr erfassen zu können, z.B. nicht glauben zu können, was Trump in Amerika da als Gesetz verkündet. Das Thema hat eine gesellschaftliche, politische und philosophische Dimension. 

K Trotz dieser philosophischen Einbindung arbeitest du mit dem Choreographen Ted Stoffler sehr körperlich…

F Ja, es geht ja auch um Körper. Die Körper der Erkrankten, die ständig laufen wollen, zu anderen Orten, die es so vielleicht gar nicht mehr gibt. Das nicht zur Ruhe kommen können. Nähe und Abstand – beides wird von an Demenz Erkrankten plötzlich anders definiert. Das ist ein schönes Untersuchungsfeld für die Bühne.

Kategorien
Theaterblog

Zur klanglichen Konzeption von »Lethe – Ein Abend verlorener Erinnerungen«

Von Hannes Strobl

Der Musiker, Komponist und Klangkünstler Hannes Strobl beschäftigt sich intensiv mit urbanen Klangräumen, sowie der Interaktion zwischen Klang und architektonischem Raum. Seine Arbeiten zeichnen sich durch ihre immersive Qualität und die Verschmelzung von Musik, Technologie und Raum aus. Für die Produktion »Lethe. Ein Abend verlorener Erinnerungen« war das Thema Vergessen, Ausgangspunkt seiner Komposition. Im Folgenden beschreibt er seine Arbeitsweise.

Klang und Erinnerung

Der Theaterabend »Lethe. Ein Abend verlorener Erinnerungen« widmet sich dem Phänomen des Vergessens und nutzt die besondere Fähigkeit von Klang und Musik, vergangene Situationen oder bestimmte Atmosphären wieder aufleben zu lassen. Klang kann Erinnerungen wachrufen, die längst im Hintergrund des Bewusstseins verschwunden sind – selbst dann, wenn andere Zugänge zur Vergangenheit verblassen.

Ein Lied aus der Zeit der ersten Verliebtheit, das Zirpen der Grillen im Urlaub oder das vertraute Rumpeln eines vorbeifahrenden Zuges nahe der Wohnung, in der man aufgewachsen ist – solche Klänge können tief verankerte Erinnerungen hervorrufen. Auf dieser Einsicht basiert die klangliche Konzeption, die gezielt Elemente einsetzt, um emotionale und assoziative Prozesse anzuregen.

Zusätzlich nutzt die Komposition Audioaufnahmen (Field Recordings), die auf die frühere Nutzung der »Alten Feuerwache« als Turnhalle verweisen. Das Quietschen von Turnschuhen, entfernte Stimmen oder das Echo eines Balls machen die Vergangenheit des Raumes hörbar – der Raum erzählt seine Geschichte.

Spannungsfeld durch verschiedene klangliche Mittel

Musikalisch bewegt sich die Komposition zwischen Wiederholung und Auflösung, zwischen Vertrautem und Überraschendem. Dieses Spannungsfeld wird durch verschiedene klangliche Mittel erzeugt: Loops lassen sich als Metapher für das Vergessen verstehen – jedes wiederholte Klangfragment erscheint wie neu, als wäre es zum ersten Mal gehört. Kontinuierliche Klangschichten erzeugen eine Form des Verschwindens: Sie bleiben präsent, werden jedoch mit der Zeit unbewusst ausgeblendet, ähnlich dem monotonen Brummen eines Ventilators oder dem fernen Rauschen einer Straße.

Plötzliche Brüche und Fragmente spiegeln Momente des Erinnerungsverlusts oder der Orientierungslosigkeit wider.

So geht es in der Komposition nicht nur darum, das Vergessen klanglich zu erfassen, sondern auch die emotionale Kraft von Klang als Brücke zur Erinnerung spürbar zu machen. Musik wird zum Medium zwischen Verlorenem und Wiedergefundenem, zwischen Vergessen und Erinnern.

Kategorien
Theaterblog

Wiener Moderne vs. Londoner Kosmopolitismus

Benjamin Wäntig Gustav Holsts »Savitri« und Arnold Schönbergs »Erwartung« sind meines Wissens noch nie zusammen aufgeführt worden. Die zeitlichen Umstände bringen die Komponisten nah zusammen: Sie sind beide im September 1874 geboren und arbeiteten parallel 1908 an diesen Stücken, die aber in völlig andere Welten führen. Was trennt, was verbindet sie?

