Theater in Zeiten von Corona
Als am 13. März 2020 der Spiel- und kurz darauf auch der Probenbetrieb am Saarländischen Staatstheater wegen der Corona-Pandemie eingestellt werden musste, hatte das Team schon vier Wochen an Ibsens »Nora oder Ein Puppenhaus« gearbeitet. Das Bühnenbild war fertig und die Kostüme zugeschnitten. Die Proben liefen vielversprechend und alle waren höchst motiviert. Am 4. April sollte Premiere sein. Doch dazu kam es nicht mehr. Was tun?
Alles verschrotten? Die Arbeit aufgeben? Die Regisseurin, die Ausstatterin, die Musikerin sang- und klanglos nach Hause schicken? Die Schauspielerinnen und Schauspieler auf die schon geplanten neuen Stücke der kommenden Spielzeit vertrösten? Nein! So wollten wir nicht mit der geleisteten Arbeit umgehen.
Doch wie könnte man das schon Entstandene, Diskutierte und An-Geprobte in die neue Spielzeit retten? Könnte das Team für einen neuen Zeitraum verpflichtet werden? Wie sah es mit ihren weiteren Engagements aus? Wir telefonierten, planten, tagten und legten einen neuen Probenzeitraum sowie einen neuen Premierentermin fest. Am 5. September könnte man die neue Spielzeit mit »Nora« in der Alten Feuerwache eröffnen! Doch wie sähe diese Arbeit aus? Hatte sich nicht alles verändert?
Erneut diskutierte ich mit Schirin Khodadadian, der Regisseurin, über den Text. – Las sich nicht mit den Erfahrungen von Corona, der Lockdown-Zwangspause, der Lähmung und dem nicht mehr Spielen-Können alles anders? Bekannte und auf den Proben oft gehörte Sätze standen auf einmal in einem anderen Kontext, lösten andere Fragen und Assoziationen aus. Einige Stellen unserer Textfassung verloren an Bedeutung, andere bekamen scheinbar eine neue Dringlichkeit oder Dramatik.
»Eine Tochter soll ihren alten, todkranken Vater nicht schonen dürfen? Eine Frau soll ihrem Mann nicht das Leben retten dürfen?« Oder: »Dieser Dunstkreis von Unaufrichtigkeit vergiftet ein Zuhause. Jeder Atemzug, den die Kinder in so einem Haus tun, ist voller gefährlicher Keime.«
Aber vor allem die Frage: Wie spielt man Theater in Zeiten von Corona? Wie können wir proben mit all den neuen Sicherheitsbestimmungen und Distanzregeln? Und wie wird das Publikum die veränderte Situation und die andere Spielweise wahrnehmen?
Voller Fragen, aber glücklich begannen wir am Montag, den 17. August, erneut die Proben an Ibsens »Nora« und, um unseren Neustart mit all den Unsicherheiten sowie der Frage nach dem Sinn und der generellen Bedeutung – um nicht das Unwort »Systemrelevanz« zu benutzen – von Theater und Spiel zu markieren, änderten wir den Titel in »Nora_Spielen!«
Tatsächlich ist dann auf den Proben auch alles anders geworden. Zwar steht das Bühnenbild, diese wunderbare Spiegel-Spielfläche von Carolin Mittler, wieder in der Alten Feuerwache, doch fast alle Spielrequisiten sind weggefallen. Kein Weihnachtsbaum, der geschmückt wird, keine Geschenkkartons, die ausgepackt und bespielt werden. Stattdessen landen einige Zuschauerstühle, die vom Publikum nicht besetzt werden können – auch hier gilt die Abstandregel von 1,5 Metern – auf der Bühne.
Denn, wenn alles anders ist, dann gilt es, das Andere, die »neue Realität« des Theaters zu befragen! Voller Spiel-Lust schmeißen sich die Spielerinnen und Spieler in die Proben und fragen: Wie hat sich Nora Helmars Puppen-Spiel-Welt verändert? Wie gehen ihre Figuren mit Distanz um? Was ist aus ihrer Sehnsucht nach Nähe geworden? Aber leben sie eh nicht alle in einer Scheinwelt? Spielen sie sich nicht alle etwas vor? Wollen sie nicht alle dabei sein, mitspielen und den schönen Schein wahren? Oder müssen sie mitspielen, um zu überleben? Wer ist Mit- und wer ist Gegenspieler? Jede Figur vertritt eine andere Spiel-Realität und verweist somit auf eine andere Möglichkeit des Lebens, auf ein anders Sein in diesem Ibsen-Kosmos. Doch die Rollenmuster verschieben sich.
Die brüchige Welt ist noch brüchiger geworden. Um so mehr brauchen alle den anderen, ein Gegenüber; wenn nicht als Mitspieler, dann als Zuschauer! Spätestens jetzt bekommen die Zuschauerstühle auf der Bühne eine neue, eine weitere Bedeutung. Spiel als wechselseitige Befragung und Vergewisserung des gesellschaftlichen Miteinanders und der eigenen Existenz.
Das allerdings schon vor Corona. Eine Schauspielerin oder ein Schauspieler nimmt eine Rolle an und spielt sie vor einem Publikum. Das ist die Definition des Theaters! Hier liegen der Reiz, die Lust, die Arbeit, die Erkenntnis und der Sinn.
Wer nicht dabei ist, hat was verpasst. Theater ist (wieder) live!
Horst Busch,
Chefdramaturg