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»Von Mensch zu Monster – handgemacht«

Die Monster in unseren Köpfen

Über die Jahrhunderte veränderten sich Bild und Bedeutung eines »monstrum« (lat.) stetig – bis heute bleibt das »Monster« eine Bezeichnung mit zwei Gesichtern, ist sowohl negativ als auch positiv konnotiert. Verwendet zur Umschreibung von Fehlbildungen, Hybridwesen bis zu Menschen bzw. Wesen, die gegen Natur und Gesetz handeln, wird der Begriff »Monster« je nach Religion, Vorstellung und Kultur anders interpretiert: Einige Hybridwesen wie Einhörner oder Feen gelten als ein märchenhaftes Fabelwesen, die Unschuld und Schönheit verkörpern. Menschen und Tiere mit Fehlbildungen werden in manchen Religionen und Kulturen als Auserwählte oder Reinkarnation der Götter gesehen. »Du bist ein Monster« können wir zu Menschen sagen, deren Stärke uns übernatürlich vorkommt, oder zu Menschen, die böse im Sinne unserer Wert- und Normvorstellungen sind. Bei Nacht werden Gegenstände in unserem Zimmer zu Monstern, die bei näherer Betrachtung lediglich die Schatten der Äste oder die langen Gardinen waren. Alles kann zum Monster werden, solange wir es für eines halten.

Gwynplaine (Jan Hutter) Foto: © Martin Sigmund

»L’Homme qui rit« von Victor Hugo

Der Autor Victor Hugo (1802-1885) gilt als einer der berühmtesten Autoren Frankreichs. Bekannt für »Der Glöckner von Notre-Dame« (1831), »Les Misérables« (1862) und »L’Homme qui rit« (1869) und viele weitere literarische Werke, gleichen sich die Protagonisten seiner Werke: von der Gesellschaft abgestoßene oder als »Monster« bezeichnete Figuren, die zum Nachdenken anregen.
Das im Saarländischen Staatstheater aufgeführte Stück »Der Mann, der lacht« entstand frei nach Hugos Roman »L`Homme qui rit«, in dem der Autor die sozialen Gegensätze im England des 17. Jahrhunderts kritisiert. Der von Ursus aufgenommene Gwynplaine, durch eine Operation entstellt, wird durch sein fratzenhaftes Lachen zum Spektakel der Jahrmärkte.

Die Verfilmung von 1928: Inspiration für den »Joker«

Der amerikanische Stummfilm »The Man who laughs« aus dem Jahr 1928 des deutschen Regisseurs Paul Leni ist eine Adaption von Victor Hugos historischem Roman. In der Verfilmung entstand der Look, der zu Batmans Nemesis, dem »Joker« inspirierte und seine Darstellung prägte. Der Maskenbildner Jack Pierce, bekannt für die berühmte Maske und das Maskenbild in »Frankenstein« (1931), war auch zuständig für das »ewige Lachen« von Conrad Veidt,der Gwynplaine im Stummfilm spielte. Pierce nutzte eine Vorrichtung, die sein Lachen fixierte, und gab ihm rote Lippen. Im Film in schwarz-weiß gaben diese Lippen ihm einen Look mit Wiedererkennungswert. Sein Lachen prägte sich in die Köpfe der Zuschauenden ein und war 1940 die grundlegende Idee für das Aussehen des ersten »Joker« im US-Comic »Batman #1« (1940). Der Name bezieht sich auf den Joker der bekannten Kartenspiele wie Rommé und Canasta mit dem abgebildeten Hofnarren. Über die Jahre hinweg gab es unterschiedlichste Interpretationen seines Looks, doch Veidts Lachen bleibt bis heute unvergesslich.

Das ewige Lachen auf der Bühne

»À la Gwynplaine« bezeichnet Königin Anna bei Hugo und im Stück die Operation, die die »Comprachicos« an Gwynplaine vollzogen haben und die ihn für immer zu einer Witzfigur der Gesellschaft machte. Das Stück erinnert uns daran, hinter das Aussehen der Menschen zu sehen und daran, wer die wahren »Gaukler« sind: Figuren wie Königin Anna täuschen die Menschen mit ihren Tricks, um zu bekommen, was sie wollen. Sie geben vor, etwas zu sein, das sie nicht sind, täuschen andere, um ihr Vertrauen zu gewinnen.

