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Der Dramaturgieschreibtisch

SPIEL DER EXTREME

Dirigent Roger Epple über Mahlers 7. Sinfonie.

Als Gustav Mahler seine neue Sinfonie dem Münchener Impresario Emil Gutmann mit den Worten »es ist mein bestes Werk und vorwiegend heiteren Charakters«, für eine geplante Tournee anpries, verriet er uns sicherlich nur einen kleinen Teil der Wesensmerkmale, die seine Siebte prägen. Den kompositorischen Nukleus des opulenten fünfsätzigen Werkes bilden die von Mahler als »Nachtstücke« betitelten Sätze Zwei (»Allegro Moderato«) und Vier (»Andante amoroso«). Sie wurden schon 1904, ein Jahr vor den übrigen Sätzen konzipiert. Ohne Zweifel sind diese der Sphäre des Nächtlichen, Heimlichen verbunden (der häufig verwendete Zusatz für die gesamte Sinfonie »Lied der Nacht« stammt jedoch nicht vom Komponisten). Das Spiel mit Hell und Dunkel, Nah und Fern, Tag und Nacht, Dur und Moll manifestiert sich schon mit den ersten Hornrufen des zweiten Satzes, aus denen eine Art Vogelstimmen-Konzert erwächst. Dieses bricht aber schon kurz darauf wieder über dem bereits aus der 6. Sinfonie bekannten »Dur-Moll-Siegel« jäh in sich zusammen, bevor es auf die imaginäre Wanderschaft durch Ort und Zeit geht.
Man durchschreitet mit dem für Mahler subtilen Humor verschiedenste Gefühlszonen, die von billiger Prater-Atmosphäre bis hin zu »weltferner Einsamkeit« reichen (an die weit entfernte Herdenglocken hinter der Bühne erinnern). Ort und Zeit scheinen aufgehoben, die Wirklichkeit diffundiert gleichsam. Zeitgenossen erinnerte diese einzigartige Kompositionsweise ― das ständige Changieren zwischen Dur und Moll ― damals offenbar an Chiaroscuro-Malerei. Aus heutiger Sicht und einer gewissen historischen Distanz ist dieses exzessive Dunkel-Hell-Spiel ein originär Ma(h)lerischer Ansatz.
Der Fokus musikhistorischer Betrachtungen im Hinblick auf die Auflösung gängiger harmonischer Regeln der damaligen Avantgarde vor Arnold Schönberg lag bisher hautsächlich auf der Entwicklung der Chromatik (Liszt, Wagner, Strauss), der Nutzung neuer Skalen (Debussy) oder spezifischer Akkordschichtungen (Skrjabin). Leider wird dieser Aspekt in Mahlers Werk, ebenso wie das von ihm virtuos angewandte Prinzip der ständigen entwickelnden motivisch-thematischen Variation und seine differenzierte melodische Klangfarbendifferenzierung bisher viel zu wenig gewürdigt. So gesehen wundert es auch kaum, dass gerade Schönberg in der 7. Sinfonie das Schlüsselwerk sieht, das seine anfängliche Mahler-Skepsis in Bewunderung verwandelt und dass Anton Webern sie als seine Lieblingssinfonie bezeichnet. Vielleicht ließ sich Schönberg sogar von Mahlers ungewöhnlicher Instrumentierung der 2. Nachtmusik (4. Satz) zu seiner Serenade, op. 24 inspirieren? Hier wie dort bereichern die Klänge von Mandoline und Gitarre das nächtliche Ständchen. In der Sinfonik um die Jahrhundertwende waren diese beiden Instrumente durchaus nicht gebräuchlich. Im Zentrum der Sinfonie steht an dritter Stelle das 1905 gemeinsam mit den Randsätzen komponierte Scherzo. Von Mahler mit »schattenhaft« überschrieben, gehört es ebenso zur Sphäre der Nacht ― offenbart hier aber ihre furchteinflößende, gespenstische, unfassliche Seite.  Das Nichtfassliche steht dem grob Verzerrten gegenüber. »Klagend« kommen die Melodien und Seufzer daher. Viel Gedämpftes wirbelt spukhaft ständig auf und ab. Wilde Glissandi, grelle Absturzfiguren, Melodiefetzen münden mehrfach in den Versuch eines Walzers, der aber mehr und mehr verzerrt die Konventionen ernsthaften Musizierens sprengt und schließlich regelrecht aus den Fugen gerät. Er mündet »wild« in eine Montage aus Walzer und Trio-Elementen, die brachial wie in einem Vollrausch höchst ordinär daher donnern, bevor dann auch noch die Tempoeinheit mittels collagenartiger Einschübe ins Wanken gerät.  Man fühlt sich fast zwangsläufig an das (später komponierte) Meisterwerk »La Valse« von Maurice Ravel »erinnert«.
Mahler geht in seinem Prozess der Auflösung noch einen Schritt weiter: An manchen Stellen trennen sich sogar in der vertikalen Struktur die Wege (so z.B. bei Ziffer 170), wenn Instrumentengruppen einfach weiterspielen, andere aber quasi vom Geschehen abgekoppelt ihren individuellen Puls behaupten (Flöten/Piccolo). Dieser äußerst avantgardistische Ansatz der Entkoppelung der gemeinsamen Zeitebenen ist bei Mahler auch in vielen früheren Sinfonien (z.B. Finale der 2., im 4. Satz der 3. Sinfonie oder beim Anfang der 4. Sinfonie) ein höchst reizvoller Teil seiner Schaffensweise. (vgl. ähnliche Prozesse bei Charles Ives: z.B. »The unanswered question«, ab 1906 komponiert).
