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Hinter dem Vorhang Theaterblog

Ballet with a distance

Der Tanz am SST in den Zeiten von Corona.

Yaiza Davilla Gómez, Hope Dougherty und Alexander Andison tanzen im Saarländischen Staatsballett. In einem Interview sprechen sie über die Produktion »Sound & Vision«, die am 3. Oktober 2020 Premiere hatte.

Wie bist du mit dem Tanz verbunden, und inwiefern war diese Verbindung vom Lockdown und der Pandemie betroffen?

Y. D. G.: Vor dem Lockdown befand ich mich in einer kritischen Situation. Ich tanze seit elf Jahren professionell, und es fühlte sich so an, als wäre die Zeit gekommen, etwas anderes zu machen. Der Lockdown von März bis Mai ließ mich jedoch erkennen, dass ich es liebe zu tanzen. Ich habe es so sehr vermisst, und als wir endlich wieder auf der Bühne standen, war ich so glücklich – ich fühlte mich wieder verbunden zu dieser Liebe.

H.D.: Während des Lockdowns hatte ich eine Phase, in der ich dachte: »Wen interessieren Tänzer?« oder »Wir spielen keine Rolle«. Zur selben Zeit aber fühlte es sich so an, als könnte ich ohne den Tanz nicht existieren, ich fühlte mich so leer. Das war die längste Pause vom Tanz, die ich je hatte, und jetzt bin ich wieder motiviert und will wieder loslegen, aber mein Körper ist einfach noch nicht bereit. Es ist frustrierend, wieder zurückkommen zu wollen, aber dazu einfach nicht in der Lage zu sein, weil das Training gefehlt hat. Man muss sehr geduldig sein, wie am Anfang.

A. A.: Wenn dir etwas Selbstverständliches genommen wird, lehrt es dich, den Hunger darauf oder die Notwendigkeit dessen zu schätzen. Am Anfang des Lockdowns, als wir alle nach Hause geschickt wurden, gab es eine Dualität: unser künstlerischer Appetit konnte nicht befriedigt werden, und unsere Körper waren unterfordert. Für mich war es relativ einfach, meine künstlerischen Bedürfnisse zu erfüllen, indem ich mir Zeit nahm, andere Dinge zu tun, beispielsweise Lesen oder Filmeschauen. Der professionelle Tanz ist auf eine bestimmte Weise sehr rituell: Täglich üben wir und beginnen jeden Tag gleich, mit dem gleichen Training; es bereitet einen auf den restlichen Tag vor. Es ist eine Möglichkeit, einen Schritt zu sich selbst zu machen und sich mit seinem Körper zu verbinden, wie in der Meditation oder im Yoga.

Alexander Andison; Micaela Serrano Romano; Shawn Throop | Foto: Bettina Stöß

In »Sound & Vision« sind Projektionen von euch und anderen Ensemblemitgliedern bei Bewegungsübungen zu Hause zu sehen. Welche Probleme hattet ihr in dieser Zeit?

H. D.: Es war furchtbar! Meine Wohnung hat einen alten Dielenboden, und unter mir wohnt eine Familie mit kleinen Kindern. Außerdem hatten wir Training über Zoom, was mit dem winzigen Bildschirm meines Handys sehr anstrengend war. Ich war leicht abgelenkt, und bereits Kleinigkeiten störten mich viel mehr als gewöhnlich. Am Ende des Tages war ich erschöpft, obwohl ich körperlich fast nichts machen konnte. Für die Videos habe ich einen Beitrag in einer kleinen Ecke meiner Wohnung gemacht, die mir nie richtig aufgefallen war. Dadurch, dass ich gezwungen dazu war, kreativ mit meiner Umgebung umzugehen, fand ich heraus, dass es einen gewissen Charme hat, die Decke mit meinen Füßen zu berühren.

A. A.: Stijn sagte mal etwas darüber, wie wichtig es sei, in einer Zeit des Leidens als Tanzgruppe präsent zu sein. Es diene dazu, unseren Platz in der Gemeinschaft klarzustellen und dass wir zusammen seien, wenn auch nicht räumlich. Ich genoss es, zu Hause einen Fokus auf Theorie und Achtsamkeit zu legen, aber ich glaube, ein Großteil des Tanzens ist die Bewegung durch den Raum, das Benutzen der Extremitäten und aller Dimensionen des Raumes um einen herum. Mit Online-Unterricht geht das einfach nicht richtig. Ich habe es als zuträglich für meine mentale Gesundheit gesehen, und zur körperlichen Auslastung habe ich mit dem Laufen und dem Fahrradfahren begonnen.

