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Schein-Heiliger Abend im Familienkreis

Evelyn reicht’s: Jahrelang hat sie sich abgemüht, um das perfekte Weihnachtsfest für ihre Familie zu zaubern, gedankt hat es ihr keine*r. Darum bucht sie nun eine Reise nach Thailand, mit im Gepäck ihre beste Freundin Ada und ihre erwachsenen Kinder Iris und Simon nebst Anhang. Trotz Sonne und Strand merken sie schnell: Egal, wohin man reist, sich selbst nimmt man immer mit, inklusive aller Widersprüche und Konflikte.

Gesa Oetting »Tradition is just peer pressure from dead people.« (Übersetzung: Tradition ist nur Gruppenzwang der Toten) – dieses Zitat stellen Sie Ihrem Stück voran. Sind Traditionen wie solche an den Weihnachtstagen durchweg überholt, oder gilt es, sie neu zu denken?

Rebekka Kricheldorf Ich halte die Traditionspflege für sehr ambivalent. Sie bedeutet einerseits, eventuell völlig unreflektiert Praktiken zu reproduzieren, einzig aus dem Grund, weil man es halt immer schon so gemacht hat. Dann werden Rituale hohl, weil der religiöse Ursprung verloren ging, oder grausam, wenn sie, wie im Stierkampf, heutigen ethischen Standards zuwiderlaufen, oder sexistisch, wie bei augenzwinkernd-harmlosen, aber im Kern misogynen Bräuchen wie dem Brautstrauß-Werfen.

Aber Traditionen können ja auch identitätsstiftend sein. Sie geben dem Leben Struktur, halten Gemeinschaften zusammen, bieten Anlass zu Feier und Besinnlichkeit. Also würde ich für einen affirmativen, aber kritischen Umgang mit Traditionen plädieren.

Es ist kein Wunder, dass gerade Weihnachten in der Literatur ein so beliebtes Sujet ist, da zu diesem Fest eine Vielzahl an Erwartungen, Werten und Vorstellungen aufeinanderprallen. Und es kann auch einen Anlass bieten, wie in meinem Stück, darüber zu debattieren, was Familie überhaupt ist.

GO Scharfe Sticheleien, unliebsame Wahrheiten und eine Familie, die sich wortwörtlich an die Gurgel geht – das Weihnachtsfest in Ihrem Stück hält mit viel Humor und Wortwitz alles parat. Spaß beiseite – hat das Konzept »Kernfamilie« ausgedient?

RK Wenn man sich weltweit umsieht, in welchen Gemeinschaftsformen Menschen sich organisieren, kann man diese Frage nur mit einem klaren Nein beantworten. Die Kernfamilie – schon oft totgesagt, kritisiert, satirisch attackiert – erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Ihr Fortbestehen füllt auch die Kassen der Therapeuten, denn auch als Keimzelle der Neurose hat die Familie nach wie vor Gültigkeit. Familie bedeutet Halt und Geborgenheit, aber ebenso auch Verletzung und Trauma.

Ich finde alle Denkansätze interessant, die versuchen, den Familienbegriff neu zu denken. Wenn die klassische Familie so konfliktbehaftet ist, wäre dann eine Wahlfamilie nicht das bessere Konzept? Sollten Freunde und Freundinnen nicht denselben oder gar einen höheren Stellenwert haben wie Verwandte? Auch eine feministische Kritik an der Familie als Ausbeutungsapparat weiblicher Arbeitskraft finde ich schlüssig, das klingt in meinem Stück ja auch ein bisschen an.

In »Mehr Lametta am Meer« streiten die Figuren ja auch heftig darüber, wer zur Familie gehört und wer nicht. Die beste Freundin? Der Lover? Ich finde es wichtig, in meinen Stücken solche alternativen Familienentwürfe zur Debatte zu stellen und ein Nachdenken darüber anzuregen.