Noch vor Béla Bartók verwendet Mahler im Scherzo auch das später nach Bartók benannte starke Anreißen der Saiten, »dass die Saiten an das Holz anschlagen« als wirkungsvollen Effekt einer abrupten Unterbrechung. Im Trio des Scherzos erinnert die Solo-Bratsche, später auch andere Stimmen, an den Eröffnungsgedanken des Kopfsatzes und stellt so eine kaum äußerlich wahrnehmbare Brücke zwischen diesem und dem Ersten Satz her. Dort wird die komplette markante Melodie gleich zu Beginn der Sinfonie »mit großem Ton« von einem Tenorhorn (ein weiteres ungewöhnliches Instrument in der sinfonischen Literatur) über dem für Mahler typischen Trauermarsch-Rhythmus vorgestellt.
Es muss für Mahler nach einer kurzen sommerlichen Schreibblockade bei der Überfahrt über den Wörthersee der erlösende Einfall gewesen sein, der ihn zu der vielzitierten Aussage »Hier röhrt die Natur« veranlasste. Der Marsch gewinnt an Fahrt und manifestiert den exzessiven Gebrauch von ab- und aufsteigenden Quarten. Dieses markante Intervall zieht sich neben einem Motiv, das durch Tonrepetitionen charakterisiert wird, beinahe mottoartig durch die ganze Sinfonie. Unterbrochen wird der hochkomplexe und für alle Beteiligten äußerst fordernde Satz lediglich von einem schwärmerischen, durch zahlreiche agogische Angaben angereicherten Seitensatz. In der Durchführung weitet sich dieser Gefühlsbereich, gleichsam wie an einem Faden über den Ton B gesponnen, in völlig neue Sphären. Breite choralartig angelegte gedehnte Akkorde, die von Trompetensignalen eingeleitet bzw. unterbrochen werden, erinnern stark an eine ähnliche Stelle im »Urlicht«, dem 4. Satz seiner Auferstehungssinfonie. Dort erklingen von der Altistin die sinnigen Worte »Da kam ich auf einen breiten Weg«. Ein Weg, der in unserem ersten Satz im Zentrum dessen in einer Art fast religiösen, feierlich-verklärten Vision das Fenster in eine völlig andere, jenseitige Welt eröffnet. Unterstrichen wird dieser unbeschreiblich wunderbare Blick, einem Lichterlebnis gleich, durch »sehr weich geblasene« Posaunen in H-Dur und durch den erstmaligen Gebrauch (nach 316 Takten Pause!) der Harfen.
Diese extremen Spannungspole, die Ambiguität des Eröffnungssatzes, bzw. die nächtlichen bis schaurigen Welten der Mittelsätze sind dem Rondo-Finale allem äußeren Anschein nach völlig fremd – leuchtet es doch in geradezu penetrantem strahlendem C-Dur und operiert mit Pomp, Pauken und Trompeten. Diese scheinbare Eindeutigkeit einer positiven Folie warf bei vielen Interpreten immer wieder Fragen und Zweifel auf. Die ganz offensichtliche, wohl nicht bierernst gemeinte Anspielung auf Wagners »Meistersinger« wurde von manchen Zeitgenossen gar als Sakrileg empfunden.
Es gibt zahlreiche Belege, die das geradezu Experimentelle der Konzeption des Finalsatzes untermauern. Allein schon das abrupte Ende der ersten »Festwiesen-Episode« wirkt noch heute wie eine bewusste Provokation. Völlig ohne Übergang wird einfach ein statischer As-Dur-Klang (Takt 51) angeschnitten, der das nächste Thema dann harmonisch vorbereitet. Man könnte es vielleicht mit einem filmischen Mittel, einem »Reiß-Schwenk« in der Kameraführung vergleichen. 
Das Spiel mit Allusionen und Zitaten (z.B. bemüht Mahler in diesem Zusammenhang auch den Schlusssatz von Schumanns 2. Sinfonie, dessen Aneignung von »C-Dur«) liefert weitere Hinweise in diesem Sinne. Die ständige Metamorphose des Materials, das Kommen und Gehen erinnert an eine Art wildes Würfelspiel, Kaleidoskop aus Vergangenheit und Gegenwart, Mischung aus Ernst und Humor, aus Bekanntem und scheinbar Bekanntem. 
Angesichts Mahlers profunder Kenntnis von Goethes »Faust« ließe sich mutmaßen, ob nicht in gewisser Hinsicht auch die Osterspaziergang-Szene und Fausts Sicht auf das bunte Gewimmel der vielen Menschengruppen samt dem Glockengeläut eine der Inspirationsquellen für diesen Satz waren. Die Tatsache, dass der komplette zweite Teil von Mahlers 8. Sinfonie auf Goethes Faust fußt, könnte einen weiteren Hinweis liefern. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass sich das zuletzt im 4. Satz extensiv zelebrierte Klopfmotiv (mit der jeweils charakteristischen Tonwiederholung) gegen Ende des Satzes zum Anfang von »Morgen kommt der Weihnachtsmann« ergänzt, nachdem schon zuvor eine »Rute« im Orchester ihren Auftritt bekommen hat. Die türkisch gefärbte »Janitscharen-Musik«, die man u. a. aus Mozarts »Entführung« kennt, scheint sogar noch einen Hinweis auf die vorderasiatische Herkunft des Nikolaus zu liefern. Überhaupt trägt das gesamte Finale auf wunderbare Weise durchaus opernhafte Züge. 