Moodboard von Kostümbilderin Jennifer Hörr für das »ewige Lachen« der Saarbrücker Inszenierung

Sabrina Neukirch stellte die Maske nach den Vorstellungen der Kostümbildnerin Jennifer Hörr her. Inspiration hierfür waren unter anderem die Grillz von Lady Gaga sowie der Protagonist Willy Wonka aus »Charlie und die Schokoladenfabrik« nach Tim Burton. Sabrina ist gelernte Damenschneiderin und bildete sich in Kursen zur Hutmacherin weiter.

Grillz – ein Schmuck, der normalerweise auf den Zähnen liegt – sind im Theater wenig praktisch: Sie würden die spielende Person am Sprechen hindern und ihre Spielweise beeinträchtigen. Anders als in Filmen, in denen mehrere Pausen gemacht werden können, muss die spielende Person im Theater ständig beweglich bleiben. Die Maske von Gwynplaine ist nicht nur deswegen außerhalb seines Mundes: Es macht sein Lächeln bewusst skurril, abschreckend und furchteinflößend. Sein fratzenhaftes Lachen wirkt, egal, was er tut, wie ein permanenter Fremdkörper und grenzt ihn auffällig von den anderen, von der Gesellschaft ab. Sein Lachen ist ständig unter Spannung – egal, was er fühlt, er bleibt der lachende Mann.

Der Prozess der Herstellung der Maske dauerte drei Stunden. Die aus Plastik und Keramik bestehenden Zähne der Maske stammen aus der Requisite – sie wurden aus einem alten Zahnarztbestand an das Theater gespendet. Die einzelnen Zähne wurden auf einem Draht aufgefädelt und danach auf ein Trägermaterial aus hitzeverformbarem Material namens Worbla gedrückt. Unterlegscheiben, Schrauben und Muttern stabilisieren die Maske an den äußeren Punkten. Immer wieder wird die Maske an den Schauspieler Jan Hutter, der Gwynplaine spielt, angepasst. Um die Maske tragbar zu machen, wurde sie auf einen Metallbügel, wie man ihn vom Zahnarzt kennt, angebracht. Das ewige Lachen für die Bühne ist fertiggestellt und bereit für die Premiere!

Der Text stammt von Jule Sattler, die im August ihr FSJ in der Dramaturgie begonnen hat, in Zusammenarbeit mit der Produktionsdramaturgin Gesa Oetting.

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»Firnis«: An der Membran zwischen Moral und Gewalt

Am 07. Juni wird Philipp Löhles »Firnis« in der Alten Feuerwache uraufgeführt. Lenke Nagy hat mit den Mitwirkenden über ihren Bezug zu der bitterbösen Komödie gesprochen.

Was hat dich beim ersten Lesen des Stückes besonders gefesselt?

David Rimsky-Korsakow (Musik): Also was ich mag, ist, dass so große, existenzielle und anthropologische Themen, die an große Theatertheoretiker wie Marquis de Sade angelehnt sind, in dem Gewand von einer extrem fetzigen Komödie verhandelt werden. Das finde ich das Bestechende, dass Löhle solche großen Themen bearbeitet, sie aber total leicht, schnell, dynamisch und modern in einer skurrilen Realsatire daherkommen.

Jan Hutter (Frank Gitter): Ich habe ein paar Mal alleine laut beim Lesen gelacht, das passiert mir selten.

Gaby Pochert (Karo Fischer): Ich fand es einfach eine tolle Satire. Ein ziemlich flockig geschriebenes Stück, bei dem man lacht und einem gleichzeitig das Lachen im Halse stecken bleibt. Das finde ich das Tolle daran. Bei der Leseprobe haben wir das ratzfatz runtergelesen, einfach nur was da steht, ohne groß zu überlegen, wie man das spielt, und es war wahnsinnig komisch. Es war sehr schwer, das dann auf die Bühne zu kriegen, weil man dort natürlich das Tempo gar nicht haben kann, was wir bei der Leseprobe hatten.

