Ich liebe die Alpen, die Königin der Gebirge, zusammen mit dem Himalaya. Sie strahlen für mich gleichzeitig ein Gefühl von Stärke und Ruhe aus. Leider habe ich nur selten Gelegenheit, sie zu besuchen. Auf Reisen komme ich oft an ihnen vorbei, vor allem in der Schweiz, wo ich, wenn ich mich richtig erinnere, das letzte Mal gewandert bin.
Lässt sich das Dirigieren der »Alpensinfonie« mit dem Erklimmen eines Gipfels vergleichen?
Die Orchestrierung von Strauss ist enorm, aber wenn man von den 12 Hörnern des Blasorchesters hinter der Bühne absieht, vergleichbar mit Wagner. Dazu kommen besondere Instrumente, wie das Heckelphon, eine Art Oboe mit tieferem Register. Es bleibt ein musikalisches Meisterwerk und eine Herausforderung für mich als Dirigenten, die so überwältigend ist wie für einen Bergsteiger, der den Mont Blanc oder den Mount Everest besteigen will!
Welche Etappe der Bergexpedition, die Strauss vertont, »gehen« Sie am liebsten?
Mir gefällt besonders der »Eintritt in den Wald«. Das Thema, zum ersten Mal von den Blechbläsern vorgetragen und von Streicherarpeggien begleitet, ist von großer Schönheit. Gleichzeitig klar und überwältigend, wie es Strauss so einmalig beherrschte.
Interessierte sich Strauss fürs Bergsteigen – oder was haben Berge mit Kunst zu tun?
Soweit mir bekannt ist, hat Strauss gerne ausgedehnte Spaziergänge in der Natur gemacht, aber er verfolgte auch eine andere, metaphysischere Interpretation der Bergbesteigung. In seinem Tagebuch notierte er, dass er seine Komposition in Anlehnung an Friedrich Nietzsche als »Antichrist« untertiteln wollte.
Warum sollte man dieses Werk unbedingt kennenlernen?
Das Hören der »Alpensinfonie« ist ein einzigartiger Moment, der die Phantasie anregt, die Sinne schärft und die tiefsten Gefühle weckt. Es ist ein überwältigendes Schauspiel!
Als Gustav Mahler seine neue Sinfonie dem Münchener Impresario Emil Gutmann mit den Worten »es ist mein bestes Werk und vorwiegend heiteren Charakters«, für eine geplante Tournee anpries, verriet er uns sicherlich nur einen kleinen Teil der Wesensmerkmale, die seine Siebte prägen. Den kompositorischen Nukleus des opulenten fünfsätzigen Werkes bilden die von Mahler als »Nachtstücke« betitelten Sätze Zwei (»Allegro Moderato«) und Vier (»Andante amoroso«). Sie wurden schon 1904, ein Jahr vor den übrigen Sätzen konzipiert. Ohne Zweifel sind diese der Sphäre des Nächtlichen, Heimlichen verbunden (der häufig verwendete Zusatz für die gesamte Sinfonie »Lied der Nacht« stammt jedoch nicht vom Komponisten). Das Spiel mit Hell und Dunkel, Nah und Fern, Tag und Nacht, Dur und Moll manifestiert sich schon mit den ersten Hornrufen des zweiten Satzes, aus denen eine Art Vogelstimmen-Konzert erwächst. Dieses bricht aber schon kurz darauf wieder über dem bereits aus der 6. Sinfonie bekannten »Dur-Moll-Siegel« jäh in sich zusammen, bevor es auf die imaginäre Wanderschaft durch Ort und Zeit geht. Man durchschreitet mit dem für Mahler subtilen Humor verschiedenste Gefühlszonen, die von billiger Prater-Atmosphäre bis hin zu »weltferner Einsamkeit« reichen (an die weit entfernte Herdenglocken hinter der Bühne erinnern). Ort und Zeit scheinen aufgehoben, die Wirklichkeit diffundiert