Als jemand, der alle Sinfonien Mahler mehrfach dirigieren durfte, stellte sich im Laufe der Jahre bei mir persönlich folgender Effekt ein: Je länger ich mich mit Mahler im allgemeinen und mit der Siebten im Besonderen beschäftige, desto mehr kann ich dem doppelbödigen Reiz dieses zugegebenermaßen singulären Satzes abgewinnen.

In diesem Sinne hoffe ich sehr, dass wir unsere Freude an Mahlers 7. Sinfonie mit möglichst vielen von Ihnen teilen dürfen.

Roger Epple 

für die Aufführung im Mai 2022 mit Saarländischen Staatsorchester

Roger Epple.

Roger Epple zählt zu den profiliertesten deutschen Dirigenten seiner Generation. Nach festen Dirigentenpositionen an der Oper Leipzig und am Mannheimer Nationaltheater war er langjähriger Generalmusikdirektor am Opernhaus Halle und am Oldenburgischen Staatstheater.

Er dirigierte über 100 namhafte Orchester in Asien, Nord, Mittel- und Südamerika sowie Europa, z.B. die Rundfunksinfonieorchester von Paris, Amsterdam, Berlin, Dublin und Leipzig, des SWR, das Orchestre National de Belgique Brüssel, das Deutsche Sinfonieorchester Berlin, das Gewandhausorchester Leipzig, Sao Paolo Symphony Orchestra, Mexico City Philharmonic, das Shanghai Symphony Orchestra, das Singapore Symphony Orchestra, Royal Flanders Philharmonic, das National Symphony Orchestra of Taiwan, die meisten deutschen Staatsorchester und viele hervorragende Spezialensembles wie Concerto Köln und das Ensemble Modern.