Stefano Di Buduo (Bühnenbild und Video): Mich hat natürlich sofort angesprochen, dass das Stück so pseudonormal, relativ heutig anfängt, aber relativ schnell klar wird, dass da so ein Löhle-Humor drüber liegt und es absurd wird. Spätestens bei der Szene in Italien oder bei der Therapiesession merkt man »Okay, alles klar, das ist jetzt aber was anderes hier.« Und da wurde es für mich spannend. Natürlich denkst du als Bühnenbildner gleich: »Was für ein Setting ist das? Das ist ja gar nicht machbar, weil die jede Szene das Setting wechseln.« Aber was mich immer bei einem Stück anspricht ist, wenn man schnell reinkommt und weiterlesen will.

Wenn sich die Gesellschaft in Unterdrückte und Unterdrücker unterteilen würde – zu welcher Gruppe würdest du vermutlich gehören?

Verena Bukal (Jennifer Hoffmann-Wolf): Ich glaube, ich würde zu den Unterdrückten gehören. Vielleicht aber auch zu den Unterdrückern. Bei Corona und diesen ganzen Maßnahmen dachte man ja, man wäre auf der richtigen Seite und im Nachhinein merkt man, man war zu extrem und hat die anderen praktisch unterdrückt. Das war echt nicht okay so.

Jan Hutter (Frank Gitter): Ich glaube, ich gehöre jetzt schon ganz unfreiwillig zu den Unterdrückern, einfach aufgrund von den Privilegien, in die ich geboren wurde, was für eine Hautfarbe ich habe, als was für ein Geschlecht ich gelesen werde… Ja, ich glaube, da muss man gar nicht im Futur reden, tragischerweise ist das schon so.

Fabian Gröver (Daniel Wagner): Wahrscheinlich würde es mir passieren, dass ich bei den Unterdrückten lande, weil ich kein Unterdrücker bin. Vermutlich eher das, leider. Obwohl: zur anderen Seite möchte ich auch nicht gehören. Wenn es einen Widerstand gäbe, würde ich da mitmachen.

Stefano Di Buduo (Bühnenbild und Video): Ich bin Teil der europäischen Gesellschaft, die andere jetzt schon unterdrückt. Ich lebe in einer Demokratie, ich lebe in einer reichen Gesellschaft und ich bin geschützt durch den Sozialstaat, aber um diesen Wohlstand zu haben, den unsere Gesellschaft besitzt, werden andere Völker unterdrückt. Deshalb heißt es in meinem Alltag, jeden Tag in kleinen Gesten zu versuchen, eben nicht zu unterdrücken oder die Situation auszunutzen. Man muss sich das nicht ständig präsent machen, weil man so nicht leben kann, aber man kann im Kleinen anfangen, sich richtig zu verhalten. Und dann kann man sich größere Missions setzen, wie zum Beispiel auch in der Kunst zu arbeiten und dort von Unterdrückung zu erzählen, und das tue ich ja auch.

»Firnis« | Foto: Martin Sigmund

Foto: Martin Sigmund

Wie nah ist deine Rolle deinem privaten Ich bzw. könnte dir dasselbe passieren wie deiner Rolle?

Jan Hutter (Frank Gitter): Also von der Struktur her sind wir gar nicht so unähnlich. Nach außen laut und nach innen hin ganz anders… Passieren könnte mir aber nicht dasselbe wie Frank Gitter, weil ich mir nie im Leben ein Autohaus zulegen würde und vermutlich vor meiner Frau an Krebs sterben würde. Und meine Frau wäre ein Mann, aber dafür müsste ich beziehungsfähig sein, also ist auch das sehr unwahrscheinlich… Also eigentlich sind wir uns überhaupt nicht ähnlich.

Jonathan Lutz (Paul Wagner): Ich glaube ja. Sowas könnte mir passieren, wenn ich jetzt nochmal so acht, neun Jahre in der Zeit zurückgehen würde. Dann könnte ich mir vorstellen, mich so zu entwickeln wie Paul. Aber aktuell bin ich privat an einem anderen Punkt, in einer anderen Reflektion übers Leben. Ob ich Flaschensammler werden könnte, weiß ich nicht, könnte passieren!