GO Bei Evelyn und Co kollidieren Lebensentwürfe und Ideale: Vegetarische Ernährung versus Plastik in Form von Lametta am Baum – kann man noch einen nicht schein-Heiligen Abend verbringen?

RK Für jemanden, für den Fleischverzehr Tiermord ist, oder der im Jungfrauenkult zutiefst misogyne Strukturen am Werk sieht, war der Heilige Abend vielleicht noch nie „heilig“ im Sinne von: ethisch unbedenklich, unschuldig und rein. Aber im Grunde sind wir scheinheilig in allem, was wir tun, nicht nur an Weihnachten, sondern auch über den Rest des Jahres. Das würde ich nicht allzu sehr verteufeln, es ist ziemlich menschlich. Wir sind eben inkonsequente Lustmenschen, faul und verführbar, hedonistisch und bequem. Dafür sollten wir uns nicht ständig geißeln, sondern einfach mal dazu stehen und gucken, wie wir mit dieser Disposition arbeiten könnten. Das bedeutet, dass wir im Klimaschutz nicht weiterkommen, wenn wir uns ständig gegenseitig unsere individuellen (Umwelt)-Sünden vorrechnen, sondern eher mit einem großen, eventuell radikalen, politischen Konzept.

GO Trotz Klima-Krise und dem Bewusstsein für den eigenen CO2-Verbrauch erlebt die Tourismusbranche steigende Zahlen. In »Mehr Lametta am Meer« zerrupfen Tiere nach und nach die Weihnachtsdeko – die Natur, die zurückschlägt? Sind wir noch zu retten?

RK Angesichts der immer größer werdenden Probleme mit dem Overtourism wäre es höchste Zeit zum Umdenken. Wir müssten Arbeit und Freizeit, Abenteuer und Erholung komplett neu definieren. Auch da sehe ich wenig Sinn in Appellen an individuellen Verzicht, sondern eher den Bedarf nach schärferen Regeln, der Verteuerung von Flugreisen zum Beispiel oder (was viele überforderte Städte ja schon machen) eine tägliche Besucher-Obergrenze. Das schließt direkt an meine Antwort auf die letzte Frage an: Den Ruf nach einem großen, politischen Konzept. Angesichts der aktuellen Weltlage bin ich persönlich da eher pessimistisch. Wenn wir schon allein in Deutschland keine mickrigen Zugeständnisse an den Klimaschutz hinbekommen, wie soll das global funktionieren?

Also ist das Schlussbild, dass nach unserem – immer wahrscheinlicher werdenden – Verschwinden die Tiere sich die Erde zurückerobern und die Überbleibsel unserer Kulturleistungen und religiösen Rituale fleddern werden, gar nicht so überzogen.

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Wir sind alle eine Bettwurst.

Zusammen ist man weniger allein

Es war in Kiel am Kai, da begegnen Luzi und Dietmar sich. Sie zeigt ihm die Stadt, beim Tanztee wird geschwoft, man beschnuppert sich, kommt sich näher im Schrebergarten, wie eine Liebe beginnt eben! Sie beschließen: Jetzt fängt ein neues Leben an. Und zwar gemeinsam, nicht mehr allein. Dietmar zieht bei Luzi ein, wird in die Geheimnisse des Staubsaugens eingeweiht, beim Weihnachtsfest liegt die berühmte Bettwurst (eine Nackenrolle, natürlich!) unter dem Baum und verloben tut man sich auch noch! Voller Enthusiasmus tanzen und singen Luzi, Dietmar und ihr Chor durch die Freuden des kleinbürgerlichen Liebesglücks, tanzen in die Liebe hinein. Alles könnte so schön sein, wären da nicht Dietmars kleinkriminelle Komplizen, die Luzi entführen.