Julius Zeman Der kulturgeschichtliche Hintergrund von Schönberg in Wien und Holst in London ist trotz der Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlich. Schönberg war im Wien des frühen 20. Jahrhunderts im Zentrum der anbrechenden Moderne, konfrontiert mit den künstlerischen Revolutionen, mit dem neuen Menschenbild der Psychoanalyse – mit all diesen neuen Strömungen, die erst einige Jahre später in England ankamen. Holst war stark in der britischen Musiktradition verwurzelt, entdeckte um die Jahrhundertwende die Mythologie Indiens, damals noch Kronkolonie des weltumspannenden British Empire. Er hat sich viel von Reisen in die Ferne inspirieren lassen und sogar Sanskrit gelernt. Sein Ansatz, aber auch das Klima Londons insgesamt war kosmopolitischer.

BW Was folgt daraus für ihre Musik?

JZ Schönberg verabschiedete sich in diesen Jahren von der über Jahrhunderte vorherrschenden Tonalität. Bis zur Entwicklung seiner berühmten Zwölftontechnik sollten allerdings noch einige Jahre vergehen. In Bezug auf »Erwartung« sprach er von »freier Atonalität«. Das heißt, dass sich klassische harmonische Muster, wie wir sie aus der tonalen Tonsprache kennen, zum Beispiel Kadenzen, auflösen. Das geht Hand in Hand mit dem Text von Marie Pappenheim, in dem sich Gedanken in einem freien Fluss entfalten. Sie lösen einander in einem Bruchteil von ein paar Wörtern ab, bleiben oft unabgeschlossen. Es geht Schlag auf Schlag in schockartigen Kontrasten und die Musik folgt dieser zerrissenen Struktur. Marie Pappenheim, eine Ärztin, deren Bruder später zum direkten Kreis um Sigmund Freud gehörte, und Schönberg trafen durch ihren gemeinsamen Freundeskreis aufeinander. Er erzählte ihr, dass er endlich zum ersten Mal ein Bühnenwerk schreiben wolle, und bat sie um einen Text. Dem kam sie innerhalb von kürzester Zeit im Sommerurlaub nach. Sie berichtete Schönberg in einem Brief, wie sie auf einer Wiese lag und auf ganz spontane Art und Weise dichtete.

BW Die Surrealisten hätten später von »écriture automatique« gesprochen. Und Schönberg folgt dieser Dramaturgie?

JZ Ja, er komponiert sehr genau am Wort entlang. Auch wenn es einige strukturell genau kalkulierte Momente gibt, bleibt der Verlauf des Stücks überraschend. Es gibt auch keine »mathematische« Durchorganisation wie in späteren zwölftönigen Werken. Man merkt der Komposition ihre Spontanität an. Am ehesten spürt man eine übergeordnete Spannungskurve: ein verhaltener Beginn, der in den ersten drei kurzen Szenen schnell an Intensität zunimmt, eine lange zentrale Szene voller dramatischer Ausbrüche und ein kurzer Epilog, in dem sich die Musik quasi auflöst. Überhaupt ist die ganze Form des Monodrams, also ein Bühnenwerk mit nur einer Sängerin, fast ohne Vorbilder.

BW Was zeichnet Holst demgegenüber aus?

JZ »Savitri« ist überhaupt nicht spontan entstanden. Ihr geht eine jahrelange intensive Beschäftigung mit der indischen Mythologie voraus. Holst verarbeitet eine Episode aus dem Epos »Mahabharata«, erzählt sie aber in einer eigenen Deutung – wie auch in »Sita« –, indem er etwa eigene Vorstellungen von indischen philosophischen Konzepten wie der Illusionskraft Maya einfließen lässt. Entsprechend gründlich geplant ist auch die Komposition, die fast meditative Züge trägt.

Während Schönberg in dieser Zeit seinen Wandel hin zur Atonalität vollzog, entwickelte sich auch Holst weiter: weg von der großgesetzten Oper in der Wagnernachfolge wie noch bei »Sita« hin zu kürzeren, schlichteren Formen.

