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Theater-Scouts besuchen „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“

Die Theater-Scouts (14-17 Jahre) sind eine feste Gruppe von Jugendlichen, die das Saarländische Staatstheater durch die gesamte Spielzeit begleitet. Neben Vorstellungsbesuchen nehmen sie an Proben teil, kommen mit dem Ensemble ins Gespräch und werfen einen neugierigen Blick hinter die Kulissen. Ihre Beobachtungen erscheinen nicht nur im Blog, sondern auch auf Instagram, in der Theaterzeitung und weiteren Formaten des Hauses.

Zuletzt haben sie die Inszenierung „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zauns schaute“ besucht. Das Stück erzählt vom Blick der Zootiere auf das Konzentrationslager Buchenwald und findet dafür starke, beklemmende Bilder. Wie die Jugendlichen die Vorstellung erlebt haben, zeigen ihre sehr persönlichen Eindrücke.

Eindrücke der Theater-Scouts

Ina Rosa Bethscheider:
„Was das Nashorn sah ist ein sehr eindrucksvolles und heftiges Stück. Bis heute bekomme ich das Husten des Bären nicht aus meinem Kopf. Das Thema ist so traurig und kam in dieser Inszenierung extrem stark zum Ausdruck. Besonders der Moment, in dem die Todesursache des Nashorns enthüllt wurde, ist mir im Kopf geblieben. Ich bin danach mit einem überwältigten Gefühl aus dem Theater gekommen.“

Pauline Stiller:
„Das Stück zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie Tiere die Grausamkeit der Konzentrationslager spiegeln, ohne sie direkt auszusprechen. Die Bilder bleiben lange im Kopf und begleiten einen definitiv bis nach Hause. Man wird daran erinnert, niemals wegzuschauen und – wenn man kann – zu handeln. Das ist ein Gedankenanstoß, der uns im Alltag oft verloren geht.“

Lourdes Rheinhardt:
„Mir ist am meisten das Bild „Jedem das Seine“ im Gedächtnis geblieben, weil das ja auf dem Eingangstor des KZ Buchenwald stand. Ich hoffe, dass Jugendliche heute daran denken, dass Rassismus und jede Art von Diskriminierung nicht in Ordnung sind und dass man die Vergangenheit nicht vergessen sollte. Die Geschichte und wie sie gespielt wurde, zeigen den Ernst der Lage. Wir dürfen diese Zeit und die vielen Toten nicht vergessen. Wir haben uns das Theaterstück angesehen und gefragt: ‚Was ist das?‘ – und dann auf die andere Seite geschaut.“

Emma Schmidt:
„Ich möchte weitergeben, dass es wichtig ist, auch in der heutigen Zeit über Themen wie die NS-Zeit zu sprechen. Sich auszutauschen ist wichtig, weil manche Jugendliche vielleicht gar nicht genau wissen, was damals passiert ist. Wir waren ja nicht dabei. Aber man sollte darüber reden, diskutieren und vielleicht sogar demonstrieren. Da dieses Thema jetzt doch wieder aktueller ist, finde ich es wichtig, eine eigene politische Meinung zu haben und für die Demokratie zu kämpfen.“

Lennart Schmidt:
„Mir hat das Stück noch einmal gezeigt, wie wichtig es ist, dass wir nie vergessen dürfen, was in der NS-Zeit geschehen ist. Deshalb finde ich es sehr wichtig, weiterhin darüber zu sprechen. Nur so können wir deutlich machen, warum wir unsere Demokratie und unsere Menschenrechte bewahren müssen – und warum das so wichtig ist.“

Ben Spath:
Was ich sah als ich auf die andere Seite schaute? Ich sah ein Stück, das ein schwieriges und gleichzeitig trauriges Thema behandelt, dabei aber dennoch humorvoll ist. Ich denke, gerade für Jugendliche ist dieses Stück wichtig. Besonders in Zeiten politischen Wandels. Es soll ihnen zeigen, dass sich die Geschichte nicht ein zweites Mal wiederholen darf. Abschließend möchte ich sagen: schaut auch mal über den Zaun und nicht nur auf das, was auf eurer Seite passiert.