Mehr ist mehr

1971 ist er erschienen, Rosa von Praunheims Film »Die Bettwurst«, und avancierte schnell zum Kultfilm. Nicht zuletzt wegen seiner Hauptdarsteller*innen, beides Laien: von Praunheims Tante Luzi Kryn und Dietmar Kracht, den von Praunheim in der Berliner Stricherszene »entdeckte«. Schonungslos exaltiert und höchst amüsant reiht sich »Die Bettwurst« in von Praunheims Filmästhetik im »Camp«-Stil ein. »Camp« ist die Liebe zur Übertreibung, die richtige Mischung aus Phantastik, Leidenschaftlichkeit und Naivität. »Camp« ist Leben als Theater, ist Parodie und Selbstparodie, immer gepaart mit Eigenliebe. »Es ist gut, weil es schrecklich ist …« (1) schreibt Susan Sontag 1964 in ihren Essay Anmerkungen zu ›Camp‹. Vermeintlich lächerlich, dilettantisch und eine Zurschaustellung des Banalen, zeichnet »Die Bettwurst« ein selbstironisch-scharfes und zugleich liebevoll-verspieltes Bild einer Liebesbeziehung.
Im Herbst 2022 kam das Musical in der Bar jeder Vernunft in Berlin zur Uraufführung. Inszeniert hat Rosa von Praunheim selbst, als Hommage an seinen Film, und an seine immer etwas zu laute, immer etwas zu schrille Tante »Luzi Superstar« und ihre unbeirrbare Selbstliebe.

Hemmungslose Hingabe

Da ist Luzi, Sekretärin in der Gerichtsmedizin, lebenslustig, in bunten Kleidern und einer Wohnung mit noch bunteren Tapeten. Den zweiten Weltkrieg und große Armut hat sie erlebt, bis sie aus Polen mit ihrer Mutter nach Kiel gekommen ist. Und da ist Dietmar – homosexuell, die Jugend im Erziehungsheim verbracht –, der seine kleinkriminelle Vergangenheit und Berlin hinter sich lassen will. Das Leben ist ein Abenteuer. Beide passen nicht so richtig rein in die Gesellschaft, und ins heteronormative Bild einer kleinbürgerlichen Partnerschaft passen sie schon gar nicht. Beide sind sie irgendwie auf der Flucht und auf der Suche nach Liebe und Glück, auf der Suche nach einem Platz – und finden ihn beieinander.
Und auf einmal gibt es Aussicht auf Verbundenheit. Ich habe ein Recht auf Liebe. Das übermäßige Streben nach Harmonie vereint, das Trennende wird ignoriert. Aus Not, aber auch aus Sehnsucht, denn: Zusammen ist man weniger allein. Zweckgemeinschaft im positivsten Sinne. Wir heilen alle Wunden nur mit Liebe. Behütet und beobachtet von ihrem Chor, Schicksalsgöttinnen gleich, malen Luzi und Dietmar mit großer Freude und noch größerer Hingabe über den Rand sämtlicher Klischee-Schablonen einer Paarbeziehung – und stoßen dabei auf ihre ganz eigene Art von Verbindung.
Die Bettwurst war ein Traum. Ein Traum von Akzeptanz: Lass das Gegenüber sein, wie es ist, ob schrill, ob bunt, ob laut, ob leise – wir sind alle eine Bettwurst. Egal wie und egal wen: Lieben ist erlaubt. Am besten fängt man gleich bei sich selbst an, denn was gibt’s Schöneres, als sich selbst zu lieben. Und so treffen sich Luzi und Dietmar im Himmel wieder, feiern sich und das Leben und ihre Liebe.

Gesa Oetting

(1) Anmerkungen zu ›Camp‹ in Susan Sontag: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt, 1982.

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ZUM SPIELEN: Zauberer von OZ – Memory

Unser Familienstück »Der Zauberer von Oz«  hat euch verzaubert, doch Ihr habt noch nicht genug? Hier findet Ihr unser zauberhaftes Memory, entworfen und gestaltet von unserer FSJlerin Jule Sophie Sattler! Einfach die PDF 2x ausdrucken, auf Pappe kleben, ausschneiden und los geht`s!