gleichsam. Zeitgenossen erinnerte diese einzigartige Kompositionsweise ― das ständige Changieren zwischen Dur und Moll ― damals offenbar an Chiaroscuro-Malerei. Aus heutiger Sicht und einer gewissen historischen Distanz ist dieses exzessive Dunkel-Hell-Spiel ein originär Ma(h)lerischer Ansatz. Der Fokus musikhistorischer Betrachtungen im Hinblick auf die Auflösung gängiger harmonischer Regeln der damaligen Avantgarde vor Arnold Schönberg lag bisher hautsächlich auf der Entwicklung der Chromatik (Liszt, Wagner, Strauss), der Nutzung neuer Skalen (Debussy) oder spezifischer Akkordschichtungen (Skrjabin). Leider wird dieser Aspekt in Mahlers Werk, ebenso wie das von ihm virtuos angewandte Prinzip der ständigen entwickelnden motivisch-thematischen Variation und seine differenzierte melodische Klangfarbendifferenzierung bisher viel zu wenig gewürdigt. So gesehen wundert es auch kaum, dass gerade Schönberg in der 7. Sinfonie das Schlüsselwerk sieht, das seine anfängliche Mahler-Skepsis in Bewunderung verwandelt und dass Anton Webern sie als seine Lieblingssinfonie bezeichnet. Vielleicht ließ sich Schönberg sogar von Mahlers ungewöhnlicher Instrumentierung der 2. Nachtmusik (4. Satz) zu seiner Serenade, op. 24 inspirieren? Hier wie dort bereichern die Klänge von Mandoline und Gitarre das nächtliche Ständchen. In der Sinfonik um die Jahrhundertwende waren diese beiden Instrumente durchaus nicht gebräuchlich. Im Zentrum der Sinfonie steht an dritter Stelle das 1905 gemeinsam mit den Randsätzen komponierte Scherzo. Von Mahler mit »schattenhaft« überschrieben, gehört es ebenso zur Sphäre der Nacht ― offenbart hier aber ihre furchteinflößende, gespenstische, unfassliche Seite. Das Nichtfassliche steht dem grob Verzerrten gegenüber. »Klagend« kommen die Melodien und Seufzer daher. Viel Gedämpftes wirbelt spukhaft ständig auf und ab. Wilde Glissandi, grelle Absturzfiguren, Melodiefetzen münden mehrfach in den Versuch eines Walzers, der aber mehr und mehr verzerrt die Konventionen ernsthaften Musizierens sprengt und schließlich regelrecht aus den Fugen gerät. Er mündet »wild« in eine Montage aus Walzer und Trio-Elementen, die brachial wie in einem Vollrausch höchst ordinär daher donnern, bevor dann auch noch die Tempoeinheit mittels collagenartiger Einschübe ins Wanken gerät. Man fühlt sich fast zwangsläufig an das (später komponierte) Meisterwerk »La Valse« von Maurice Ravel »erinnert«. Mahler geht in seinem Prozess der Auflösung noch einen Schritt weiter: An manchen Stellen trennen sich sogar in der vertikalen Struktur die Wege (so z.B. bei Ziffer 170), wenn Instrumentengruppen einfach weiterspielen, andere aber quasi vom Geschehen abgekoppelt ihren individuellen Puls behaupten (Flöten/Piccolo). Dieser äußerst avantgardistische Ansatz der Entkoppelung der gemeinsamen Zeitebenen ist bei Mahler auch in vielen früheren Sinfonien (z.B. Finale der 2., im 4. Satz der 3. Sinfonie oder beim Anfang der 4. Sinfonie) ein höchst reizvoller Teil seiner Schaffensweise. (vgl. ähnliche Prozesse bei Charles Ives: z.B. »The unanswered question«, ab 1906 komponiert). Noch vor Béla Bartók verwendet Mahler im Scherzo auch das später nach Bartók benannte starke Anreißen der