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Hinter dem Vorhang

Innovation statt Resignation: »Staatstheater goes Völklinger Hütte«

Keine Vorstellungen mehr. Kurz gesagt, aber mit weitreichenden Folgen, denn dies bedeutete: Keine Konzerte, kein Schauspiel, kein Ballett, keine Oper. Kein Lachen, kein Diskutieren, kein Weinen, kein Grübeln oder Schmunzeln mehr. Kein Vorhang, der sich hebt und wieder fällt, kein Applaus, keine Pausengespräche, keine Worte oder Töne, die weit über den Abend hinweg wirken.
Und außerdem: kein Theaterfest, keine Kulturmeile. Seit Mitte März stand das kulturelle Leben auch in Saarbrücken nahezu still. Lahmgelegt. Künstlerinnen und Künstler konnten nicht mehr dem nachgehen, was sie ausmacht: sprechen, singen, tanzen, spielen. Sie wurden im wörtlichen und übertragenen Sinne ihrer Bühne beraubt.
Beraubt wurden auch die Menschen, die einen wesentlichen Teil des Theaters ausmachen: Dem Publikum wurde die Bühne ebenso entzogen, wie den Kunstschaffenden selbst. Nicht nur das Theater wurde geschlossen, ebenso Museen, Kinos, Konzertsäle … etc. pp. Der Ungewissheit zum Trotz wollten der Direktor der Völklinger Hütte Dr. Ralf Beil und Intendant Bodo Busse aktiv werden und Kunst wieder möglich machen. Anders als wir es bisher vielleicht kannten, aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Innovation statt Resignation: »Staatstheater goes Völklinger Hütte«.

Szenen aus »GLÜCK. Ein Abend mit sieben Gewinnern und den besten Szenen in Zeitlupe« mit Achim Schneider, Juliane Lang, Ali Berber, Marie Smolka und Bernd Geiling.

Wenige Wochen später: 16562 Schritte, das sind ungefähr 14 Kilometer, knapp 40 Telefonanrufe, keiner dauerte länger als 30 Sekunden, hinzukommt noch eine diverse Anzahl an Funksprüchen, ungefähr 5 Stunden für den Aufbau, 4 Stunden Programm, 2 Stunden Abbau, fast 100 Beteiligte des Saarländischen Staatstheaters, über 50 Programmpunkte, 17 Spielorte, ca. 1600 Anmeldungen. Das sind in etwa die Zahlen des vergangenen Sonntags, die ich in meinem Kopf überschlage.

»La vie en rose« aus »Trüffel Trüffel Trüffel« : Michael Wischniowksi auf der Lok in der Kohlegasse.

Nicht mitgezählt habe ich die Stunden der Vorbereitung, der kreativen wie organisatorischen Denkrunden, die vielen Fahrten vom Staatstheater zur Völklinger Hütte, um noch ein weiteres Mal die Orte abzugehen, an denen die Kunst zu (neuem und anderem) Leben erweckt werden soll.
Die SpartenleiterInnen konzipierten und überlegten zusammen mit den Ensembles und Regieteams, die Musikerinnen und Musiker des Staatsorchesters machten Vorschläge für kammermusikalische Beiträge, weitere Künstlerinnen und Künstler des Hauses meldeten sich, wollten mitwirken, musizieren, sprechen, dabei sein, gesehen und gehört werden. Sichtbar, hörbar, wirksam.

Verena Bukal bereitet sich vor für ihren Auftritt im Schattenhof bei der Klanginstallation zu »Die Politiker«.

Nun packten alle mit an, Vorschläge machen und sichten, Ideen besprechen, verwerfen, suchen und finden. Die Uhr tickte unaufhörlich. Für einen Parcours derlei Größe und Ausmaße sind normalerweise mehrere Monate Vorlauf- und Planungszeit vorgesehen. Nun hatten wir nur Tage, denn die Spielzeitpause lag dazwischen.

Auf dem Schrottgleis: Die Vorbereitungen laufen für die Szenen aus »Nora_Spielen!«, »Die Stripperin« und »GLÜCK«.

Erneut fahren wir zur Völklinger Hütte, die Orte werden konkreter, der Parcours steht. Es wird ernst.
Ist dieser Boden geeignet für einen Tänzer? Kann ich mir an dieser Treppe eine Tänzerin vorstellen? Was meint Stijn Celis dazu? Wie ist die Akustik auf dieser Brücke? Am besten stellen wir hier das Horn-Quartett hin, hier wäre ein schöner Ort für das Beethoven-Duo, die sollten etwas geschützt stehen, vor dem Brombeerstrauch könnte Papageno nicht passender sein, hier die Klanginstallation, da die Szenen aus dem Schauspiel. Nochmal, wie ist die Akustik? Gibt es Strom? Und wer ist eigentlich für das E-Piano zuständig?

