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Theaterblog

Eine Spielzeit voller Sehnsüchte – Rückschau und Ausblick

Lenke Nagy absolviert in der Spielzeit 2023/2024 ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Schauspieldramaturgie des Saarländischen Staatstheaters. In der Reihe »Journal einer FSJlerin« teilt Lenke regelmäßig ihre Erfahrungen und Gedanken. – Teil 6

»Mein deutsches Lieblingswort ist Sehnsucht. Ich habe noch kein Wort, das eine wirklich gute Übersetzung wäre, in einer anderen Sprache gefunden. Denn in dem Sehnen ist im Deutschen auch die Sucht nach dem Sehnen und die Lust daran.« Cornelia Funke ist es, die in einem der vielen Kurzvideos in den Tiefen der sozialen Medien diesen Satz mit der Welt teilt. Sie ist nicht die einzige, die eine Faszination gegenüber diesem vom Duden als »inniges, schmerzliches Verlangen nach jemandem, etwas [Entbehrtem, Fernem]« definierten Gefühl empfindet – kein Wunder also, dass es zum Motto der Spielzeit 2023/24 im Saarländischen Staatstheater geworden ist. Ein ganzes Jahr mit Werken zu dem Thema zu füllen ist hierbei keineswegs zum Problem geworden, im Gegenteil: Man könnte vermutlich eine Vielzahl an Spielzeiten mit Stücken füllen, die sich der Sehnsucht widmen. Für welche hat sich also die Schauspielsparte des Saarländischen Staatstheaters entschieden und welche Formen von Sehnsucht wurden bereits aufgegriffen? Um sich dieser Frage zu widmen, wird es Zeit, mal Bilanz zu ziehen und zurückzuschauen auf die erste Hälfte der Spielzeit.

Eröffnet wurde die Spielzeit mit #Peep!, einer Pop-Revue von Mona Sabaschus in der alten Feuerwache, in welcher ungeliebte, von der Müllpresse bedrohte Spielzeuge gleich einige der elementarsten Sehnsüchte überhaupt auspacken: Sie sehnen sich danach, aus ihrem bisherigen Dasein auszubrechen und geliebt zu werden. Dass dieser Wunsch beinahe jedem Menschen früher oder später begegnet, zeigt auch die große Menge an Popsongs, die sich mit ihm auseinandersetzen und die die Protagonist*innen von #Peep! sich zur Verständigung zunutze machen.

»Peep« | Foto: Martin Kaufhold

Ein Kontrastprogramm gegenüber diesem Stück ist Tennessee Williams Endstation Sehnsucht, welches das zentrale Thema der Spielzeit bereits im Titel trägt. Hier spielt Sehnsucht in Form von sexueller Begierde eine ganz andere Rolle und wirkt nicht nur deshalb auf einmal viel weniger verlockend. Führen Sehnsüchte und Begierden nicht auch zu den Abgründen, die Williams in seinem Klassiker so meisterlich aufdeckt? Ist Blanches (Sehn)sucht nach minderjährigen Liebhabern nicht Resultat ihrer Sehnsüchte nach Luxus, unbeschwertem Leben und, wie sie selbst sagt, »Zauber«? Gleichzeitig scheint Stella, die leugnet, sich nach einem besseren Leben zu sehnen, in einem langfristig unglücklich machenden Leben gefangen zu sein und könnte womöglich ein wenig mehr Sehnsucht gebrauchen, um sich von Armut, ihrem brutalen Umfeld und ihrer Rolle im Haushalt loszulösen.

»Endstation Sehnsucht« | Foto: Martin Sigmund

Kommen wir zu einer anderen Form von Sehnsucht, die beispielsweise in Goethes berühmten Faust einen hohen Stellenwert hat: der Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis. In der Spartenproduktion Der lange Weg zum Wissen wird mit dieser Sehnsucht aber gänzlich anders umgegangen als in der Gelehrtentragödie: Nach der Vorstellung bleibt das Gefühl zurück, dass es gar nicht so schlimm ist, als Individuum nicht alles zu wissen. Tragischer ist, was Neil Armstrong im Prozess des gemeinsamen Philosophierens, der das Stück trägt, in den Raum wirft: „Wenn all das Wissen gewusst wird: Wieso machen wir dann [als Menschheit] noch Fehler?“ Sehnsucht nach Perfektion also? Nein, vielmehr Sehnsucht nach einem friedlichen und glücklichen Zusammenleben, in welchem jeder Platz hat.