Saiten, »dass die Saiten an das Holz anschlagen« als wirkungsvollen Effekt einer abrupten Unterbrechung. Im Trio des Scherzos erinnert die Solo-Bratsche, später auch andere Stimmen, an den Eröffnungsgedanken des Kopfsatzes und stellt so eine kaum äußerlich wahrnehmbare Brücke zwischen diesem und dem Ersten Satz her. Dort wird die komplette markante Melodie gleich zu Beginn der Sinfonie »mit großem Ton« von einem Tenorhorn (ein weiteres ungewöhnliches Instrument in der sinfonischen Literatur) über dem für Mahler typischen Trauermarsch-Rhythmus vorgestellt. Es muss für Mahler nach einer kurzen sommerlichen Schreibblockade bei der Überfahrt über den Wörthersee der erlösende Einfall gewesen sein, der ihn zu der vielzitierten Aussage »Hier röhrt die Natur« veranlasste. Der Marsch gewinnt an Fahrt und manifestiert den exzessiven Gebrauch von ab- und aufsteigenden Quarten. Dieses markante Intervall zieht sich neben einem Motiv, das durch Tonrepetitionen charakterisiert wird, beinahe mottoartig durch die ganze Sinfonie. Unterbrochen wird der hochkomplexe und für alle Beteiligten äußerst fordernde Satz lediglich von einem schwärmerischen, durch zahlreiche agogische Angaben angereicherten Seitensatz. In der Durchführung weitet sich dieser Gefühlsbereich, gleichsam wie an einem Faden über den Ton B gesponnen, in völlig neue Sphären. Breite choralartig angelegte gedehnte Akkorde, die von Trompetensignalen eingeleitet bzw. unterbrochen werden, erinnern stark an eine ähnliche Stelle im »Urlicht«, dem 4. Satz seiner Auferstehungssinfonie. Dort erklingen von der Altistin die sinnigen Worte »Da kam ich auf einen breiten Weg«. Ein Weg, der in unserem ersten Satz im Zentrum dessen in einer Art fast religiösen, feierlich-verklärten Vision das Fenster in eine völlig andere, jenseitige Welt eröffnet. Unterstrichen wird dieser unbeschreiblich wunderbare Blick, einem Lichterlebnis gleich, durch »sehr weich geblasene« Posaunen in H-Dur und durch den erstmaligen Gebrauch (nach 316 Takten Pause!) der Harfen. Diese extremen Spannungspole, die Ambiguität des Eröffnungssatzes, bzw. die nächtlichen bis schaurigen Welten der Mittelsätze sind dem Rondo-Finale allem äußeren Anschein nach völlig fremd – leuchtet es doch in geradezu penetrantem strahlendem C-Dur und operiert mit Pomp, Pauken und Trompeten. Diese scheinbare Eindeutigkeit einer positiven Folie warf bei vielen Interpreten immer wieder Fragen und Zweifel auf. Die ganz offensichtliche, wohl nicht bierernst gemeinte Anspielung auf Wagners »Meistersinger« wurde von manchen Zeitgenossen gar als Sakrileg empfunden. Es gibt zahlreiche Belege, die das geradezu Experimentelle der Konzeption des Finalsatzes untermauern. Allein schon das abrupte Ende der ersten »Festwiesen-Episode« wirkt noch heute wie eine bewusste Provokation. Völlig ohne Übergang wird einfach ein statischer As-Dur-Klang (Takt 51) angeschnitten, der das nächste Thema dann harmonisch vorbereitet. Man könnte es vielleicht mit einem filmischen Mittel, einem »Reiß-Schwenk« in der Kameraführung vergleichen. Das Spiel mit Allusionen und Zitaten (z.B. bemüht Mahler in diesem Zusammenhang auch den Schlusssatz von Schumanns 2. Sinfonie, dessen Aneignung von »C-Dur«) liefert