Foto: Martin Kaufhold

Hier klicken und Memory-Vorlage öffnen:

>>> Das verzauberte Memory

Viel Spaß !

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Zum Mitsingen!

Lust, zu singen und spielen wie unsere Protagonisten im Familienstück  »Der Zauberer von Oz«? Kein Problem! Hier stehen die Noten und Liedtexte für alle großen und kleinen Hobby-Sängerinnen, -Sänger und Musizierenden bereit.

Viel Spaß!

Der Zauberer von Oz | Foto: Honkphoto

Der Zauberer von Oz: Liedtexte und Noten zum Mitsingen und -spielen

Lied der Hexe

Lied der Vogelscheuche

Lied des Blechmanns

Lied des Löwen

Lied des Zauberers

Lied von Dorothy

Der Zauberer von Oz | Foto: Honkphoto
Der Zauberer von Oz | Foto: Honkphoto
Der Zauberer von Oz | Foto: Honkphoto
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Treffen sich zwei Anglerinnen

»Ich liebe es. Ich liebe es, ich liebe es, ich liebe es. Ich liebe es. Meine Mutter liebte es und jetzt liebe ich es.«

Frühmorgens am See: Voller Vorfreude beginnt Anglerin1 ihren Tag. Da taucht Anglerin2 auf. Ungewöhnlich, unhöflich, fast unheimlich, denn eigentlich angelt es sich doch am besten allein. Aber schnell merkt Anglerin1: Anglerin2 ist ebenfalls ein waschechter Profi! Beide angeln schon ihr Leben lang an genau diesem See, nur an verschiedenen Angelplätzen. Und sie haben sogar denselben Lieblingsköder! Sie plaudern über das beste Equipment und ihre Mütter und Großmütter – selbstverständlich auch leidenschaftliche Anglerinnen, die ihr Wissen seit Generationen an ihre Töchter tradieren. Und das Fischen ist nicht nur Passion, es dient dem Lebensunterhalt der Familie!
Nicht lange, und die beiden offenbaren sich sorgsam gehütete Geheimnisse. Anglerin2 hat seit einem Jahr nichts mehr gefangen, und Anglerin1 erfährt, dass Angelregel Nummer 3, an die sie ihr gesamtes Leben geglaubt (»Keine Profi-Anglerin darf mehr als 55 Kilo wiegen.«), ja die sogar ihr ganzes Leben bestimmt hat, eine Lüge ist. Eine Lüge ihrer Mutter und Großmutter. Beide sind erschüttert in ihren Anglerinnen-Grundfesten.

»Sollten Sie heute noch fangen, dann ist alles ganz wunderbar und die Limitierung Ihrer Lizenz verfällt. Wenn nicht, tragen Sie leider offiziell nichts Relevantes zu unserer Gesellschaft bei und Sie wissen, was Ihnen dann blüht?«

Und dann gibt es da auch noch den Bootshausverleiher. Der ist unheimlich mitteilsam und stört die beiden permanent. Doch damit nicht genug! Er hetzt den beiden Anglerinnen die Fischereiaufsicht auf den Hals. Und die sagt klipp und klar: Entweder die Anglerinnen fangen heute noch was, oder sie verlieren ihre Angellizenz. Womit der Bootshausverleiher allerdings nicht gerechnet hat: Die Fischereiaufsicht hält nicht nur Auflagen für die Anglerinnen parat, auch er selbst kriegt Butter bei die Fische – er muss sein Haus abbauen, es ist zu nah am Wasser gebaut. Zu allem Übel zieht nun auch noch ein Sturm auf… Gelingt es den beiden Angelrinnen, einen Fisch zu landen? Am besten sogar einen Urzeitfisch?!