Y. D. G.: Es war sehr kompliziert. Man muss komische Sachen mit dem Körper anstellen, um sich an die Umgebung anzupassen. Sei es ein viel zu tiefer Stuhl, der als Stange herhalten muss, oder der knarzende Wohnzimmerboden. Wir hatten einmal Zoom-Unterricht von einem Lehrer aus Italien, einem Spezialisten für Rolfing, einer Körpertherapiemethode. Die Übungen waren alle sehr langsam und minimalistisch; ein großer Teil davon ist das Verständnis über die eigene körperliche Verfassung. Er leitete uns dazu an, uns unserer selbst bewusst zu werden. Das fand ich sehr schön, da man in der Alltagsroutine einfach keine Zeit für so etwas hat. Man muss sich selbst und seine Kunst immer wieder an die Grenzen bringen.

Jetzt seid ihr in den Proben für ein neues Stück, »Winterreise«. Wie fühlt es sich an, die nächste Produktion in einem Lockdown zu erarbeiten?

H.D.: Nun, wir wissen noch nicht, wann die Premiere stattfindet. Vielleicht im Juni? Ich fände es allerdings sehr seltsam, »Winterreise« in der Sommerhitze zu tanzen. Außerdem ist es etwas ganz anderes als »Sound & Vision«. Es hat eine Art Narration und einen eher düsteren Rahmen. Vorher haben wir etwas Heiteres gemacht, konnten zu Popmusik tanzen, es war energetisch. Jetzt bricht der Winter an, und es macht wirklich den Anschein, als würden wir uns auf eine Winterreise begeben.

A. A.: Das ist jetzt vielleicht ein etwas großer Gedanke, aber ich denke oft über unsere Rolle in der Gesellschaft nach. Es ist toll, dass wir die Unterstützung von der Regierung bekommen, wir können weiterhin proben und arbeiten, aber es fühlt sich albern an, das nur für uns zu machen und nicht für ein Publikum. Wir arbeiten ohne Aussichten auf Auftritte. So etwas lässt einen den Beruf hinterfragen, die eigene Kunst – und das macht es sehr schwer, optimistisch zu bleiben.

Y. D. G.: Bereits die Produktion von »Sound & Vision« war sehr anspruchsvoll. Wir konnten nur zu dritt oder zu viert proben. Wenn sich die ganze Kompanie im Prozess einer Uraufführung befindet, gibt es fast immer eine neue Idee, neue Impulse von einem Mitglied, wodurch alles viel einfacher fließt. In kleinen Gruppen zu arbeiten war dadurch ziemlich anstrengend, auf der anderen Seite konnte Stijn Celis sich sehr auf die Individuen konzentrieren und ein Stück kreieren, bei dem jeder Vorschläge einbringen konnte. Ich persönlich habe es sehr genossen, ihm Ideen anzubieten, mit denen er dann gespielt hat. Auf diese Weise beinhaltet das Stück die Persönlichkeit von uns allen. Ich hoffe es wird alles wieder normal, aber ich glaube nicht, dass das in naher Zukunft passiert. Wir müssen uns einfach damit abfinden.

Hope Dougherty in »Sound & Vision« | Foto: Bettina Stöß.

Wie habt ihr euch gefühlt, als ihr zum ersten Mal wieder mit den anderen tanzen durftet?

H. D.: Als ich die vielen Menschen gesehen habe, war ich sehr verunsichert über mein Verhalten: Wie sagt man hallo, ohne unhöflich zu sein? Zu der Zeit war alles so unsicher. Man wollte mit den anderen tanzen, aber gleichzeitig sich an die Vorschriften halten, wobei man nicht einmal wusste, welche Vorschriften tatsächlich sinnvoll waren. Am Anfang wurden kleine Vierecke auf den Boden abgeklebt, die uns vorgaben, wo wir bleiben sollten. Das war urkomisch, weil es natürlich kein bisschen funktionierte.

Y. D. G.: Normalerweise berühren sich Tänzer sehr oft, wir sind immer beieinander. Wir fingen allerdings irgendwann an, damit zu spielen. Es war etwas Neues, und plötzlich mussten wir mehr Solomaterial produzieren. Auch das wurde aber nach einer Zeit sehr einseitig, und wir brauchten etwas anderes. Ich liebe es, mit Menschen zu tanzen, mit ihnen eine Verbindung einzugehen, sich gegenseitig in die Augen zu sehen oder ihr Gewicht zu spüren – aber jetzt gibt es nur dich.

H. D.: Denken wir daran: Wenn die Pandemie vorbei ist, müssen wir akzeptieren, dass es schwer wird, wieder mit anderen zu tanzen. Zusammen zu tanzen muss immerzu geübt werden und ist durch nichts ersetzbar.