Gaby Pochert (Karo Fischer): Ich hoffe, mir passiert das nicht. Das ist ja schon sehr extrem, was Karo Fischer macht. Da arbeitet man mit aller Kraft dagegen, dass man auf gar keinen Fall so wird, aber letztendlich glaube ich, dass das in jedem Menschen drin ist. Ich spiele sie deshalb so gerne, weil ich viele aus meiner Heimat kenne, die so entgleisen.

Muss man im Kampf gegen Klimawandel, Überbevölkerung und Co. die Grenzen von richtig und falsch anpassen und gegebenenfalls moralisch verwerfliches Handeln zum Wohle der Allgemeinheit straffrei passieren lassen?

David Rimsky-Korsakow (Musik): Ich glaube, die Frage ist immer, wie eine Revolution oder eine Auflehnung organisiert werden… Ich kann Leute, die z.B. die letzte Generation ausmachen und die sagen »Wir haben ein Anliegen, das ist uns extremst wichtig und wir gehen dafür über Grenzen.« total verstehen. Ich würde das aber aus einer größeren Perspektive sehen und sagen, es ist alles Natur. Wir sind Natur, der Planet ist Natur und wir schaffen es gerade nicht, in Symbiose mit den anderen natürlichen Organismen zu leben. Dann bleibt uns nur die Quittung, Teil eines evolutionären Moments zu sein, in dem wir ausgelöscht werden. Das ist etwas Existenzielles, aber das verdienen wir, wenn wir nicht in der Lage sind, uns zusammenzureißen. Ich glaube aber, dass Zusammenreißen nicht bedeutet, dass man Leute abschlachten muss, es gibt genug andere Dinge, die man tun kann, man muss nur anfangen.

Anna Jörgens (Maja Neumann): Ja. Wenn man schon sagt, sich am Hambacher Wald auf einem Baum einzusperren ist illegal, dann unterstütze ich das. Ich selbst würde sowas nicht machen, weil ich mich das nicht trauen würde, andererseits unterstütze ich aber Greenpeace in ihren Aktionen und hab da sehr viel Respekt vor. Aber es hat auch seine Grenzen, ich bin nicht dafür, dass Privatmenschen leiden.

Jonathan Lutz (Paul Wagner): Ich bin schon sehr dafür, dass man sich in so einer Thematik aktivistisch verhält und für das kämpft, wofür es sich zu kämpfen lohnt und gegen die Müdigkeit, die es in der Gesellschaft gegenüber dem Klimawandel gibt. Ich weiß nicht, was die Rechtsfrage angeht, aber wahrscheinlich würde ich moralisch darüber hinwegsehen, es problematisch zu finden, wenn Leute für eine sinnvolle Sache kämpfen, ja.

Foto: Stefano Di Buduo

Was ist die Herausforderung als Spieler*in in Firnis?

Verena Bukal (Jennifer Hoffmann-Wolf): Der Text. Sich den Text zu merken und den dann in eine Geläufigkeit zu kriegen. Tiefe Gefühle in einer großen Leichtigkeit zu bekommen und zu greifen und trotzdem noch mit dem anderen/der anderen zu spielen.

Anna Jörgens (Maja Neumann): Im richtigen Moment aufzutreten und anzufangen, ich bin immer noch mit meinem Textbuch hinter der Bühne und muss rausfinden, welche Szene als nächstes kommt.

Jonathan Lutz (Paul Wagner): Ich glaube, als Spieler*in ist die größte Herausforderung, so schnell in unterschiedliche Teilsequenzen und Kurzszenen reinzuspringen, ohne sich jetzt total figurengetreu da reinzufühlen, und immer einfach die Situation mit den Kolleg*innen zusammen so echt und so im Moment wie möglich zu verhandeln.

Macht es Spaß, auf der Bühne grausam sein zu dürfen?