»Wie schade, dass mein Lebensziel nicht der glücklichste Tag ist, sondern der URZEITFISCH.«

Was als harmlose Angel-Plauderei mit kleinen, feinen Fangfragen beginnt, lässt bald in die tiefsten Tiefen der See(le) blicken. Bleibt man immer Kind seiner Eltern? Wie kann man sich von den Wünschen und Prägungen durch Erziehung und Umwelt, von einem »Das haben wir schon immer so gemacht!« lossagen? Wie geht man trotz (Versagens-)Ängsten seinen eigenen Weg? Welche Traditionen und Geschichten lohnen sich zu bewahren, und von welchen kann man sich getrost verabschieden? Wie gehen Frauen miteinander um, wenn es um persönliche und berufliche Selbstverwirklichung geht? Wie dem Erwartungsdruck entgegentreten, den die Gesellschaft an Frauen richtet – erwerbstätig zu sein und gleichzeitig Mutter, und darüber natürlich auch noch stets glücklich? Und am besten mit Idealgewicht.

Der Text von Noëlle Haeseling steckt voller Symbole und Doppelbödigkeiten, die Regisseurin Theresa Thomasberger in ihrer Inszenierung fein auslotet. Irgendetwas ist anders, merkwürdig, fast unheimlich an diesem Kosmos der Anglerinnen, der auf den ersten Blick so harmlos scheint. Es sind nicht nur die umgekehrten Vorzeichen der binären Geschlechterwelt, mit denen absurd und äußerst humorvoll jongliert wird – es sind die Figuren, hinter deren arglosem Geplauder immer noch etwas mehr steckt. Jede*r hat ein Geheimnis, das unter der Wasseroberfläche des Sees, unter dem Nebel, schlummert. Das Geheimnisvolle, Traumhafte à la David Lynch und »Twin Peaks« waren nicht nur für die Kostüme von Mirjam Schaal, sondern auch für die Musik von Oskar Mayböck große Inspiration. Das Bühnenbild (ebenfalls von Mirjam Schaal): Zwei vereinzelte Steine für zwei vereinzelte Anglerinnen, dazu ein Bootshaus, in dem sich der Bootshausverleiher nahezu verbarrikadiert – Sozialkontakte, der Umgang mit dem Gegenüber, scheinen die Protagonisten zu überfordern.

»Es kommt gar nicht auf die richtigen Gedanken beim Warten an. Es kommt darauf an, ob im See noch Fische sind oder nicht.«

Die beiden Anglerinnen warten. Warten auf Fisch. Der Fang des Urzeitfisches, »sehr gruselig und sehr mysteriös«, ist es dann auch, der das Leben an Land endgültig ins Wanken bringt. Als Verkörperung von Geschichte und Tradition kommt er aus der Tiefe des Sees und macht die tiefen Ängste, Sehnsüchte und Zweifel der Figuren sichtbar. Anglerin1 sieht sich mit einer Lüge konfrontiert, die sie an allem zweifeln lässt, aber schließlich eine Weiterentwicklung ermöglicht. Anglerin2 ist die Freude am Angeln vergangen, weil alles immer Sinn und Zweck haben muss. Versagensängste blockieren sie – sie kann sich nicht befreien vom Erwartungsdruck ihrer Familie, den besten Fang zu landen. Doch wie lange lohnt es sich zu warten? Wann muss man akzeptieren, dass man nicht erreicht, was man sich vorgenommen hat?