»Der lange Weg zum Wissen« | Foto: Martin Kaufho

In Das Bildnis des Dorian Gray muss man nicht lange nach den Sehnsüchten des Protagonisten suchen: Dorian verspürt die Sehnsucht nach ewig währender Jugendlichkeit und Schönheit. Diese Sehnsucht wird jedoch nicht zum Motivation stiftenden Antriebsmittel, wie sie es manchmal sein kann, sondern führt zu Verderben, Tod und Unglück. Gewissermaßen also ein kritischer Blick auf die umstrittene Empfindung – oder zumindest auf einen überdimensionalen Stellenwert ihrer.

»Das Bildnis des Dorian Gray« | Foto: Martin Kaufhold

Wie Der lange Weg zum Wissen, fand auch die Uraufführung von Jakob Noltes Die Glücklichen und die Traurigen in der kleinsten Spielstätte des SST, der sparte4 statt. Mit einem herausstechenden Einsatz videographischer und technischer Elemente, erzählt die Inszenierung dieses Stückes die Geschichte eines Dorfes, das zum Zweck der deutschen Finanzenrettung komplett an eine ausländische Investorin verkauft wird. Es schlummert also vermutlich in jeder Figur eine Sehnsucht nach Selbstbestimmung und politischem Mitspracherecht. Interessanterweise drücken die auf der Bühne stattfindenden Dialoge aber hauptsächlich etwas anderes aus: die Sehnsucht nach Normalität und vertrauten Gewohnheiten in einer neuen und deshalb beängstigenden Situation. Besonders im Hinblick auf Covid-19 erscheint es mir, als ob unsere Sensibilität dahingehend viel größer geworden ist, während das menschliche Bedürfnis nach Tradition und Einteilung in bereits bekannte Muster gleichzeitig alarmierend ist und auch immer wieder als Quelle gesellschaftlicher Krisen identifiziert werden kann. Stichwort: »Das haben wir doch schon immer so gemacht!«

»Die Glücklichen und die Traurigen« | Foto: Martin Kaufhold

So wie wir (leider) auch schon immer eine Gesellschaft waren, die sich schwer tut, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Zeit des Nationalsozialismus größtenteils totgeschwiegen. Genau darauf weist Phillip Preuss´ Inszenierung von Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrerdrama Draußen vor der Tür hin. Auch hier also: Sehnsucht nach einer Normalität, wie sie vor dem Krieg geherrscht hat. Gegenübergestellt wird die Sehnsucht von Protagonist Beckmann, nach seiner Rückkehr aus sibirischer Kriegsgefangenschaft von der Gesellschaft aufgefangen zu werden und seine Traumata hinter sich lassen zu können. Ebenfalls maßgeblich in diesem – sicher nicht leichten, aber umso interessanteren – Theaterstück: Todessehnsucht.

»Draußen vor der Tür« | Foto: Martin Kaufhold

Das Thema Krieg behandelt auch ein ganz besonderes Projekt in der sparte4: Freiheit. Bei dieser Kooperation eines ukrainischen Regisseurs mit einer deutschen Regisseurin, bekommen 10 Jugendliche, die größtenteils ukrainischer Herkunft sind und ihre Heimat durch den russischen Angriffskrieg verlassen mussten, die Chance, ihre Sehnsüchte mit der Welt zu teilen. Sie erzählen von ihrem Verständnis von Freiheit und auch das Heimweh, das eine ganz besondere Form der Sehnsucht darstellt, wird thematisiert. 

»Freiheit« | Foto: Martin Kaufhold

Wenden wir uns einem scheinbar schönen Thema zu: Dem Lottogewinn! Doch auch dieses vermeintliche Glück, welches Die lieben Eltern aufgreift, birgt erstaunlich viel Tiefgang und Eskalationspotenzial. Und Sehnsüchte? Jede Menge. Angefangen bei der Sehnsucht, die Welt zu verbessern über die Sehnsucht nach dem Ausbruch aus dem eigenen Alltag bis hin zur Sehnsucht nach einem eigenen Golfplatz, Luxusautos und »Koks und Nutten«. Ironie pur!