Fabian Gröver (Daniel Wagner): Ja. Ja, natürlich. Einfach weil das besondere Momente und Ausnahmezustände sind, mit denen man im Alltag nicht konfrontiert wird. Und es ist ja auch nur ein Spiel, wie wir es auch im Stück sagen, und diese kleinen Grenzüberschreitungen sind einfach toll, wenn man sie mal machen darf.

Lucas Janson (Papa Buggy): Ja, das macht richtig Bock. Doch, grausam zu sein macht Spaß. Und auch mal ein Choleriker zu sein, der das dann so ganz primitiv auslebt, das ist eine schöne Rolle.

Gaby Pochert (Karo Fischer): Mega. Das sind für mich die viel interessanteren Figuren, wenn man mal so richtig vom Leder ziehen kann, weil man das natürlich im Alltag nicht macht. Ich sehe es auch gerne auf der Bühne, wenn andere das machen.

Foto: Martin Sigmund

Steckt in jedem Menschen die Veranlagung dazu, seine Mitmenschen zu unterdrücken?

Fabian Gröver (Daniel Wagner): Leider ja. Im Endeffekt steckt ein animalischer Teil, auch wenn man sich unsere Evolutionsgeschichte anschaut, in uns. Durch unseren Wertekodex sind diese Teile gedeckelt und man möchte da natürlich nicht drauf zurückgreifen, aber ich glaube, das ist da, absolut.

David Rimsky-Korsakow (Musik): Es gab doch diese Elektroschocktests, die in den sechziger Jahren gemacht wurden, bei denen Ottonormalbürger*innen andere durch einen Druck auf einen Knopf gequält haben, nachdem ihnen gesagt wurde »Drück den Knopf.« Also solange Leute Verantwortung aussparen können, weitergeben können, sie auf irgendwelche anderen Umstände schieben können, glaube ich schon, dass Leute zur Unterdrückung fähig sind. Das ist natürlich auch eine totale Parabel auf das, was bei uns auf der Welt passiert, dass die Leute Ängste, die sie haben, auf Migration, Globalisierung und Klimawandel auslagern und sich ein Mittel zur Kompensation suchen. Und ich bin ja auch nur ein Säugetier und deshalb glaube ich, dass mir das auch passieren kann, wenn ich nicht aufpasse.

Anna Jörgens (Maja Neumann): Ja, aber das kann unterschiedliche Formen haben. Wenn ich zu einem Menschen kurz ein Arschloch bin, weil ich gerade keine Energie habe, dann ist das ja schon etwas zwischenzeitlich Bösartiges. Das ist schon, glaube ich, Teil des Menschen.

Lucas Janson (Papa Buggy): Schwierig, richtig schwierig… Glaube ich nicht. Ich glaube, dass eine Form von Macht oder eine bestimmte Form von Hierarchie bestimmten Leuten etwas gibt, daher kommt so eine Machtgier, wie sie irgendwelche großen Politiker wie Bolsonaro oder Erdoğan haben. Ich glaube, dass die sich an Macht aufgeilen und das dann eine Eigendynamik entwickelt, aber ich denke nicht, dass das in mir ist, dieses Machtbedürfnis. Aber bestimmt ein Bedürfnis nach Anerkennung. Nach Geliebtwerden. Nach Erfolg. Das schon. Aber das ist für mich entkoppelt von diesem Macht- und Unterdrückungssystem, ich glaube nicht, dass das in uns allen ist.

Als Firnis bezeichnet man eine dünne Schicht, die als letztes auf ein Gemälde aufgetragen wird, um es vor äußeren Einflüssen zu schützen. Wo ist der Firnis zwischen Moral und Missgunst in unserer heutigen Gesellschaft schon »abgebröckelt«?

Verena Bukal (Jennifer Hoffmann-Wolf): Ich finde, man hat das total bei den Reaktionen auf den CSD-Beitrag vom Saarländischen Staatstheater bei Facebook gesehen, wo Leute einfach ungestraft anderen den Tod wünschen. Ich finde, da bricht das gerade auf. Diese ganzen rechten Strömungen, weltweit diese Autokraten, dass ein Verurteilter immer noch Präsident werden kann… Diese ganzen Sachen, das ist das für mich.