»Mein Vater zum Beispiel war Lyriker, mit Fangen, Auswerfen, Warten, Betäuben und ähnlichen Kompetenzen hatte er nichts am Hut.«

Entstanden ist das Stück, weil Haeseling auffiel, dass Männer an Theatern öfters »einen kleinen lustigen Abend über irgendein cooles Hobby machten«, während von als weiblich gelesenen Personen erwartet wird, sich mit explizit feministischen Themen auseinanderzusetzen. Um sich davon zu befreien und auch als Frau über »geilen Scheiß« schreiben zu können, »der einfach Spaß macht«, fiel die Wahl auf die Verbindung von Frauen und dem für Haeseling urmännlichen Hobby Angeln. Und diese Anlage offenbart viel Potenzial, um die binären Geschlechterrollen auseinanderzunehmen: Hier sind die Frauen die Brotverdienerinnen. Man wünscht sich eine Tochter als Angel-Kumpanin und ist traurig über die Geburt eines Sohnes. Und allein schon die Geburt ist nicht der schönste Tag des Lebens, weil er mit zu vielen Schmerzen verbunden ist. Der erste Knoten gerät zum Initiationsritus wie die erste Menstruation – wegen dem frau sich vor dem Vater schämt. Der Vater überhaupt, er erscheint hier als »nie so besonders kompetent«, mit Angeln kennt er sich gar nicht aus, deswegen sucht man auch keinen Rat bei ihm. Auch der Bootshausverleiher versteht nichts vom Angeln und ist »ein wenig zu einfach gestrickt«. Er trägt sein Herz auf der Zunge, und sein Haus ist »zu nah am Wasser gebaut«, wie er selbst. Brauchen Boote (Männer) überhaupt ein schützendes Haus (Patriarchat), wenn es in ihrer Natur liegt, ihr Leben lang mit Wasser (Personen m/f/d) in Berührung zu sein? Auf jeden Fall muss er es abbauen, und dieser Abbau steht vielleicht für die zentrale Frage des Stücks in Bezug auf heutige Gender-Diskussionen: Muss man erst alles abreißen, damit etwas Neues entstehen kann? Und nicht nur im Umgang zwischen Mann und Frau oder zwischen Anglerin1 und Anglerin 2, auch allgemeingültig steht die Frage: Wie kann frau/man ein Miteinander ohne ein Gegeneinander gestalten?

Gesa Oetting

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Erinnerungen aus dem deutsch-französischen Herbstferienworkshop 2024

In der zweiten Herbstferienwoche konnte man im Großen Haus immer mal wieder einen Blick auf viele Jugendliche erhaschen, die im Theater unterwegs waren. Es handelte sich dabei um 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer (TN), die sowohl aus Deutschland als auch Frankreich angereist waren, um drei Tage mit unseren Theaterpädagoginnen Anna Arnould-Chilloux, Lea-Marie Albert und Meike Koch zu verbringen. Im Fokus stand dabei die deutsch-französische Begegnung der Jugendlichen, sowie die Erarbeitung einer Abschlusspräsentation für die Eltern.
Über die Ereignisse der drei Tage haben die Theaterpädagoginnen Tagebuch geführt:




Montag, 21. Oktober 2024:

09:00 Uhr: Ankommen, Kennenlernen und Spiele

Fokus: Die Namen der anderen lernen mithilfe von deutsch-französischen Rhythmus-Spielen (»Ich bin Anna, Hallo Anna, wer bist du?« – »je suis Meike, Salut Meike, qui es tu?«) und einem Zombie, der nur durch Namenskenntnis von seinen Opfern ablässt.

Highlight: Die TN haben Spaß, aber sind noch etwas schüchtern. Man kennt sich noch nicht richtig.

11:00 Uhr: Führung durch das Theater.

Fokus: Alle Fragen der TN werden beantwortet und sie lernen das Haus hinter den Kulissen kennen und welche vielfältigen Berufe es hier gibt.

Highlight: Die Entdeckung der Waffenkammer! 

12:00 Uhr: Mittagspause mit kleiner Herausforderung

Fokus: Stärkung für den Rest des Tages mit kleiner sprachlicher Herausforderung in der Theater- Kantine

Highlight: Die französischen Jugendlichen bestellen ihr Essen in der Kantine auf Deutsch.