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fritz kater
apparat future 2

1
zukunft ist verlängerung der gegenwart/vergangenheit und eben auch nicht/
beim lesen wird mir klar dass alles so kommen kann wie es da steht/
aber eben auch nicht muss!
die scheinbar dystopische beschreibung könnte viel schlimmer sein!/ aber
eben auch viel besser..
natürlich ist es eben wirklich eine frage was gut/ schlecht ist..
und mir wurde sehr klar /dass es eben sehr wohl (! ) an jedem einzelnen liegt
wie es in 20 /30 jahren sein wird/
also wie unsre kinder dann leben werden/und der rest von uns/
das bedeutet /dass das stück eben auch eine aufforderung bedeutet: seine eigene position (mit hilfe des textes
ausfindig zu machen /und wenn möglich/hinsichtlich seiner eigenen möglichkeiten/einschätzungen und absichten
danach auch folgerichtig zu handeln…
2
persönlich ist der gedanke unangenehm:
dass es »dann«(zukunft) irgendwie immer eine art »abrechnung« gibt/
Und das sowohl: von den anderen/ als auch von einem selbst!
wenn man dazu noch zeit hat/sie sich nimmt /
also wie weit ist man selber gegangen auf dem weg ?/in welche richtung?/
wo hätte er/ich/sie/es anders abbiegen sollen/können?/vielleicht müssen?
..
wobei der gedanke wohltuend ist/dass die jeweiligen determinationen/

die die personen grundiert/führt und beschränkt/ schon ziemlich umfangreich ist/
(also wie sich frau/mann/weisser /schwarzer/alter/junger/kranker/starker reicher/armer /diverser zu
verhalten haben:
angesichts der jeweiligen sozialen/moralischen/kulturellen/ökonomischen /politischen vorstellungen
einer gesellschaft)
will sagen: mein »gestaltungsfreiraum« ist eben gerade nicht so »enorm« wie es
werbung/erziehung/medien/der staat/ und alle anderen einem
suggerieren/das heisst einerseits mein »eigenanteil an weltveränderungspotential« ist definitiv
gering/
aber!/das abschieben der verantwortung auf die »herrschenden« ist eben auch eine lüge/weil sie es
ja nicht sind :»die herrschenden«/
sondern nur die menschen /»die uns und viele güter besitzen«/
(als auch die ästhetische deutungshoheit:»der herrschende geschmack ist der geschmack der
herrschenden«b.b.)
aber alles (!) ist immer in bewegung (also auch die herrschaftsverhältnisse!)/also sollten wir uns
doch einmischen!
3
die 3- teilung des textes hat mehrere gründe /einmal geht es in der tat darum ästhetisch so etwas
wie ein tryptichon herzustellen /
als eine art »altar mit 3 seiten« (der nacheinander aufgeklappt werden kann)/(vielleicht im kontext
zu
marys ästhetischen vorstellungen)/
..wo die einzelnen flügel sich gegenseitig beleuchten/und so eine mehrdimensionalität »erscheinen«
könnte/
andererseits geht es darum verschiedene möglichkeiten/tangenten vom heute in die zukunft zu
ziehen/und zu verlängern/
Und diese sich hypothetisch zu vergegenwärtigen..
und schlussendlich finde ich das »spiel mit der zeit« reizvoll/will sagen/in beide zeitachsen (vor-
zürück) ist
eine darstellung möglich!!/wobei die rückwärts laufende mir zwar schwieriger /aber nach wie vor
reizvoller
erscheint/

4
die 3 bücher/
bilden imaginiert 3 verschiedene aufeinanderfolgende zeiten ab:
(vor allem aber ja 3 verschiedene orte:) 4.1.
buch 3( kurz nach dem 3. weltkrieg )zeigt eher ein gemälde wie ich es mir nach dem 30-jährigen krieg
in
europa vorstelle:
alles liegt noch in schutt asche/hunger krankheiten gewalt überziehen das land
und wir sehen 2 menschen (wanna und foe) wie sie einen ähnlichen weg richtung »gelobtes land«
erleben/erstreben/unterschieden (aus weiblicher und männlicher sicht/) am ende ein temporäres
glück(wie jedes glück)
von jungen menschen /die noch einen langen weg vor sich haben/