weitere Hinweise in diesem Sinne. Die ständige Metamorphose des Materials, das Kommen und Gehen erinnert an eine Art wildes Würfelspiel, Kaleidoskop aus Vergangenheit und Gegenwart, Mischung aus Ernst und Humor, aus Bekanntem und scheinbar Bekanntem. Angesichts Mahlers profunder Kenntnis von Goethes »Faust« ließe sich mutmaßen, ob nicht in gewisser Hinsicht auch die Osterspaziergang-Szene und Fausts Sicht auf das bunte Gewimmel der vielen Menschengruppen samt dem Glockengeläut eine der Inspirationsquellen für diesen Satz waren. Die Tatsache, dass der komplette zweite Teil von Mahlers 8. Sinfonie auf Goethes Faust fußt, könnte einen weiteren Hinweis liefern. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass sich das zuletzt im 4. Satz extensiv zelebrierte Klopfmotiv (mit der jeweils charakteristischen Tonwiederholung) gegen Ende des Satzes zum Anfang von »Morgen kommt der Weihnachtsmann« ergänzt, nachdem schon zuvor eine »Rute« im Orchester ihren Auftritt bekommen hat. Die türkisch gefärbte »Janitscharen-Musik«, die man u. a. aus Mozarts »Entführung« kennt, scheint sogar noch einen Hinweis auf die vorderasiatische Herkunft des Nikolaus zu liefern. Überhaupt trägt das gesamte Finale auf wunderbare Weise durchaus opernhafte Züge.
Als jemand, der alle Sinfonien Mahler mehrfach dirigieren durfte, stellte sich im Laufe der Jahre bei mir persönlich folgender Effekt ein: Je länger ich mich mit Mahler im allgemeinen und mit der Siebten im Besonderen beschäftige, desto mehr kann ich dem doppelbödigen Reiz dieses zugegebenermaßen singulären Satzes abgewinnen.
In diesem Sinne hoffe ich sehr, dass wir unsere Freude an Mahlers 7. Sinfonie mit möglichst vielen von Ihnen teilen dürfen.
Roger Epple
für die Aufführung im Mai 2022 mit Saarländischen Staatsorchester
Roger Epple zählt zu den profiliertesten deutschen Dirigenten seiner Generation. Nach festen Dirigentenpositionen an der Oper Leipzig und am Mannheimer Nationaltheater war er langjähriger Generalmusikdirektor am Opernhaus Halle und am Oldenburgischen Staatstheater.
Er dirigierte über 100 namhafte Orchester in Asien, Nord, Mittel- und Südamerika sowie Europa, z.B. die Rundfunksinfonieorchester von Paris, Amsterdam, Berlin, Dublin und Leipzig, des SWR, das Orchestre National de Belgique Brüssel, das Deutsche Sinfonieorchester Berlin, das Gewandhausorchester Leipzig, Sao Paolo Symphony Orchestra, Mexico City Philharmonic, das Shanghai Symphony Orchestra, das Singapore Symphony Orchestra, Royal Flanders Philharmonic, das National Symphony Orchestra of Taiwan, die meisten deutschen Staatsorchester und viele hervorragende Spezialensembles wie Concerto Köln und das Ensemble Modern.
Als Gastdirigent war er u.a. an der Staatsoper Berlin (Ariadne auf Naxos), an der Hamburgischen Staatsoper (Fidelio), an der Deutschen Oper Berlin (Zauberflöte), in Paris (Elegy for young lovers),an der Oper Leipzig (Cosí fan tutte), am Opernhaus Graz (Enrico), am Nationaltheater München (Kassandra), am Aalto-Theater Essen (Rake’s Progress), an der Stuttgarter Staatsoper (Wozzek), an der Oper Köln (Das schlaue Füchslein) tätig sowie bei den renommierten Festivals in Luzern, Florenz, Verona, Dresden, Strasbourg und München.