A. A.: An diesem Punkt kommt man schon fast zur Wissenschaft des Tanzes: Wenn man den Körper eines anderen nimmt und sein Gewicht tragen muss, geht es um Balance und Physik. Das haben wir schon lange nicht mehr üben können, weshalb auch ich mit Sicherheit nervös werde, sobald es wieder dazu kommt. Ich glaube, »Sound & Vision« war ein gutes Beispiel für das Arbeiten mit unseren Parametern. Es ist, wie wenn man ein Sinnesorgan verliert, beispielsweise wenn die Augen geschlossen sind, dann erwachen die anderen Sinne, und ich glaube, das ist ganz ähnlich, wenn im Tanz die Partnerarbeit oder das Anfassen nicht erlaubt sind. Man muss sich auf andere Dinge verlassen. So hatten wir die Bühne als Gruppe. Beobachtet man das Drehen und Verschieben des Raumes, wirkt es, als wären mehr Menschen da und wäre mehr Bewegung im Stück.

In »Sound & Vision« habt ihr oft synchron getanzt. Hat das ein Gemeinschaftsgefühl auf irgendeine Weise hergestellt?

H. D.: Natürlich hat man dabei ein Gefühl des Zusammenseins, aber man sieht es eher von außen. Es wird sichtbar, wie sich Körper, trotz Entfernung, zusammen bewegen können. Für mich als Beobachterin wirkte der Abschnitt der Männer wie eine starke Einheit an Kraft.

A. A.: Ich empfand den Teil der Frauen zu Edith Piafs Musik wie einen Schwarm fliegender Vögel. Wenn man synchron tanzt, ist ein wichtiger Teil das synchronisierte Atmen und das Finden des richtigen Rhythmus. Atmen ist die Essenz des menschlichen Wesens, und es ist der Kern unseres Seins; das ist etwas, womit ich mich beim Tanzen verbunden fühle.

H. D.: Jetzt, wo du es sagst: Ich fand den Frauenteil sehr herausfordernd, weil wir alle nach vorne geschaut haben und ich keine der anderen sehen konnte, und wir alle hatten ein seltsames Gefühl. Irgendwie waren wir dennoch verbunden. Ich frage mich fast, ob, weil wir uns nicht berühren durften, es besser als sonst war. Es war eine ganz neue Art von Intimität.

Alexander Andison; Hope Dougherty | Foto: Bettina Stöß

Hope und Alexander, ihr beiden habt auch bei dem Part des Stücks mitgewirkt, in dem ihr im schwarzen Mantel mit politischer oder persönlicher Aussage darauf ganz vorne auf der Bühne gesprochen habt. Was sagt ihr zu diesem anderen Aspekt des Stücks?

A. A.: Wir wurden tatsächlich gefragt, was wir auf den Mänteln haben wollten, und die Kostümbildnerin Laura Theiss hat uns zu politischen Aussagen ermutigt. Dieses Stück war für mich allerdings nicht das Umfeld, in dem ich so etwas ausdrücken wollte, daher waren meine Aufschriften eher motivierend und aufbauend. Ich wollte auf das vergangene Jahr blicken, was so herzzerreißend war, nicht nur des Virus wegen. Viele im Ensemble sind aus Nordamerika, und dort finden gerade diverse politische und kulturelle Revolutionen statt. Stijn hat ebenfalls familiäre Verbindungen in die USA, dadurch wurde die Thematik eng in das Stück eingeflochten. Ich bewundere, wie subtil das erfolgt ist. Begriffe wie »Hoffnung« können auf unzählige Dinge anspielen, die gerade vor sich gehen, wie Politik, Sozioökonomie, (geistige) Gesundheit etc.

H. D.: Stijn hat auch nicht viel darüber geredet, es wurde einfach unabhängig von der aktuellen Situation gezeigt, und es hat gepasst. Es hätte einfach nur ein Zufall sein können. Was die Beschriftung meines Mantels angeht, so wollte ich etwas Humorvolleres. Wie »Hope never dies«, was auch ein Spiel mit meinem Namen ist.

Alexander Andison; Hope Dougherty; Conner Bormann; Edoardo Cino | Foto: Bettina Stöß.

Wie findet ihr die ausgewählten Lieder?

H. D.: Ich mochte David Bowie, das hat viel Spaß gemacht. Die Songs, die ausgewählt wurden, sind voller Energie. Obwohl es leicht hätte kitschig werden können, hat es sich doch sehr gut entwickelt. Durch Edith Piaf kam etwas Europäisches hinzu und brachte mich zum Nachdenken, wie es ist, als Amerikanerin in Europa zu sein. Ich habe diesen multikulturellen Aspekt sehr genossen.