4.2.
spielt einige zeit/(jahre später )in einer megametropole/die schon absolut überwacht und technokratisch organisiert ist/
(ich war nur einmal in china in einer 34 millionen-stadt aber so »dinge« habe ich da gefühlt)
hier agieren die ki- figuren als anwälte des staates /als ordnungsapparate /aber auch als produzenten /therapeuten und management-
ausführende in unterschiedlichen rollen/
foe und mary sind 2 »humanoide«(hier im sinne von »teilmenschlich« verstanden) aussenseiter /beide verletzt/
er/psychisch -sie physisch/
sie bilden ein ungleiches paar und mary versucht eigentlich durch und über: kunstproduktion und kunsterörterung /
so etwas wie ein produktives auf kommunikation /spiel und/oder manufaktur beruhendes leben zu schaffen /
in einer welt in der es scheinbar keinen »widerstand« sondern nur noch entropie/also: den versuch zur absoluten ordnung
Gibt/
(in diesem teil wird deutlich /dass nicht die ki-robots »böse« sind /sondern die memschen /die sie programmieren(lassen)
aber auch /dass in dieser(!) ki-welt so etwas wie »widerstand« ähnlich wie bei »1984« oder in »brazil«
kaum noch eine chance hat…
4.3.
hier noch einige zeit später sehen wir die »absolut andere seite/«
Wir sind in :
einer völlig zerstörten müll- und todeswelt/ auf der die ausgestossenen /kaputten aber eben noch »überlebt habenden/«
versuchen zu existieren/ und neue oder scheinbar alte (?)formen des zusammenlebens ausprobieren /reorganisieren/
Diese welt ist erstaunlicherweise grösstenteils (wie heute in somalia/jemen /haiti z.b) längst realität/
(nur eben nicht unsere)
..
spannend wird die experimentieranordnung für »privilegierte zuschauende« dadurch/dass eine »ausgestossene person der oberen mittelschicht«
(anthony) versucht:
in die welt der freaks/halb-menschen und outlaws einzudringen /diese begehren nach einem »anderen« leben bezahlt
Der aus dem chor der bürger ausgestossene(anthony) relativ schnell mit dem tod /
weil er die herrschenden »archaischen« regeln nicht akzeptiert/versteht/wahrhaben will/
..
celine/rimbaud/jack london(wolfsblut)/tolstoi(der lebende leichnam)/marianne herzog(nicht den hunger verlieren) haben
solche »reisen« in andere milleus /kontinente und lebensentwürfe schon vorher beschrieben und teilweise(rimbaud) dafür mit ihrem eigenen leben bezahlt..

seltsamerweise erscheint in diesem teil der hauptaspekt des sonstigen textes:»die einsamkeit«
eine eher untergeordnete rolle zu spielen!
/vielleicht weil die unglaubliche anstrengung des überlebens dazu keine zeit lässt oder
Diese systeme (trotz ihrer härte) eine relative stabilität erzeugen/darstellen..
5
die ki figuren sind möglichst symphatisch oder zumindestens komisch gestaltet/
Und darzustellen!!!
(wie gesagt: sie selber können nicht »böse« (sein allerhöchstens die programmierer/)
gerade in ihrer unfertigkeit/naivität liegt ihr charme ihre komik!/
und manchmal eben auch (wie bei wanna-ki) ihr widerstandspotential..
6
die genre der 3 bücher untescheiden sich und soll(t)en auch möglichst unterschiedlich dargestellt werden/
so dass das triptychon wirklich plastisch wird!
..
buch 2 ist eine melancholische komödie mit starken essayistische zügen/
buch 3 ein roadmovie und natürlich eine liebesgeschichte aber auch ein »coming out of age drama«/
buch 1 der eigentlich science fiction: anfangend mit einer art »teacher-stand up comedy« so ist zumindstens der plan!!!

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Ein Untersuchungsfeld für die Bühne

Anna-Elisabeth Fricks Arbeiten oszillieren zwischen Sprechtheater und Performance. In der Alten Feuerwache bringt sie einen Abend »Verlorener Erinnerungen« heraus.  Dramaturgin Simone Kranz sprach mit ihr über die Proben.

Simone Kranz Anna, nach den ersten Proben bin ich sehr fasziniert von deiner Arbeitsweise. Kannst du deine `Methode´ beschreiben?

Anna-Elisabeth Frick Ich weiß gar nicht, ob man das eine Methode nennen kann. Ich bin eine große Sammlerin, ich interessiere mich für alles, was mit dem Thema, das ich gerade bearbeite, zu tun hat. Dieses Material bearbeite ich dann mit den Spielenden. Dabei suche ich die Themen schon so aus, dass es eine Verbindung zu meiner Biografie gibt. Bei »Lethe« ist das Bindeglied mein Vater, der mit Demenz verstorben ist.