Als Gastdirigent war er u.a. an der Staatsoper Berlin (Ariadne auf Naxos), an der Hamburgischen Staatsoper (Fidelio), an der Deutschen Oper Berlin (Zauberflöte), in Paris (Elegy for young lovers),an der Oper Leipzig (Cosí fan tutte), am Opernhaus Graz (Enrico), am Nationaltheater München (Kassandra), am Aalto-Theater Essen (Rake’s Progress), an der Stuttgarter Staatsoper (Wozzek), an der Oper Köln (Das schlaue Füchslein) tätig sowie bei den renommierten Festivals in Luzern, Florenz, Verona, Dresden, Strasbourg und München.

Im Bereich des Musiktheaters dirigierte er inzwischen rund einhundert Produktionen, auf dem Konzertpodium hat er sich u.a. als ausgewiesener Spezialist für die Sinfonik Gustav Mahlers etabliert. Der Echo-Klassik- und BMW Musiktheater-Preisträger spielte zahlreiche CDs u.a. für die Labels Sony Classical, Teldec, Wergo, Capriccio und CPO ein. Über 40 Uraufführungen von Komponisten aus aller Welt belegen sein Interesse für die Musik der Zeit – er hat sich aber auch immer wieder für die Wiederentdeckung von vergessenen Kompositionen stark gemacht (so z.B die Uraufführung von Werken von Egon Wellesz, Berthold Goldschmidt oder Paul Dessau).


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ÜBER’S ÜBERSETZEN

Vom Akt des Übersetzens als Raum der Begegnung – als einladender Zwischenraum.

Die Übersetzerin und Dramaturgin Franziska Baur, die im Rahmen des 14. Festival Primeurs das Stück PHANTOMSCHMERZ als Stückauftrag des Saarländischen Staatstheaters und im Mentoratsprogramm von Transfert Théâtral/Theater Transfer übersetzt hat, gibt Einblicke in ihre Auffassung der Übersetzerinnentätigkeit. Das Stück ist – in der szenischen Einrichtung durch Thorsten Köhler – noch bis zum 15. Januar 2021 digital auf www.festivalprimeurs.eu einzusehen.

Übersetzen heißt für mich zunächst, das andere zu verstehen versuchen – anders gesagt, autrement dit: eine andere Sprache, die immer Denkprozesse und Ideengeschichte(n) beinhaltet, begreifen wollen, um daraufhin einen Gedanken, ein Bild, einen Rhythmus, eine Idee in der eigenen Sprache zu finden.

Mit »eigen« meine ich nicht zwingend die Muttersprache, sondern eher eine Sprache, die man sich aneignet, die man vielleicht sogar bewohnt. Ähnlich wie ich es von der dramaturgischen Lektüre kenne, versuche ich mir beim Übersetzen eines Theatertexts die Situation  genau vorzustellen, sie mir zu vergegenwärtigen, um einen entsprechenden Ton zu treffen. Für mich ist Übersetzen ein Suchprozess. Dabei geht es mir nicht darum, Äquivalente zu finden oder gar einen Sinn zu reproduzieren; nein, ich glaube, es geht vielmehr darum, sich der Sprache einer Autorin anzunähern.

Diese Annäherung ist ein Prozess, nicht selten ein langwieriger, weil der Gedanke zunächst verinnerlicht und begriffen werden muss, um ihn in einem weiteren Schritt in die »eigene Sprache« zu übertragen. Im Begreifen ergreift der Übersetzer dann die Initiative und gibt sich der Aufgabe des Übersetzens hin.

Mir scheint, als nehme die Übersetzerin das Andere zunächst auch als Anderes war und baut im Akt des Übersetzens eine Brücke zum Eigenen. Wir müssen vorsichtig mit den Begriffen »anderes« und »eigenes« sein, gerade heute, wo wir in einer Welt leben, in der Andersartigkeit so oft mit Fremdartigkeit verwechselt wird, und wo Unterschiede als Probleme, als etwas Trennendes aufgefasst werden. Dabei steckt im Unterschied ein großer Reichtum, ein fruchtbarer Boden, um dem anderen und somit sich selbst zu begegnen.

Für mich heißt Übersetzung in diesem Sinne auch immer ein Miteinander. Der Übersetzende befindet sich in diesem Raum des Miteinanders, in einem Zwischenraum. Maurice Blanchot verortet die Übersetzerin sogar in dem Unterschied selbst: »Le traducteur est le maître secret de la différence des langues.«

Der Übersetzer als Meister der Differenz scheut sich also nicht davor, zunächst Unterschiede festzustellen. Das kann dazu führen, dass sich zu Beginn ein Gefühl der Unmöglichkeit einstellt. Wie übersetze ich beispielsweise Sehnsucht ins Französische, wie orgueil ins Deutsche? Paul Ricœur spricht in diesem Zusammenhang von einem Gefühl des Abschiednehmens, das er mit Freuds Trauerarbeit in Verbindung setzt.