Y. D. G.: Ich habe die Musik geliebt! Ich war glücklich über diesen Soundtrack. Nach dem Lockdown wäre es ein Leichtes gewesen, zu düsterer und deprimierender Musik zu choreographieren. So haben wir musikalisch eine fröhliche musikalische Atmosphäre geschaffen, wodurch nicht nur das Publikum die Show richtig genießen konnte, sondern auch die Kompanie. Es hat viel Spaß gemacht! Dabei war es nicht nur »Letʼs Dance«, die ganze Show war wie ein Festmahl. Ich mochte auch den Teil sehr, in dem die anderen gesprochen haben; diese Art musikalischer Sprache hat viel zur Show beigetragen.

A. A.: Viel davon war Popmusik. Wir hatten alle eine schwere Zeit gehabt, und es war einfach schön zu sehen, wie ein paar Leute ihre Körper zu fröhlicher Musik bewegen, zu der man eine Verbindung hat und die man vielleicht aus der Jugend kennt. Die beweglichen Wände haben auch dazu beigetragen, dass sich die Bühne wie eine große Jukebox anfühlte, die mit jedem Lied ihre Farbe wechselte. Dieses Format hat mir sehr gefallen.

Obwohl die Vorstellungen gut besucht waren, coronabedingt jeweils nur mit rund 250 Zuschauer*Innen, muss es sich seltsam angefühlt haben, vor einem gefühlt fast leeren Haus zu tanzen, oder?

H. D.: Ich dachte, dass es sich sehr leer und weniger energiegeladen anfühlten würde, aber irgendwie war es besser als erwartet. Bei der letzten Vorstellung im Oktober, vor dem erneuten Lockdown, wurde ich sehr emotional, weil die Menschen das Stück sehr mochten und wir nun wieder aufhören mussten. Der Applaus am Ende war magisch.

A. A.: Ich war sehr fokussiert auf meine Dankbarkeit, wieder auf der Bühne zu stehen und dass die Menschen da waren, um uns zu sehen. Viele von uns haben Freunde und Familie in Nordamerika, die seit fast einem Jahr nicht mehr arbeiten konnten. Ich habe also viel Glück, dass ich meiner Kunst nachgehen kann und sie tatsächlich bei den Menschen ankommt. Ich habe versucht, eher auf das halbvolle als auf das halbleere Glas zu schauen. Vielleicht schien es nur so, aber auch vom Publikum ging ein Gefühl der Dankbarkeit aus, hier sein zu dürfen, daran teilzuhaben und die Kunst zu unterstützen.

Y. D. G.: Die erste Vorstellung, die Premiere, war sehr merkwürdig. Auf der Bühne sah man fast nur Dunkelheit mit einzelnen, sporadisch verteilten Reflexionen aus dem Publikum, mit viel Platz dazwischen. Bei der letzten Vorstellung Ende Oktober wurde ich auch sehr emotional. Der Applaus war so stark; es war sehr intensiv. Die Leute waren wirklich bei uns, bei unserer Kunst, und dafür war ich sehr dankbar.

Das Interview führte Lara S. Happ, FSJ-lerin in der Dramaturgie des Saarländischen Staatstheaters.

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Sound & Vision

Bevor Stijn Celis mit der Choreographie seines neuen Balletts »Sound & Vision« begann, hatte er die Ensemblemitglieder nach ihren Erfahrungen und Eindrücken während der Lockdown-Zeit von März bis Mai 2020 befragt. Aus den Antworten entstand ein Text, der im Stück nach dem ersten Song (»Letʼs Dance« von David Bowie) zu sechst gesprochen wird:

What do 16 square metres mean for you? To me, it does not matter how big the space is around me, what matters is how big the space is in my spirit and imagination. 4 by 4 metres may feel limited yet it can also feel eternal. Before Corona my approach to dance was mostly physical and sometimes intellectual. Today it is mostly intellectual and sometimes physical.

During Corona I heard my neighbours having sex – and they probably did the same. I discovered that a broom can stand alone in balance. I had time to virtually re-establish some far-away friendships. For my birthday, my dad sent me a package from Japan, and we both thought that it would take at least a month to get here because of the situation. It arrived within a week. On my birthday, I received gifts and cookies delivered through my window using a rope.

What was the hardest thing during the Corona crisis for you? To wear a mask? Weekly grocery shopping? Not knowing where the »finish« line is? One night I slept 15 hours, I ate pizza four days in a row. (I had four pizzas in a row.)

I painted my catʼs nails blue. I actually spent a good amount of time during lockdown with reading. Noverreʼs »Lettres sur la danse« and Kandinsky, »Punkt und Linie zu Fläche«. For me they are complimentary. Two art-making models with opposite principles but with the same aim.

Klaus Kieser,
Kompaniemanager Saarländisches Staatsballett und Dramaturg