K Geht es dir um Aufklärung?

F Das wäre zu kurz gegriffen. Es gibt ja schon Hilfsangebote und Themenabende. Ich möchte mehr einen sinnlichen Raum schaffen, in den das Publikum eintauchen kann. Die Orientierungslosigkeit des Krankheitsbildes Demenz entspricht für mich einem gesellschaftlichen Phänomen. Jeder und jede kennt doch das Gefühl, auf einmal Dinge nicht mehr zu verstehen, die politischen Zusammenhänge nicht mehr erfassen zu können, z.B. nicht glauben zu können, was Trump in Amerika da als Gesetz verkündet. Das Thema hat eine gesellschaftliche, politische und philosophische Dimension. 

K Trotz dieser philosophischen Einbindung arbeitest du mit dem Choreographen Ted Stoffler sehr körperlich…

F Ja, es geht ja auch um Körper. Die Körper der Erkrankten, die ständig laufen wollen, zu anderen Orten, die es so vielleicht gar nicht mehr gibt. Das nicht zur Ruhe kommen können. Nähe und Abstand – beides wird von an Demenz Erkrankten plötzlich anders definiert. Das ist ein schönes Untersuchungsfeld für die Bühne.

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Zur klanglichen Konzeption von »Lethe – Ein Abend verlorener Erinnerungen«

Von Hannes Strobl

Der Musiker, Komponist und Klangkünstler Hannes Strobl beschäftigt sich intensiv mit urbanen Klangräumen, sowie der Interaktion zwischen Klang und architektonischem Raum. Seine Arbeiten zeichnen sich durch ihre immersive Qualität und die Verschmelzung von Musik, Technologie und Raum aus. Für die Produktion »Lethe. Ein Abend verlorener Erinnerungen« war das Thema Vergessen, Ausgangspunkt seiner Komposition. Im Folgenden beschreibt er seine Arbeitsweise.

Klang und Erinnerung

Der Theaterabend »Lethe. Ein Abend verlorener Erinnerungen« widmet sich dem Phänomen des Vergessens und nutzt die besondere Fähigkeit von Klang und Musik, vergangene Situationen oder bestimmte Atmosphären wieder aufleben zu lassen. Klang kann Erinnerungen wachrufen, die längst im Hintergrund des Bewusstseins verschwunden sind – selbst dann, wenn andere Zugänge zur Vergangenheit verblassen.

Ein Lied aus der Zeit der ersten Verliebtheit, das Zirpen der Grillen im Urlaub oder das vertraute Rumpeln eines vorbeifahrenden Zuges nahe der Wohnung, in der man aufgewachsen ist – solche Klänge können tief verankerte Erinnerungen hervorrufen. Auf dieser Einsicht basiert die klangliche Konzeption, die gezielt Elemente einsetzt, um emotionale und assoziative Prozesse anzuregen.

Zusätzlich nutzt die Komposition Audioaufnahmen (Field Recordings), die auf die frühere Nutzung der »Alten Feuerwache« als Turnhalle verweisen. Das Quietschen von Turnschuhen, entfernte Stimmen oder das Echo eines Balls machen die Vergangenheit des Raumes hörbar – der Raum erzählt seine Geschichte.

Spannungsfeld durch verschiedene klangliche Mittel

Musikalisch bewegt sich die Komposition zwischen Wiederholung und Auflösung, zwischen Vertrautem und Überraschendem. Dieses Spannungsfeld wird durch verschiedene klangliche Mittel erzeugt: Loops lassen sich als Metapher für das Vergessen verstehen – jedes wiederholte Klangfragment erscheint wie neu, als wäre es zum ersten Mal gehört. Kontinuierliche Klangschichten erzeugen eine Form des Verschwindens: Sie bleiben präsent, werden jedoch mit der Zeit unbewusst ausgeblendet, ähnlich dem monotonen Brummen eines Ventilators oder dem fernen Rauschen einer Straße.

Plötzliche Brüche und Fragmente spiegeln Momente des Erinnerungsverlusts oder der Orientierungslosigkeit wider.

So geht es in der Komposition nicht nur darum, das Vergessen klanglich zu erfassen, sondern auch die emotionale Kraft von Klang als Brücke zur Erinnerung spürbar zu machen. Musik wird zum Medium zwischen Verlorenem und Wiedergefundenem, zwischen Vergessen und Erinnern.