Im Bereich des Musiktheaters dirigierte er inzwischen rund einhundert Produktionen, auf dem Konzertpodium hat er sich u.a. als ausgewiesener Spezialist für die Sinfonik Gustav Mahlers etabliert. Der Echo-Klassik- und BMW Musiktheater-Preisträger spielte zahlreiche CDs u.a. für die Labels Sony Classical, Teldec, Wergo, Capriccio und CPO ein. Über 40 Uraufführungen von Komponisten aus aller Welt belegen sein Interesse für die Musik der Zeit – er hat sich aber auch immer wieder für die Wiederentdeckung von vergessenen Kompositionen stark gemacht (so z.B die Uraufführung von Werken von Egon Wellesz, Berthold Goldschmidt oder Paul Dessau).
»Es affiziert mich Alles, was in der Welt vorgeht: Politik, Literatur, Menschen – über Alles denke ich in meiner Weise nach; was sich dann durch Musik Luft machen, einen Ausweg suchen will.« Diese Worte Robert Schumanns, der mit wachem Geist die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgte, haben bis ins Heute nichts an ihrer Wirkkraft verloren. Verweisen sie doch auf das große Potenzial der Musik und die damit verbundene Wirkungsfähigkeit, durch ihre Performanz und das musikalische Erleben zur Verarbeitung und Spiegelung außermusikalischer Eindrücke und Prozesse beizutragen.
Dabei charakterisiert sich dieses Potenzial jedoch nicht nur als Kür, sondern auch als Pflicht, in dessen Bezugsrahmen sich auch eine Spaltung vollziehen kann: Nämlich die Trennung zwischen dem Anspruch der Musik als autonome Kunst und der Gefahr ihrer Instrumentalisierung zur gesellschaftlichen und staatlichen Repräsentation und Machtkonsolidierung bzw. Machterosion bis hin zum Missbrauch durch totalitäre Systeme. Auch der Künstler oder die Künstlerin muss sich immer wieder der Frage nach ihrer eigenen Autonomie angesichts sozialer und politischer Konstellationen stellen; ein Umstand, der nur allzu oft mit äußeren Erwartungen, der Romantisierung des politischen (Wider-)Stands und der Rezeption dessen kollidiert. Vor diesem Hintergrund charakterisiert sich die Musik als das, was sie ist: Ein Spannungs- und Inspirationsfeld zwischen Emotion und Ratio, zwischen Autonomie und (Sach-)Zwang, deren Betrachtung interdisziplinäre, intersektionale Perspektiven erfordert. Dabei lässt sich der Mehrdimensionalität der Musik als historischem wie ästhetischem Phänomen nur Rechnung tragen, wenn man die vielfältigen Dynamiken von gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozessen, die von Musik eingeleitet oder begleitet werden, berücksichtigt. Dort ist die entscheidende Frage nicht, ob Musik politisch ist, sondern wie und mit welchen Mitteln sie als Instrument zur Konsolidierung oder auch zu Destabilisierung von Staats- und Gesellschaftsformen eingesetzt worden ist. Und wird. Einhergehend mit den Fragen nach dem durchaus ambivalenten Abhängigkeitsverhältnis von Politik und Musik, drängen sich weitere auf … Wie frei ist die Kunst? Bedeutet Freiheit = neutral? Und behelfen wir der Kunst mit dem Anspruch, sie stehe über allem, wirklich zu einer Autonomie? Um welchen Preis? Ist die Musik also ein kunstvolles Spiel mit Tönen, Klängen, Harmonien, Rhythmen? Drückt sie immer etwas aus? Beschreibt sie einen Gegenstand, einen Sachverhalt, ein Gefühl? Dient sie gar einem Zweck? Ja. Und Nein. Welche politischen Dimensionen die Musik erfüllt, ist abhängig von den jeweiligen zeitgenössischen Verhältnissen und Visionen. Und der Streit über die Autonomie der Musik ist wohl so alt wie die Kunstform selbst, zu dem die Komponisten verschiedener Jahrhunderte ihren Beitrag beisteuerten, ob sie wollten oder nicht. Das Publikum übrigens genauso. Ob es will oder nicht.