12:45 Uhr: Warm-up nach der Mittagspause

Fokus: Wir holen draußen kurz Luft, machen ein Foto vor dem Staatstheater und eine energetische Laola-Runde auf dem Theaterplatz.

13:00 Uhr: Bewegung!

Fokus: Raumlauf mit viel Musik und vielen Emotionen. Außerdem eine Spiegelübung in Zweiergruppen als deutsch-französisches Paar.

Highlight: Die TN lernen die Emotionen auch in der anderen Sprache. Wie sagt man »Freude« auf Französisch? Was bedeutet »Curiosité« oder »Colère«?

14:00 Uhr: Schauspiel: Die Kunst des Non-Verbalen Theaters

Fokus: Durch Mimik und Gestik entwickeln die Gruppen SzenenHighlight: Langsam nähert man sich an und es entwickeln sich Freundschaften in den kleinen Gruppen

Dienstag, 22. Oktober 2024

9:00 Uhr: Ankommen und den Weg selbst finden

Fokus: Und? Findet ihr den Weg zur »salle de répétitions« im Labyrinth des Theaters?  »Probebühne?«

09:30 Uhr: Sprachanimation – eine sprachliche und körperliche Aufwärmung und Zip-Zap-Spoing

Fokus: Spielen in deutscher und französischer Sprache: Hast du gut geschlafen? Wenn ja bleib sitzen, wenn nein bewege dich nicht, wenn »solala« tausch schnell den Platz mit dem Nachbarn!

Und jetzt einmal auf Französisch: »As-tu bien dormis? Oui? Non? Bof bof«?

Nach einem energischen Klopfen auf den Rücken des Nachbarn im Kreis verwandelt sich das Zip-Zap-Spoing Aufwärmspiel plötzlich in ein Theater-Vokabel-Lernspiel: Bühne, scène, Publikum, Rideaux de Théâtre, und mehr…

Highlight: Lächeln und Lachen bei den TN

10:00 Uhr: Probe mit Modenschau

Fokus: Erste Szenenentwicklungen für unsere Abschlusspräsentation. Mit einer emotionalen Modenschau werden viele Emotionen des gestrigen Tages noch einmal hervorgeholt und mit Mimik und Gestik auf die Bühne gebracht.

Highlight: Der Catwalk einiger TN ist sehr eindrucksvoll!

11:00 Uhr: Schauspieltraining in Eigenregie

Fokus: In Kleingruppen entwickeln die TN kleine non-verbale Szenen. Die Vorgabe ist dabei ein roter Faden, eine Dramaturgie – Fil rouge.

Highlight: Die TN erzählen abwechselnd auf Deutsch und auf Französisch ihre Ideen, ergänzen sich und helfen sich beim Übersetzen. »Wir könnten einen Charakter haben, der herumläuft und alle Emotionen in den Szenen ändert!«

»Quelqu‘ un qui porte malchance? Cela pourrait etre une histoire de famille.« Eine Familiengeschichte, erstmal die Eltern laufen mit ihrem Hund, dann die Onkel und Tante spielen Karte usw.«

12:00 Uhr: Mittagspause in der Kantine

Highlight: Die Essensbestellung auf Deutsch geht schon viel leichter von der Hand als noch am Vortag!

12:45 Uhr: Vokabelzeit

Fokus: Welche Wörter brauchen wir in beiden Sprachen, um zusammen kommunizieren zu können? Alle Wörter werden an eine Wand geklebt, damit man sie sich jederzeit anschauen kann.

Highlight: Die interessierten Blicke auf unsere bunte Vokabeltafel.

13:30 Uhr: Emotion und Instrumente, ein künstlerisches Potpourri mit Saxophon, E-Gitarre, Ukulele, Akustik-Gitarre und Klavier.

Fokus: Welche Emotionen kann ich durch mein Instrument darstellen? Wie klingt »Trauer« auf dem Saxophon? Oder »verliebt« mit der Ukulele? Die anderen TN reagieren mit der Spiegelübung mit Bewegungen und Mimik auf die Musik.