Fabian Gröver (Daniel Wagner): Naja, dass es im Moment anscheinend gang und gäbe ist, dass offen auf Leute Gewalt ausgeübt wird, die für uns Politik machen. Das ist einfach ein No-Go. Das sind gewählte Volksvertreter, die haben wir dahin gewählt, damit sie sich für uns streiten und damit sie auch vielleicht unpopuläre Entscheidungen treffen, und dass die auf offener Straße angegangen werden und so weiter, das finde ich zum Beispiel extrem krass.

Lucas Janson (Papa Buggy): Ehrlich gesagt schon überall eigentlich. Also wenn ich bestimmte Leute sehe und was die denken oder auch sagen, dann habe ich das Gefühl, es bröckelt schon überall. Was für ein Rechtspopulismus mir auch so entgegenschlägt in bestimmten Punkten, was die Leute sich trauen zu sagen, was durch die AfD alles salonfähig geworden ist… Meine Figur, der Papa Buggy, ist auf jeden Fall ein Rechtskonservativer, wahrscheinlich ein AfD-Wähler, und die sieht man an jeder Ecke, es passiert einem ständig, dass einer einen im Supermarkt blöd anpöbelt oder so. Deshalb habe ich das Gefühl, die Membran ist schön zerbröckelt, beziehungsweise die Brandmauer gegen rechts, bei der man vor ein paar Jahren noch gesagt hat, sie würde noch stehen, die ist längst eingerissen. Vor ein paar Jahren hatte ich das Gefühl, dass das noch zurückhaltender war oder es einzelne Leute waren, die Fremdenhass oder so einen Bullshit von sich gegeben haben, und jetzt machen das so viele. Deshalb trifft das Stück auch genau den Nerv der Zeit, gerade so kurz vor Wahlen wie der Europawahl.

Foto: Martin Sigmund
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Straßenumfrage zu »The end, my friend«

Wie stellen wir uns unser Ende vor? Anlässlich der Produktion »The end, my friend« haben Dramaturgin Gesa Oetting und FSJlerin Lenke Nagy Passant*innen zu möglichen Weltuntergangsszenarien befragt. Ihre Antworten finden Sie in diesem Video (auf den Pfeil klicken).

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Schlimmer geht immer?

Szenarien über das Ende der Welt faszinieren die Menschheit schon immer. Obwohl der Weltuntergang schon zigmal prophezeit wurde, gibt es die Erde und uns immer noch. Die Lust an Untergängen liegt in der Natur des Menschen – gestillt wird sie in Gedichten, in der Musik, im Kino. Können wir uns ein wirkliches Ende überhaupt noch vorstellen, oder haben wir es zu oft auf der Leinwand gesehen? Die Autorin und Regisseurin Rebekka David im Gespräch.

Gesa Oetting Es gibt unzählige Lieder, Filme, Gemälde, Gedichte über die Apokalypse – was fasziniert dich an den Erzählungen, an den unterschiedlichsten Vorstellungen über das Ende der Welt?

Rebekka David Dass es so viele sind und dass sie schon immer da waren – der Weltuntergang als anthropologische Konstante fasziniert mich. Menschen haben sich schon immer von ihrem eigenen Ende erzählt, und wenn wir auf die lange Geschichte dieses Narrativs zurückblicken, ist es spannend zu sehen, wie sehr konkrete Ereignisse in der Realität darauf einwirken, welche Art von Dystopie wir uns ausmalen. Und auch andersherum funktioniert diese Wechselwirkung: Wenn wir ein bestimmtes Szenario, von dem wir nie dachten, dass es uns jemals direkt betreffen könnte, oft genug im Kino gesehen haben, und es dann aber wider Erwarten doch Realität wird (Beispiel: Triage bei COVID 19), beruhen unsere Entscheidungen und Bewertungen auf dem, was wir nur aus der Fiktion kennen. Und wenn wiederum Klimawissenschaftlerinnen versuchen, potenzielle Zukunftsszenarien so verständlich wie möglich zu formulieren, zeichnen sie ein Bild, das zum Großteil auf Fakten basiert, aber in den kleinen Details, in den Ausschmückungen die es für uns konkret vorstellbar machen, greifen sie zwangsläufig auf das kollektive Imaginäre zurück, das uns alle prägt und sich aus der Masse all dieser Erzählungen zusammensetzt. Diese Geschichten wirken also direkt darauf ein, wie wir uns das Ende der Menschheit durch den Klimawandel vorstellen können und über alle Fragen, die sich daraus ergeben, sollten wir unbedingt miteinander ins Gespräch kommen! 