Fagott-Trio im Wäldchen hinter der Handwerkergasse: Nicolas Horry, Marlene Simmendinger, Katja List.

Ich schreibe Listen, Pläne, E-Mails, tätige Anrufe, organisiere, strukturiere, informiere. Und alles von vorn. Die Zeit rast. Die Nervosität steigt. Die gehört ja immerhin dazu, zum Showbusiness, so heißt es doch, oder? Wird unser Konzept aufgehen? Funktioniert unsere Kunst vor Ort? Was heißt das überhaupt, »funktionieren«? »Hoffentlich trägt sich das Programm«, höre ich mich nicht nur einmal sagen oder vielmehr fragen. Aber was heißt denn das, »trägt sich das Programm«? Welche Aufgabe hat Kunst, hat Kultur? In diesen Tagen kommt mir diese Frage noch dringender vor als eh.

Braucht die Kunst das überhaupt, eine Legitimation, eine Aufgabe, ein Tragen, ein Funktionieren? Wessen Ansprüche wollen wir erfüllen? Unsere? Andere? An diesem Sonntag und eigentlich auch sonst so.

Percussion Under Construction trifft Tanz in der Cowpergasse: Micaela Serrano Romano, Dominik Minsch, Yaiza Davilla Gómez.

Aber ich habe keine Zeit. Ich packe Lagepläne ein, Telefonlisten, Zeitpläne, Stift, Papier, Klebeband (besser haben als brauchen), auch eine Sicherheitsnadel, die tatsächlich später gebraucht wird, aber ich vergesse, dass ich sie überhaupt eingesteckt habe. Zusammen mit den KollegInnen aus dem Künstlerischen Betriebsbüro geht es Richtung Völklinger Hütte, auch sie haben Listen dabei, Handy, Stift und Zettel griffbereit. Ebenso wie die einmalige Mischung aus positiver Nervosität und routinierter Gelassenheit, die es so wohl nur am Theater gibt.

Statisterie des Saarländischen Staatstheaters.

Sonntag um 10 Uhr kommen wir an. Es geht los. Wer nimmt gleich die KünstlerInnen in Empfang? Wer läuft den Parcours nochmal ab und nimmt die StatistInnen mit? Wer betreut die einzelnen Standorte? Mir reicht man ein Funkgerät und schon sitzt die Dramaturgin auf dem LKW, fährt mit den Kollegen der Technik alle Standorte ab, die später zu Bühnen werden sollen, verteilt mit ihnen und den Orchesterwarten Notenständer, Stühle, Stromkabel, Tische. Wo muss nochmal der Tisch hin? Könnten wir vielleicht einen zweiten bekommen? Und einen dritten? Und wer braucht hier ein Stromkabel? Ein zweiter Blick auf die Uhr, 12.30 Uhr. Uff.

Bernd Geiling liest aus »Amadeus« auf dem Schiff in der Handwerkergasse.

Alle anderen sind ebenfalls längst über das gesamte Gelände verteilt. Alles läuft, wie ein Zahnrad greifen wir ineinander. Wir funktionieren.
Die KünstlerInnen strömen aufgeregt, lachend und – so scheint es zumindest – motiviert und lustvoll zu ihren jeweiligen Spielorten, die sie an diesem Tag zum ersten Mal sehen. Improvisation lautet das Motto des heutigen Tags. Die Gelegenheit am Schopfe packen, einfach machen, spielen, reagieren, aktivieren. Endlich. Theater. Anders, aber nicht weniger aufregend. Wieder ein Blick auf meine Uhr. 13 Uhr. Tick Tack. Keine Zeit für Sentiments.

Fabian Gröver, Martina Struppek, Christiane Motter und Thorsten Köhler mit Szenen aus »Nora_Spielen!« auf dem Schrottgleis.

Und wieder die Fragen, funktioniert alles? Ist die Akustik gut, ist das Programm auch ausreichend abwechslungsreich? Haben wir gut disponiert, entstehen Frei- aber keine Leerflächen? Fühlen sich alle Beteiligten wohl an ihren Standorten, ist alles da? Wie wird das Publikum reagieren, interagieren?

Währenddessen schnappt sich der Intendant beherzt die Kiste mit den Desinfektionsflaschen, aber halt – wo sind denn jetzt eigentlich genau die einzelnen Spielorte? Der Chefdramaturg eilt zu seiner Hilfe. Zusammen ziehen sie los, eine der vielen letzten Runden, bevor es endlich losgeht. In der Zeit erobern sich die Ensembles ihre jeweiligen Spielorte, die wohl kürzesten Proben der Theatergeschichte beginnen. Das Wasser ist verdammt kalt, aber endlich fließt es wieder. Gleich springen wir, alle zusammen.