Highlight: Die TN improvisieren auf ihren Instrumenten und versuchen die Emotionen durch ihre Musik zu vermitteln.

Mittwoch, 23. Oktober 2024

9:00 Uhr: Endgültige Szenenerfassung für die Abschlusspräsentation

Fokus: Wir puzzeln ein Stück zusammen und inszenieren. Wir möchten so viel aus dem Workshop wie möglich in unser Stück einbauen.

Highlight: Alle dürfen Vorschläge machen, was sie gerne in der Präsentation zeigen möchten. Man merkt auch, dass die Sprachbarriere in den letzten Tagen sehr abgenommen hat und man sich auf Anhieb gut versteht!

Eine deutsche und eine französische TN kommen sogar zu Anna und fragen: »Wie sagt man veux tu t’asseoir à coté de moi à la répétition? – Möchtest du dich während der Probe neben mich setzen?«

10:00 Uhr: Probenbesuch beim Ballett »Romeo und Julia«

Fokus: Kennenlernen eines professionellen Probeablaufs und ein ein erster Einblick in unsere große Ballett-Premiere.

Highlight: Alle TN sitzen bunt gemischt im ersten Rang und beobachten gebannt das Orchester im Orchester-Graben (»Fosse d’orchestre«) und die Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne.

12:20 Uhr: Mittagspause in der Kantine

Highlight: Die TN wissen nun wie das geht und bestellen ihr Essen ganz auf Deutsch ohne Hilfe. Die Kollegen des Theaters fragen, wer diese ganzen Kinder sind? Wir antworten stolz: Das ist unsere Herbstferienwerkstatt!

12: 45 Uhr: Fragerunde mit Klaus Kieser, Dramaturg von Romeo und Julia

Fokus: Nach dem Probenbesuch dürfen die TN alle Fragen stellen, die ihnen auf der Seele brennen:

– Wie lange dauert eine Probe?

– Wie viele Tänzer tanzen insgesamt mit?

– Wie werden die Kostüme aussehen?

Highlight: Ganz viele interessierte Fragen, die wir sogar irgendwann abbrechen müssen, damit noch Zeit zum Proben für unsere Abschlusspräsentation bleibt!

13:30 Uhr: Generalprobe!

Fokus: Noch einmal alles durchspielen bevor es gleich ernst wird.

Highlight: Alle TN sind wahnsinnig konzentriert und fokussiert.

14:00 Uhr: Toi toi toi – wir spielen unser erarbeitetes Ergebnis vor den Eltern und Geschwistern im Mittelfoyer vor.

Highlight: Standbild am Ende der Präsentation: eine kollektive Umarmung

Danach sind alle in heller Aufruhr, es gibt tosenden Applaus. Nach einem kleinen Abschiedsritual («Schubidu») beenden wir unsere dreitägige Herbstferienwerkstatt.

In den Gesichtern kann man ganz viel Freude, aber auch ein bisschen Traurigkeit, weil es jetzt vorbei ist, erkennen. Und dieses Mal sind die Emotionen nicht gespielt, sondern echt!

Zu hören sind französische und deutsche Abschiedsworte.

Eine französische TN redet mit uns nur noch auf Deutsch (»Danke, das war toll!«). Ein deutscher TN zeigt und erklärt seine E-Gitarre noch einmal auf Französisch.

Die Eltern bedanken sich: »Es hat meiner Tochter gut gefallen – Können wir sie fest in eurer Theatergruppe anmelden? «

Biensur que nous le referons! Kommt zu unserem neuen Theaterclub! Der deutsch-französischen Jugendclub!

Durch die großzügige Unterstützung der ODDO BHF Stiftung wurde die Theaterpädagogik des Saarländischen Staatstheaters um eine Projektstelle „Koordination deutsch-französische Projekte“ in der Spielzeit 2024/2025 erweitert.