In der Tat gilt es sich bis zu einem gewissen Grad zu verabschieden – die Übersetzerin muss Kompromisse eingehen, kann meist nicht die magische Zusammenkunft von Wort, Bild, Rhythmus, usw. in der Übersetzung gleichauf herstellen. Abschied heißt in diesem Sinne aber vielleicht auch über den eigenen Schatten zu springen, indem der Übersetzer selbst aus dem Schatten tritt und selbstbewusst Neues schafft.

Nach meiner dramaturgischen Tätigkeit am Schauspiel Stuttgart, begann ich mich für die Übersetzung von Theatertexten zu interessieren. Nach ersten Gehversuchen und der Teilnahme an dem Übersetzungsatelier »Theater Transfer«, übersetzte ich erste kleine Texte und spürte, dass etwas in mir zu vibrieren begann.

Aus Deutschland kommend, habe ich meine Jugend in Kenia verbracht und bin später – im Rahmen meines ersten Studiums – das erste Mal nach Frankreich gezogen. Seit einigen Jahren lebe ich nun in Paris und bewege mich zwischen den Sprachen. Und irgendwo in diesem Dazwischen siedelt sich für mich die Übersetzung an.

Wahrscheinlich hat es aus diesem Grund so schnell gefunkt.

»Übersetzung ist Form.« Walter Benjamin stellt diese Aussage an den Beginn seines berühmten Texts »Die Aufgabe des Übersetzers«. Der Begriff »Aufgabe« im Titel weist bereits auf einen mehrdeutigen Boden der übersetzerischen Tätigkeit hin – auf die Verantwortung gegenüber dem Originaltext (»die Aufgabe«), sowie die Notwendigkeit, sich davon zu lösen, um Neues schaffen zu können (»etwas aufgeben«).

Wenn Übersetzung tatsächlich Form ist, dann schwindet schnell der Gedanke einer Unmöglichkeit und an seine Stelle treten die tausend Möglichkeiten. Für die eine Möglichkeit, die es schlussendlich wird, muss man sich entscheiden. Vielleicht ist das die eigentliche Aufgabe des Übersetzenden.

Ich vermute, die theoretischen Texte, die sich mit Übersetzung auseinandersetzen und die nicht selten sehr philosophische Schriften sind, können in diesem Prozess der Entscheidungsfindung nur sehr bedingt weiterhelfen. Sie beginnen für sich als Konzept und ferner als Diskurs zu existieren und lösen sich dadurch zwingend von der Tätigkeit.

Ja, die Theorie kann die Praxis vielleicht nur sehr begrenzt befruchten, aber ich wage dennoch vorsichtig festzustellen, dass sich nicht wenige Denkerinnen und Denker der Übersetzung zweigleisig angenähert haben: im Tun und im Nachdenken darüber. Mich faszinieren viele dieser Texte sehr.

Und zuletzt noch einmal zurück zum Unterschied. Spätestens seit einem halben Jahrhundert wird der berühmte Zwischenraum, l’espace-entre, nicht mehr als Nicht-Ort aufgefasst, sondern als Raum betrachtet, der jegliche Form von territorialer Grenzziehung sprengt. An die Stelle trennender Grenzen, die mit einer Beanspruchung von Macht einhergehen, tritt dann die Begegnung – der Raum wird zum gemeinsamen. Ich finde, in diesem Sinne ist Übersetzung ein friedliches, ein einladendes Unterfangen.

Franziska Baur,
Übersetzerin und Dramaturgin

Franziska Baur ist Dramaturgin und Übersetzerin. Aufgewachsen in Süddeutschland und Nairobi, studierte sie in Konstanz, Lyon und Paris. Sie war Dramaturgieassistentin am Schauspiel Stuttgart. In Paris lebend bewegt sie sich an der Schnittschnelle zwischen Theater, Lyrik und Übersetzung. Zuletzt arbeitete sie mit Alain Françon, Frank Castorf und dem Collectif Aubervilliers. 2019 erhielt sie den Übersetzerpreis des Festival Primeurs.