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Auf ein Wort

ÜBER DEMOKRATISCHE SCHIEFLAGEN, EXALTIERTE FIGUREN UND ZEITGENOSSENSCHAFT

In dem Dramentext VERFAHREN geht es um den historischen NSU-Prozess und das Bedürfnis der Aufarbeitung dieser rechtsextremistischen Mordserie sowie um die neueren Anschläge und Methodiken aus der rechten Szene den Rechtsstaat zu schwächen. Ein Stoff, der durch die literarische und theatrale Bearbeitung zu einem fiktionalen Dialog mit uns Publikum geworden ist und – nicht ohne humoreske Überzeichnung – ein Appell der Positionierung an uns richtet. Regisseurin Marie Bues gibt uns im Gespräch mit Produktionsdramaturgin Bettina Schuster-Gäb Einblicke in ihren inszenatorischen Umgang mit Stück und Thematik.   

Foto © Martin Kaufhold.

Bettina Schuster-Gäb: Was ist inszenatorisch reizvoll an dem Verfahrensstoff?

Marie Bues: In erster Linie: die politische Botschaft! Verfahren ist einerseits ein Reflektieren des NSU-Prozesses und damit ein Reflektieren unseres Justizsystems und seiner Grenzen, sowie andererseits ein politisches Aufarbeiten unangenehmster jüngster deutscher Geschichte.

BSG: Es wendet sich also nicht nur den letzten 20 Jahren oder sogar den Nachwende-Jahren zu ,…

MB: … sondern auch unserem Hier und Jetzt, der Verlängerung der Terrorachse von rechts bis in unsere Gegenwart hinein und will diesen Rechtsruck thematisieren. In einer Zeit, in der Rechtsextremisten Attentate begehen, Hackangriffe auf Kommunen verüben, rechte Parolen über freie Wahlen wieder Einzug in Landesparlamente erhalten, in einer Zeit, in der rechte Meinungen also wieder salonfähig in der Mitte der Gesellschaft werden, und in der in nicht allzu fernen Ländern demokratische Grundprinzipien abgeschafft und mit den Füßen getreten werden, indem dort Diktatoren das Ruder übernehmen, in diesen Zeiten sollte das Theater und seine zeitgenössischen Autor*innen genau diese demokratische Schieflage reflektieren und in unser Bewusstsein bringen. 

BSG: Wie schafft dies Kathrin Röggla und an was kann sich die Regie hier abarbeiten?

MB: Das Stück betrachtet den Prozess nicht aus einer Opfer- oder Täterperspektive, sondern versucht »normalen« Bürger*innen, den Zuschauer*innen eines Prozesses und ihren unterschiedlichen Meinungen zu dem Prozess Raum zu geben. Damit bringt sie verschiedene Strömungen in der Gesellschaft zum Sprechen, und weist auch deren Ängste und Verwicklungen in die Themen, die der Prozess aufwirft, auf. Ihre Sprache ist präzise und humorvoll, ja manchmal von beißendem bitteren Humor, der entlarvend ist. Es ist die Sprache, die durch dieses Verfahren führt und uns die Kraft von Sprache im Gericht, überhaupt das Werkzeug der Sprache als Machtinstrument verständlich macht. Sie ist die eigentliche Hauptakteur*in.

BSG: Und was ist mit den Figuren im Stück? Wie schaffen sie die Balance zwischen dokumentarischem Material und literarischer wie auch theatraler Fiktion?  

MB: Multiperspektive ist ein vertrautes Mittel im Theater, durch Einteilung eines Textes in Figuren per se, und dennoch ein ungewöhnliches Mittel, wenn es um so einen hochpolitisierten Prozess geht, an dem sich gesellschaftlich so vieles entzündet hat. Es wäre einfacher, sich einseitiger, also klarer zu positionieren. Ich bin dankbar, dass Kathrin Röggla differenziert schaut, jahrelang verschiedene Perspektiven auf diesen Prozess recherchiert und in Worte gefasst hat. Das ist sehr wertvoll in einer Gesellschaft, die angesichts bestimmter Diskurse zur Generalisierung neigt. Dass die Rechtstaatlichkeit eine Grundstütze der Demokratie ist, was vielen im Alltag fernab politischer Entscheidungen so nicht klar ist, wird im Stück zur Grundthematik ausgebaut. Im Stück wird das durch die Gerichtsdienerin gezeigt, die sozusagen das Sprachrohr des Gerichts ist und immer mehr angegriffen wird, ins Schleudern kommt beim Reenactment dieses Prozesses. Weil er eben viel zu ausufernd ist, weil er einerseits zu klein angesetzt wurde (die Theorie eines Trios, anstatt eines großen Netzwerks) und anderseits nicht genug gerichtet hat (betreffend die Angeklagten selbst sowie die schweigenden rechten Helfer, die vor weitergehenden Ermittlungen verschont blieben, die Versäumnisse seitens des Staats betreffend) etc.

BSG: Insofern sprechen die Figuren auch über sich hinaus für eine Gerichtsöffentlichkeit, die Aufarbeitung verlangt. Hier geht es dann plötzlich viel mehr um Erinnerungskultur als um Figurenpsychologie – und damit auch um die Zukunft.