Im 5. Sinfoniekonzert stehen zwei Komponisten auf dem Programm, deren Werden und Wirken als Kunstschaffende in besonderem Maße von der ambivalenten Abhängigkeit von Politik und Kunst geprägt war. 1946 wurde Pēteris Vasks in der lettischen Kleinstadt Alzpute als Sohn eines Pfarrers geboren – zu einer Zeit, in der das Land im Zuge des Zweiten Weltkriegs als Lettische Sozialistische Sowjetrepublik der Sowjetunion angegliedert worden war. Die Eindrücke seiner Kindheit wurden vom staatlichen Terror des sowjetischen Zentralregimes bestimmt: Massendeportationen und Zwangsumsiedlungen auf der einen Seite, gelenkter Zuzug von Menschen aus anderen Reginen der UDSSR auf der anderen Seite. Die Regierung der Sowjetunion verfolgte eine massive Politik der »Russifizierung« des Baltikums.
Vasks musste mit ansehen, wie Unschuldige aus ihren Häusern vertrieben und in sibirische Straflager verschleppt wurden. Stalins Tod 1956 sollte keineswegs so etwas wie Wiedergutmachung bedeuten – den Überlebenden des politischen Terrors wurde das strikte Verbot ausgesprochen, über das erlebte Unrecht zu reden. Schon früh sollte die Musik ein Weg Vasks sein, seinen erschütternd prägenden Erlebnissen einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Auch das Leben Schostakowitschs war geprägt von den Eindrücken des sowjetischen Terrorregimes. Ein Umstand, der sich in besonderer Weise auf die Betrachtung seiner Musik auswirkte. Vor dem Hintergrund der omnipräsenten existenziellen wie künstlerischen Gefahr, denen Schostakowitsch als Mensch und Musiker ausgesetzt war, ist die Rezeption seiner Musik nahezu ideologisch überfrachtet. Es scheint fast zur Gewohnheit geworden sein, in jedem seiner Töne nach Hinweisen auf eine Art der Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten seiner Zeit zu suchen. Kein Wunder, überlebte Schostakowitsch doch nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch eine Diktatur, in der der Künstler den massiven Schikanen der Kulturbehörden ausgesetzt war und seine Genese als Komponist mit dem Aufstieg des totalitären Stalin-Regimes zusammenfiel. Propaganda und Sozialismus auf der einen Seite, Verbote und Verfolge auf der anderen bestimmten den Alltag. Und damit die Musik.
Denn die Musik ist Alltag. Sie ist artifiziell, sie ist hypothetisch, sie ist intellektuell, sie ist sinnlich, sie ist politisch oder gar polemisch. Sie spiegelt die Gesellschaft, genau so wie sie sie formt. Sie kann Identität stiften, genauso wie sie Identität abbilden kann. Und Identität ist immer politisch.
Nun ist angesichts des immer komplexer werdenden Weltgeschehens, einer Nachrichten- und Weltenlage, die mehr einer Dystopie denn Utopie gleicht, dieser Wunsch nach Eskapismus, der mit dem Bedürfnis der vermeintlich unpolitischen Freiheit der Kunst einhergeht, nur allzu verständlich. Doch ist es nicht eine der großen Qualitäten, der Musik, dass sie mit den Originären Mitteln der Kunst einen politischen Diskurs erzählt und damit sinnlich wirken lässt?
Wer also jederzeit und immer von der (politischen) Freiheit der Musik ausgeht, setzt damit aufs Spiel, dass es sie irgendwann nicht mehr geben kann. Die Freiheit. Der beraubt die Kunst nicht mehr nur ihrer Dimension und Relevanz, sondern auch ihrer Widerstandsfähigkeit.
Frederike Krüger, Dramaturgin für Musiktheater und Konzert
Weitere Informationen sowie Karten für das 5. Sinfoniekonzert finden Sie hier.
Als Informationsquelle für diesen Beitrag diente der Sammelband »Musik – Macht – Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne«, herausgegeben von Sabine Mecking und Yvonne Wasserloos. Erschienen bei V & R unipress, Düsseldorf 2012.