»Die lieben Eltern« | Foto: Astrid Karger

Es wird Zeit für einen Ausblick auf die restliche Spielzeit. Was erwartet uns? Falls Sie nun eine so detaillierte Beschreibung der kommenden Stücke erwarten, wie ich sie versucht habe, zu den bereits laufenden Stücken zu formulieren, muss ich Sie leider enttäuschen. Schließlich kann ich nur mutmaßen, von welchem Blickwinkel aus die Regisseur*innen ihre Stücke angehen werden und welche Sehnsüchte sie im zugrunde liegenden Stoff als besonders hervorstechend empfinden. Trotzdem versuche ich ein paar Prognosen anzustellen:

Die Stückentwicklung von The end, my friend (Premiere am 22. März in der Alten Feuerwache) beschäftigt sich mit apokalyptischen Narrativen und dem gesellschaftlichen sowie kulturellen Umgang mit ihnen. Hier sehe ich großes Potential zur Beschäftigung mit der Sehnsucht nach Sicherheit – die von einer möglichen Apokalypse schließlich massiv bedroht wird. Gleichzeitig glaube ich, dass die Figuren im Angesicht einer Katastrophe auch die Sehnsucht verspüren könnten, ihr Leben in der letzten Zeit, die ihnen verbleibt, noch bewusst zu genießen. Andere könnten sich danach sehnen, als der-/diejenige, der eine mögliche Gefahr abgewendet hat, im Mittelpunkt zu stehen. Und vielleicht verspürt ja auch jemand die Sehnsucht danach, dass die Welt tatsächlich zugrunde geht?

Bei der Komödie Arsen und Spitzenhäubchen (Premiere am 23. März im Großen Haus) wird es schon etwas schwerer, den Anknüpfungspunkt zum Spielzeitmotto zu finden. Es könnten Sehnsüchte nach guten Taten oder auch nach der Erlösung eine Rolle spielen. Im Spielzeitheft spricht Schauspieldirektor Christoph Mehler, der die Regie dieser Produktion übernimmt, zudem von seiner Sehnsucht nach einem »vibrierenden Erlebnisraum« – in einen solchen gehören Komödien ebenso wie Tragödien.

Wenn wir schon bei den Sehnsüchten von unseren Regisseur*innen sind: Die Bakchen (Premiere am 28. März in der Sparte 4) kann hoffentlich seinen Teil dazu beitragen, die Sehnsucht junger Menschen, irgendwann als Regisseur*innen zu arbeiten, zu stillen. Es handelt sich bei dieser Produktion nämlich um eine Kooperation mit Regiestudierenden der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt, die sich einem der populärsten der griechischen Antikendramen widmen.

Die Sehnsüchte von noch jüngeren Menschen werden zum Mittelpunkt der diesjährigen Produktion des Jungen Ensembles des SST unter der Leitung von Luca Pauer. In Zitronenblühn (Premiere am 6. April in der Alten Feuerwache) wird somit den Sehnsüchten einer jungen Generation gelauscht, die leider zu oft belächelt und nicht ernst genommen wird.

In der Sparte 4 wurde als letztes Stück der Spielzeit Der Reichskanzler von Atlantis von Björn SC Deigner (Premiere am 01. Juni in der Sparte 4) gewählt. Dieses Stück beschäftigt sich mit dem Phänomen der Reichsbürger und somit… vielleicht mit der Sehnsucht nach Abschottung? Der Sehnsucht nach Macht? Sehnsucht nach Kontrolle? Sicherlich wird die Produktion einen Einblick in die Sehnsüchte erlauben, die ein Reichsbürger so verbirgt…

Zuletzt noch die Uraufführung von Philipp Löhles Firnis (Premiere am 07. Juni in der Alten Feuerwache): Ich glaube, die Sehnsucht nach Grenzüberschreitung und eventuell auch die Frage »Wann schadet die Erfüllung der Sehnsucht des einen Menschen einem anderen Menschen?« können hier eine Rolle spielen.

Jederzeit bereit, mich vom Gegenteil meiner Prognosen überzeugen zu lassen, freue ich mich nun auf die zweite Hälfte einer Spielzeit voller Sehnsüchte und kann Ihnen nur noch eines mit auf den Weg geben: Ihre Sehnsucht nach einem vielseitigen Programm wird sicherlich gestillt.