MB: Absolut. Da es im Text immer wieder die Schauspieler*innenebene gibt, in der die Spieler*innen darüber sprechen, wie das Reenactment des Prozesses ihnen so gelingt und was daran wiederum nicht ganz hinhaut, liegt in dieser Methodik auch die gesellschaftliche Möglichkeit der Selbsthinterfragung und der zukünftigen »demokratischen Verbesserung« für uns als Theaterschauende.

BSG: Das Regieteam besteht ja noch aus Heike Mondschein, Bahar Meriç und Kat Kaufmann – wie spielen die Elemente Bühne und Kostüme, Choreografie und Musik in dieser Arbeit ineinander?

MB: Wir haben uns für eine abstrakte Setzung entschieden: eine Bühne, die an Orte der demokratischen Öffentlichkeit erinnert, an eine antike Agora oder an öffentliche Platzarchitekturen, aber auch an ein Labyrinth. Wir haben das Stück so nicht direkt ins Gericht gesetzt (das macht ja bereits der Text), sondern an einen allgemeineren Verhandlungsort des öffentlichen Lebens, der Demokratie. Durch die abstrakte Setzung und die immergleiche Situation im Stück – das Warten auf den Prozess oder auf den Fortgang des Prozesses – haben wir uns erlaubt eine eigene Art theatraler Ebene einzuziehen: eine etwas grotesk überhöhte Körperlichkeit der Figuren und der Gruppe »Emporencommunity«. Die Choreographin Bahar Meriç hat hier an verschiedenen zeichenhaften Bewegungen für die einzelnen Figuren gearbeitet und einige Gruppenbilder und Choreografien geschaffen, die den Zustand der Prozessbeobachter*innen auf artifizielle Art und Weise beschreibt.

Die Kostüme sind sehr »fashionable«, extrem/exaltiert, und stimmen nicht in jedem Moment mit der im Stück befindliche Beschreibung der Figuren überein. Das haben wir gemacht, weil wir die Figurenbeschreibungen als gedankliche Verortungen empfanden, die auf der Bühne nicht 1:1 beglaubigt werden muss. Wir haben zum Beispiel auch nicht »typbesetzt«: den »Sogenannten Ausländer« spielt im Stück eben auch kein türkischstämmiger Schauspieler. Das wäre nicht gut gewesen und hätte Klischees bestätigt, gegen die das Stück sich aktiv wendet. So wenden wir uns auch in der Besetzung gegen ein Typcasting nach Nationalität, Hautfarbe oder Gender.

Die Musik von Kat Kaufmann versucht auch die Trauer und die Ernsthaftigkeit mit ins Zentrum zu rücken und auf der musikalischen Ebene neben aller Aufgedrehtheit der absurden Beobachter*innenpositionen das Wesentliche nicht aus dem Auge zu verlieren: die unfassbare Grausamkeit dieser Mordserie, und der Kontinuität dieser Taten und ihrer gedanklichen Anfänge in unserer Gesellschaft.

Foto © Martin Kaufhold.

BSG: Du hast dich seit Beginn deiner Regielaufbahn bewusst für zeitgenössische Dramatik entschieden – deine Regiearbeiten lesen sich als seismographische Stimme der Jetztzeit, u.a. lässt sich daraus eine enge Verbundenheit mit Thomas Köck und Sivan Ben Yishai, aber auch mit Felicia Zeller, Elfriede Jelinek und Sibylle Berg herauslesen. Was haben diese Texte, was klassische Stoffe nicht haben?

MB: Mich mit unserer unmittelbaren Gegenwart zu beschäftigen und dies mit unserer heutigen Sprache und unserem heutigen Humor zu reflektieren, ist eine ganz bewußte Entscheidung. Mit Autor*innen, mit denen ich mich auseinandersetzen kann, mit denen ich Themen der Stücke besprechen und damit auch ein stückweit erarbeiten kann. Das interessiert mich persönlich am meisten am Theater. Ich habe Spass daran mich damit zu beschäftigen, wie aus unserer Zeitgenossenschaft eine Sprache, wie daraus Perspektiven und Spielweisen entstehen. 

Foto © Kerstin Schomburg.

Marie Bues (Regisseurin und Künstlerische Leiterin des Theater Rampe Stuttgart) studierte Schauspiel an der Staatlichen Hochschule in Stuttgart. Seit 2008 inszeniert sie als freie Regisseurin u.a. am Staatsschauspiel Hannover, Theater Basel, Theater Osnabrück, Residenztheater München, Staatstheater Karlsruhe und am Nationaltheater Mannheim. An Produktionshäusern wie den Sophiensaelen Berlin, der Garage X Wien oder dem Schlachthaus Theater Bern arbeitet sie in unterschiedlichen freien Konstellationen. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit verbindet sie mit Autor*innen wie Felicia Zeller, Sivan Ben Yishai, Thomas Köck und Nicoleta Esinencu. Am Saarländischen Staatstheater war 2016/2017 ihre Uraufführungsinszenierung von »Ich, dein großer analoger Bruder, sein verfickter Kater und du« von Felicia Zeller zu sehen. In dieser Spielzeit inszeniert Marie Bues nun die Uraufführung »Verfahren« von Kathrin Röggla.