Obwohl die musikalischen Handschriften in beiden Stücken so unterschiedlich sind, haben wir jetzt bei den Proben Bestätigung dafür gefunden, wie gut sie sich ergänzen. Nicht nur durch den musikalischen Kontrast: Auch die inhaltliche Verbindung, die Fabian Sichert in seiner Inszenierung vornimmt, funktioniert sehr gut.

BW Was sind denn die musikalischen Herausforderungen solch unterschiedlich klingender Stücke?

JZ Bei »Savitri« wird es vor allem räumlich interessant, weil Orchester und Chor für die Zuschauer*innen unsichtbar hinter einer Wand positioniert sind. Mit den Sänger*innen kommuniziere ich nur per Monitor, was eine Herausforderung ist. Auch Holst hat sich im Übrigen für dieses Stück einen indirekten Klang vorgestellt. Das wird beim Zuhören sicher spannend, da man die Quelle und Richtung der Klänge nicht immer orten können wird. Besonders ist die Mischung der Klangfarben des Instrumentalensembles und des Damenchors. Die Chorpartie ist ganz anders als der Großteil der Literatur für einen Opernchor: Sie besteht nur aus Vokalisen, erfordert eine große Vielfalt von Dynamik und ist klanglich in den Orchestersatz integriert. Holst erweitert so die Klangfarbenpalette durch die Fülle an Schattierungen der menschlichen Stimme – mit wundervoller Wirkung.

»Erwartung« ist mit seiner komplexen, polyphonen Partitur zunächst einmal eine große Organisationsaufgabe. Eigentlich sieht Schönberg für das Stück einen riesigen Orchesterapparat vor. Wir spielen es jedoch in einer Kammerfassung für 17 Musiker*innen, wobei trotz der Reduktion nahezu alle Klangfarben aus der Originalfassung gewahrt bleiben. Es spielen nur alle als Solist*innen, sind gleichberechtigt und tragen die gleiche Verantwortung für ihre technisch und rhythmisch sehr herausfordernden Parts. Das kommt Schönbergs Vorstellungen von der Demokratisierung der Töne und des Orchesters entgegen. Dirigentisch ist das Stück wegen vieler Taktwechsel und ruckartiger Tempoänderungen anspruchsvoll, vor allem in der zweiten Hälfte. Das bedeutet, dass alle dieselbe Vorstellung vom jeweils nächsten Tempo haben müssen, weil ich diese Tempi beim Dirigieren nicht – wie sonst häufig möglich – durch Auftakte antizipieren kann. Außerdem verführt die enorme Spannung des Stücks dazu, dass viele Stellen zu intensiv und laut werden, obwohl Schönberg sehr genaue und differenzierte Dynamiken vorschreibt.

BW Du bist ja Korrepetitor und Kapellmeister am Saarländischen Staatstheater und hast schon in etlichen Vorstellungen am Pult des Saarländischen Staatsorchesters gestanden. Diese Produktion ist nun die erste, die du hier am Haus komplett in eigenen Händen hast. Wie sind deine Erfahrungen damit?

JZ Es ist ein schönes Gefühl, komplett eine eigene Interpretation gestalten zu können. Meine Erfahrungen, die ich als Dirigent an diesem Haus bisher gemacht habe, waren Nachdirigate, bei denen man sich weitgehend nach dem richtet, was die Kolleg*innen zuvor erarbeitet haben. Zwar beobachte ich viele Proben oder spiele auch am Klavier im Orchester mit, aber es kommt seltener vor, dass ich ganze Proben leite. Insofern ist das jetzt eine tolle und wichtige Erfahrung, ein Glücksgefühl, dass ich von Grund auf eine Interpretation mit dem Orchester erarbeiten kann.

Dazu kommt natürlich auch die Arbeit mit den Sänger*innen, die mich schon seit meiner Kindheit begleitet und mir immer eine große Freude ist. Gerade bei solch eher unbekannten und komplizierten Werken ist es wichtig, dass man sich von Vornherein auf ein musikalisches Konzept verständigt. Zur Freude am Musizieren in dieser Produktion trägt bei, dass alle – Soli, Chor und Orchester – die Stücke auf sehr hohem Niveau vorbereitet haben. Wenn alle wissen, wo wir musikalisch hinwollen, kann man sich besser auf die szenischen Proben konzentrieren und Hand in Hand mit der Szene immer mehr Feinheiten erarbeiten.