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Schein-Heiliger Abend im Familienkreis

Evelyn reicht’s: Jahrelang hat sie sich abgemüht, um das perfekte Weihnachtsfest für ihre Familie zu zaubern, gedankt hat es ihr keine*r. Darum bucht sie nun eine Reise nach Thailand, mit im Gepäck ihre beste Freundin Ada und ihre erwachsenen Kinder Iris und Simon nebst Anhang. Trotz Sonne und Strand merken sie schnell: Egal, wohin man reist, sich selbst nimmt man immer mit, inklusive aller Widersprüche und Konflikte.

Gesa Oetting »Tradition is just peer pressure from dead people.« (Übersetzung: Tradition ist nur Gruppenzwang der Toten) – dieses Zitat stellen Sie Ihrem Stück voran. Sind Traditionen wie solche an den Weihnachtstagen durchweg überholt, oder gilt es, sie neu zu denken?

Rebekka Kricheldorf Ich halte die Traditionspflege für sehr ambivalent. Sie bedeutet einerseits, eventuell völlig unreflektiert Praktiken zu reproduzieren, einzig aus dem Grund, weil man es halt immer schon so gemacht hat. Dann werden Rituale hohl, weil der religiöse Ursprung verloren ging, oder grausam, wenn sie, wie im Stierkampf, heutigen ethischen Standards zuwiderlaufen, oder sexistisch, wie bei augenzwinkernd-harmlosen, aber im Kern misogynen Bräuchen wie dem Brautstrauß-Werfen.

Aber Traditionen können ja auch identitätsstiftend sein. Sie geben dem Leben Struktur, halten Gemeinschaften zusammen, bieten Anlass zu Feier und Besinnlichkeit. Also würde ich für einen affirmativen, aber kritischen Umgang mit Traditionen plädieren.

Es ist kein Wunder, dass gerade Weihnachten in der Literatur ein so beliebtes Sujet ist, da zu diesem Fest eine Vielzahl an Erwartungen, Werten und Vorstellungen aufeinanderprallen. Und es kann auch einen Anlass bieten, wie in meinem Stück, darüber zu debattieren, was Familie überhaupt ist.

GO Scharfe Sticheleien, unliebsame Wahrheiten und eine Familie, die sich wortwörtlich an die Gurgel geht – das Weihnachtsfest in Ihrem Stück hält mit viel Humor und Wortwitz alles parat. Spaß beiseite – hat das Konzept »Kernfamilie« ausgedient?

RK Wenn man sich weltweit umsieht, in welchen Gemeinschaftsformen Menschen sich organisieren, kann man diese Frage nur mit einem klaren Nein beantworten. Die Kernfamilie – schon oft totgesagt, kritisiert, satirisch attackiert – erfreut sich nach wie vor großer Beliebtheit. Ihr Fortbestehen füllt auch die Kassen der Therapeuten, denn auch als Keimzelle der Neurose hat die Familie nach wie vor Gültigkeit. Familie bedeutet Halt und Geborgenheit, aber ebenso auch Verletzung und Trauma.

Ich finde alle Denkansätze interessant, die versuchen, den Familienbegriff neu zu denken. Wenn die klassische Familie so konfliktbehaftet ist, wäre dann eine Wahlfamilie nicht das bessere Konzept? Sollten Freunde und Freundinnen nicht denselben oder gar einen höheren Stellenwert haben wie Verwandte? Auch eine feministische Kritik an der Familie als Ausbeutungsapparat weiblicher Arbeitskraft finde ich schlüssig, das klingt in meinem Stück ja auch ein bisschen an.

In »Mehr Lametta am Meer« streiten die Figuren ja auch heftig darüber, wer zur Familie gehört und wer nicht. Die beste Freundin? Der Lover? Ich finde es wichtig, in meinen Stücken solche alternativen Familienentwürfe zur Debatte zu stellen und ein Nachdenken darüber anzuregen.

GO Bei Evelyn und Co kollidieren Lebensentwürfe und Ideale: Vegetarische Ernährung versus Plastik in Form von Lametta am Baum – kann man noch einen nicht schein-Heiligen Abend verbringen?