»Fiktionen über die Zukunft organisieren ja das kollektive Imaginäre, und das wiederum bestimmt, was wir als Wirklichkeit anerkennen, (…)  und wie ich mir wiederum etwas vorstelle, also wie ich die Welt wahrnehme, prägt, wie die Welt ist – Leute, vielleicht müssen wir mehr manifestieren!« (Leo in »The end, my friend«)

GO Warum hat die Menschheit so viel Vergnügen daran, sich ihr Ende auszumalen?

RD Ich glaube, dafür gibt es sehr unterschiedliche Motivationen. Welche ich am interessantesten finde, ist die der Auslagerung der eigenen Angst: Ich kann einer Figur dabei zusehen, wie sie sich durch einen zerstörten Planeten kämpft, vor Zombies oder den außer Kontrolle geratenen Nachbarinnen flieht und den Kometeneinschlag erwartet, ich kann mitfiebern und leiden, ich kann diese Figur bestimmte Ängste durchleben lassen, die ich selbst unterbewusst habe, ja ich könnte sogar fast diese Figur sein, aber ich bin es eben nicht, denn am Schluss kann ich den Laptop einfach zuklappen. Und dann sitze ich da, auf meiner Couch, und bin sehr froh, dass es bei mir noch nicht so schlimm ist, dass das alles denen da passiert, denen in dem kleinen Apparat, und gegen deren Katastrophen sehen unsere realen für den Moment vielleicht etwas weniger dunkel aus.

GO Die Figuren in »The end, my friend« reagieren alle ganz verschieden auf ein möglicherweise nahendes Ende – wie habt du und dein Ensemble die Figuren und ihre jeweilige Position gefunden?

RD Im steten Dialog. Mir war wichtig, fünf unterschiedliche Perspektiven und Verhaltensweisen zu finden, die miteinander in ein fruchtbares Gespräch treten können. Dabei geht es mir nicht darum, den kompletten Diskurs abbilden zu wollen, sondern Positionen zu suchen, die für uns in ihrer Art auch nachvollziehbar sind, deren Ängsten und Verdrängungsmechanismen wir nicht sofort zu unseren eigenen auf Distanz halten können. Und mit diesem Ansatz habe ich mit den Spielenden und dem Team die Figuren entworfen und weiterentwickelt.

GO Was denkst du, was passieren muss, damit endlich was passiert in unseren Köpfen, und vor allem in unserem Handeln?

RD Wenn ich das wüsste, würde ich diesen Abend nicht machen.

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Die lieben Eltern und das liebe Geld

Eine Videoeinführung zu »Die lieben Eltern«
(einfach auf den Pfeil klicken!)

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Fragen an den Schauspieler Raimund Widra

Lieber Raimund, mittlerweile spielst Du  »Die Leiden des jungen Werther« schon im siebten Jahr in Saarbrücken. Was bedeutet Dir diese Produktion?

Die Arbeit ist bereits 2014 entstanden und ich schätze, dass ich bald 100 Vorstellungen gespielt habe, soviel wie von keinem anderen Stück. Vor jeder Vorstellung gehe ich für mich einmal durch den Text. Ich habe diese Worte also schon unzählige Male gesprochen und es bereitet mir immer noch große Freude. Wenn ich dann eine Vorstellung spiele, versuche ich jedes Mal aufs Neue, kleine Nuancen im Text anders zu erspielen und die Gedanken auf unterschiedlichem Wege zu greifen. Die Tatsache, dass ich bereits so viele Vorstellungen gespielt habe, gibt mir die Freiheit, dabei spielerisch etwas zu wagen, ohne genau zu wissen, wohin es mich an diesem Abend treibt. Ich kann mich darauf verlassen wieder auf Spur zu kommen, wenn ich mal aus der Kurve fliegen sollte. Und dennoch ärgere ich mich jedes Mal, wenn mir eine Passage verrutscht. Das ist in diesen Momenten aber eher eine Frage fehlender Konzentration, als des zu hohen Risikos – das zahlt sich meist aus!