RK Für jemanden, für den Fleischverzehr Tiermord ist, oder der im Jungfrauenkult zutiefst misogyne Strukturen am Werk sieht, war der Heilige Abend vielleicht noch nie „heilig“ im Sinne von: ethisch unbedenklich, unschuldig und rein. Aber im Grunde sind wir scheinheilig in allem, was wir tun, nicht nur an Weihnachten, sondern auch über den Rest des Jahres. Das würde ich nicht allzu sehr verteufeln, es ist ziemlich menschlich. Wir sind eben inkonsequente Lustmenschen, faul und verführbar, hedonistisch und bequem. Dafür sollten wir uns nicht ständig geißeln, sondern einfach mal dazu stehen und gucken, wie wir mit dieser Disposition arbeiten könnten. Das bedeutet, dass wir im Klimaschutz nicht weiterkommen, wenn wir uns ständig gegenseitig unsere individuellen (Umwelt)-Sünden vorrechnen, sondern eher mit einem großen, eventuell radikalen, politischen Konzept.

GO Trotz Klima-Krise und dem Bewusstsein für den eigenen CO2-Verbrauch erlebt die Tourismusbranche steigende Zahlen. In »Mehr Lametta am Meer« zerrupfen Tiere nach und nach die Weihnachtsdeko – die Natur, die zurückschlägt? Sind wir noch zu retten?

RK Angesichts der immer größer werdenden Probleme mit dem Overtourism wäre es höchste Zeit zum Umdenken. Wir müssten Arbeit und Freizeit, Abenteuer und Erholung komplett neu definieren. Auch da sehe ich wenig Sinn in Appellen an individuellen Verzicht, sondern eher den Bedarf nach schärferen Regeln, der Verteuerung von Flugreisen zum Beispiel oder (was viele überforderte Städte ja schon machen) eine tägliche Besucher-Obergrenze. Das schließt direkt an meine Antwort auf die letzte Frage an: Den Ruf nach einem großen, politischen Konzept. Angesichts der aktuellen Weltlage bin ich persönlich da eher pessimistisch. Wenn wir schon allein in Deutschland keine mickrigen Zugeständnisse an den Klimaschutz hinbekommen, wie soll das global funktionieren?

Also ist das Schlussbild, dass nach unserem – immer wahrscheinlicher werdenden – Verschwinden die Tiere sich die Erde zurückerobern und die Überbleibsel unserer Kulturleistungen und religiösen Rituale fleddern werden, gar nicht so überzogen.

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»Von Mensch zu Monster – handgemacht«

Die Monster in unseren Köpfen

Über die Jahrhunderte veränderten sich Bild und Bedeutung eines »monstrum« (lat.) stetig – bis heute bleibt das »Monster« eine Bezeichnung mit zwei Gesichtern, ist sowohl negativ als auch positiv konnotiert. Verwendet zur Umschreibung von Fehlbildungen, Hybridwesen bis zu Menschen bzw. Wesen, die gegen Natur und Gesetz handeln, wird der Begriff »Monster« je nach Religion, Vorstellung und Kultur anders interpretiert: Einige Hybridwesen wie Einhörner oder Feen gelten als ein märchenhaftes Fabelwesen, die Unschuld und Schönheit verkörpern. Menschen und Tiere mit Fehlbildungen werden in manchen Religionen und Kulturen als Auserwählte oder Reinkarnation der Götter gesehen. »Du bist ein Monster« können wir zu Menschen sagen, deren Stärke uns übernatürlich vorkommt, oder zu Menschen, die böse im Sinne unserer Wert- und Normvorstellungen sind. Bei Nacht werden Gegenstände in unserem Zimmer zu Monstern, die bei näherer Betrachtung lediglich die Schatten der Äste oder die langen Gardinen waren. Alles kann zum Monster werden, solange wir es für eines halten.

Gwynplaine (Jan Hutter) Foto: © Martin Sigmund

»L’Homme qui rit« von Victor Hugo

Der Autor Victor Hugo (1802-1885) gilt als einer der berühmtesten Autoren Frankreichs. Bekannt für »Der Glöckner von Notre-Dame« (1831), »Les Misérables« (1862) und »L’Homme qui rit« (1869) und viele weitere literarische Werke, gleichen sich die Protagonisten seiner Werke: von der Gesellschaft abgestoßene oder als »Monster« bezeichnete Figuren, die zum Nachdenken anregen.
Das im Saarländischen Staatstheater aufgeführte Stück »Der Mann, der lacht« entstand frei nach Hugos Roman »L`Homme qui rit«, in dem der Autor die sozialen Gegensätze im England des 17. Jahrhunderts kritisiert. Der von Ursus aufgenommene Gwynplaine, durch eine Operation entstellt, wird durch sein fratzenhaftes Lachen zum Spektakel der Jahrmärkte.

Die Verfilmung von 1928: Inspiration für den »Joker«

Der amerikanische Stummfilm »The Man who laughs« aus dem Jahr 1928 des deutschen Regisseurs Paul Leni ist eine Adaption von Victor Hugos historischem Roman. In der Verfilmung entstand der Look, der zu Batmans Nemesis, dem »Joker« inspirierte und seine Darstellung prägte. Der Maskenbildner Jack Pierce, bekannt für die berühmte Maske und das Maskenbild in »Frankenstein« (1931), war auch zuständig für das »ewige Lachen« von Conrad Veidt,der Gwynplaine im Stummfilm spielte. Pierce nutzte eine Vorrichtung, die sein Lachen fixierte, und gab ihm rote Lippen. Im Film in schwarz-weiß gaben diese Lippen ihm einen Look mit Wiedererkennungswert. Sein Lachen prägte sich in die Köpfe der Zuschauenden ein und war 1940 die grundlegende Idee für das Aussehen des ersten »Joker« im US-Comic »Batman #1« (1940). Der Name bezieht sich auf den Joker der bekannten Kartenspiele wie Rommé und Canasta mit dem abgebildeten Hofnarren. Über die Jahre hinweg gab es unterschiedlichste Interpretationen seines Looks, doch Veidts Lachen bleibt bis heute unvergesslich.

Das ewige Lachen auf der Bühne

»À la Gwynplaine« bezeichnet Königin Anna bei Hugo und im Stück die Operation, die die »Comprachicos« an Gwynplaine vollzogen haben und die ihn für immer zu einer Witzfigur der Gesellschaft machte. Das Stück erinnert uns daran, hinter das Aussehen der Menschen zu sehen und daran, wer die wahren »Gaukler« sind: Figuren wie Königin Anna täuschen die Menschen mit ihren Tricks, um zu bekommen, was sie wollen. Sie geben vor, etwas zu sein, das sie nicht sind, täuschen andere, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Moodboard von Kostümbilderin Jennifer Hörr für das »ewige Lachen« der Saarbrücker Inszenierung

Sabrina Neukirch stellte die Maske nach den Vorstellungen der Kostümbildnerin Jennifer Hörr her. Inspiration hierfür waren unter anderem die Grillz von Lady Gaga sowie der Protagonist Willy Wonka aus »Charlie und die Schokoladenfabrik« nach Tim Burton. Sabrina ist gelernte Damenschneiderin und bildete sich in Kursen zur Hutmacherin weiter.

Grillz – ein Schmuck, der normalerweise auf den Zähnen liegt – sind im Theater wenig praktisch: Sie würden die spielende Person am Sprechen hindern und ihre Spielweise beeinträchtigen. Anders als in Filmen, in denen mehrere Pausen gemacht werden können, muss die spielende Person im Theater ständig beweglich bleiben. Die Maske von Gwynplaine ist nicht nur deswegen außerhalb seines Mundes: Es macht sein Lächeln bewusst skurril, abschreckend und furchteinflößend. Sein fratzenhaftes Lachen wirkt, egal, was er tut, wie ein permanenter Fremdkörper und grenzt ihn auffällig von den anderen, von der Gesellschaft ab. Sein Lachen ist ständig unter Spannung – egal, was er fühlt, er bleibt der lachende Mann.

Der Prozess der Herstellung der Maske dauerte drei Stunden. Die aus Plastik und Keramik bestehenden Zähne der Maske stammen aus der Requisite – sie wurden aus einem alten Zahnarztbestand an das Theater gespendet. Die einzelnen Zähne wurden auf einem Draht aufgefädelt und danach auf ein Trägermaterial aus hitzeverformbarem Material namens Worbla gedrückt. Unterlegscheiben, Schrauben und Muttern stabilisieren die Maske an den äußeren Punkten. Immer wieder wird die Maske an den Schauspieler Jan Hutter, der Gwynplaine spielt, angepasst. Um die Maske tragbar zu machen, wurde sie auf einen Metallbügel, wie man ihn vom Zahnarzt kennt, angebracht. Das ewige Lachen für die Bühne ist fertiggestellt und bereit für die Premiere!

Der Text stammt von Jule Sattler, die im August ihr FSJ in der Dramaturgie begonnen hat, in Zusammenarbeit mit der Produktionsdramaturgin Gesa Oetting.