Der Regisseur Maik Priebe hat diese Inszenierung schon am Theater Magdeburg mit Dir erarbeitet. Was hat sich für Dich von der Spielstätte in Magdeburg im Vergleich zur Alten Feuerwache in Saarbrücken verändert?

Ich habe das Stück in Magdeburg in drei recht verschiedenen Spielstätten gespielt, auf einigen Gastspielen und hier in Saarbrücken, neben der Feuerwache und der sparte4 auch schon einmal auf der Vorbühne im Staatstheater. Der Abend hat sich immer gut anpassen können. Ursprünglich wurde er für ein Foyer konzipiert und war mit ungefähr 60 Plätzen auf einer kleinen Tribüne eine ziemlich intime Angelegenheit. Das ändert sich natürlich, wenn der Saal größer wird. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass sich auch die kleinen, schwebenden Momente in einem großen Raum gut einlösen, vor allem, weil sich zum Ende hin die formalen Mittel der Inszenierung so auf die Sprache und die Emotion fokussieren.

Du kannst die Vorstellung »Die Leiden des jungen Werther« auch in Englischer Sprache spielen. Wie kam es dazu?

Grund dafür ist ein Gastspiel in der Ukraine gewesen. Das war 2015. Ich spreche weder Ukrainisch, noch Russisch, aber wir wollten den Abend möglichst vielen Zuschauern zugänglich machen. Ich habe dann vorgeschlagen, es auf Englisch zu spielen. Ich hatte das Stück zu diesem Zeitpunkt schon oft auf Deutsch gespielt und fühlte mich allgemein im Englischen recht sicher, weil ich mal Austauschschüler in England war (die Hybris eines jungen Schauspielers). Der Werther ist natürlich auch ins Englische übersetzt und die Textfassung ließ sich leicht übertragen. Wir mussten die Textstellen ja nur in der Übersetzung wiederfinden. Für das eine oder andere Extempore, das nicht von Goethe stammt, habe ich selbst nach Entsprechungen gesucht. Das Auswendiglernen mit Unterstützung von Muttersprachlern war dann eine Fleißarbeit. Bei einem zweiten Gastspiel in der Ukraine, diesmal in Saporischschja, habe ich aber auf Deutsch gespielt, wieder mit Ukrainischen bzw. Russischen Übertiteln. Ich würde mich sehr freuen, wieder dort spielen zu können.

Der Regisseur Maik Priebe, der mittlerweile Schauspieldirektor in Neustrelitz und Neubrandenburg ist, hat Dich mit dieser Produktion eingeladen. Wie ist es für Dich mit dieser Arbeit auf Gastspiel-Reise zu gehen?

Ein Gastspiel ist immer eine besondere Sache. Die Gegebenheiten sind einem fremd und es gibt wahrscheinlich ein paar Unwägbarkeiten auszuräumen, meist in sehr begrenzter Zeit. Das ist eine schöne Herausforderung. Außerdem kennen einen die Zuschauer nicht. Ich bin ja nun schon eine ganze Weile hier und wer, wie viele unserer Zuschauer*innen, regelmäßig kommt, wird kaum an meiner Nase vorbeigekommen sein. Es gibt hier für mich eine gewisse Aura des Vertrauten, wenn ich das mal etwas schwammig formulieren darf. Aber der vollkommen unvoreingenommene Publikumsblick, der mich beim nächsten Gastspiel erwarten wird, hat auch einen großen Reiz. Außerdem freue ich mich, dass Maik Priebe mich an seine neue Wirkungsstätte eingeladen hat, denn ich fühle mich ihm, heute wie damals, freundschaftlich verbunden.

Die Fragen stellte Horst Busch, Chefdramaturg