Teile des Ballettsensembles auf dem Sinterturm.

Klingeling, mein Handy. Ein Notenständer ist kaputt, vom Wind umgeweht und zerbrochen, kein Problem, ich funke schnell den Orchesterwart an. Er kommt keine fünf Minuten später, der Notenständer ist ersetzt. Es beginnt zu regnen, gibt es Planen für das E-Piano? Einen Lappen für den Tisch auf dem Schrottgleis? Gibt es. Der Regen hört auf, die Wolken ziehen weiter, die Sonne kommt durch, der Wind bleibt jedoch.

Oboen-Quartett mit Morzart vor der Hängebahn: Lutz Bartberger, Martina Schnepp, Jan Krause, Raphael Klockenbusch.

Hoffentlich stehen die InstrumentalistInnen nicht in der prallen Sonne, denke ich. Das ist nicht gut für die Instrumente. Aber ich habe an die Überdachung gedacht. Hört der Wind wohl noch auf? Das geht alles auf die Akustik. Sollte ich vielleicht das Streichquartett doch woanders hinstellen? Sind eigentlich alle da? Steht auch ausreichend Wasser bereit in den Aufenthaltsräumen? Haben alle an ihre Masken gedacht?

Percussion Under Construction: Martin Henneke, Johannes Walter und Matthias Weißenauer auf der Bühne im Biergarten.

14 Uhr. Ich horche auf. Von weitem dringen die rhythmisch-dröhnenden Klänge von Percussion Under Construction zu mir durch. Mist. Ich wollte doch den Anfang miterleben, stattdessen stehe ich am ganz anderen Ende des Parcours.

Für einen kurzen Moment überlege ich, schnell zum Anfang vorzugehen. Entscheide mich letztlich jedoch dagegen. Auch da, wo ich jetzt stehe, zwischen rostigen Eisenrohren, sprödem Beton, durch den sich mit all ihrer Kraft kleinste grüne Grashalme ihren Weg bahnen, kann ich die Musik hören. Und mit einem Mal kommt diesem eben noch hektischen Moment eine ungeahnte metaphorisch-poetische Bedeutung zu. Die Kunst war nie wirklich weg, sie darf es nie sein, sie erkämpft sich ihren Weg, ihre Bedeutung, ihre Funktion, ihre Tragweite. Immer.Wieder. Wie der lila blühende Schmetterlingsflieder, der entgegen allen Widrigkeiten mitten aus einer blanken Betonsäule wächst.

Hartnäckig: Schmetterlingsflieder in der Cowpergasse.

Langsam gehe ich den Parcours zu Ende (nicht ohne jede Kunst-Station nochmal eindringlich zu begutachten) und bleibe letztendlich beim Haifisch-Schiff stehen, schaue nach oben in die (mund-nasen-bedeckten) Gesichter unseres Publikums, das sich über die Kohlegasse treiben lässt, staunend und plaudernd, lachend auf das Schiff zeigend, auf dem es gleich ein Cellokonzert geben wird, danach eine Lesung, danach wieder ein Konzert und so fort…

Benjamin Jupé auf dem Schiff in der Handwerkergasse.

Ich gehe weiter und sehe, wie die Menschen runter auf den Erzplatz blicken, auf dem ich die TänzerInnen wähne. Ich vernehme leise Rufe und Laute der Überraschung, der Bewunderung und der Vorfreude. Wieder muss ich in mich hineingrinsen. Wir sind ein schöner Schmetterlingsflieder. Ein starker Schmetterlingsflieder. Unverwelkbar.

Teile des Ballettensembles auf dem Erzplatz.

Und so vergehen die nächsten vier Stunden in Windeseile. Immer wieder klingelt mein Telefon, hat jemand Blasenpflaster? Und hier rutscht eine Hose, ich denke jedoch nicht an die Sicherheitsnadel in meinem Rucksack, stattdessen geht der Beleuchtungsmeister und hat eine Idee. Ich blicke ihm hinterher, er geht vorbei an dem Cello-Schiff, gleich kommt er noch am Fagott-Trio lang und sicher auch am Schrottgleis, wo er die Szenen des Schauspiels passiert, hinter ihm der junge Mann aus der Statisterie, dessen Hose rutscht. Und all das mit dem Ziel, ein Kostüm mit einem Kabelbinder zu reparieren. Alle SpartenleiterInnen sind vor Ort, laufen permanent in die Runde, prüfen, beobachten, reagieren, packen an.

Statisterie und Publikum auf dem Weg durch den Parcours.

Immer wieder lasse auch ich mich über das Gelände der Völklinger Hütte treiben, beobachte aufmerksam die gespannten oder verzückten Gesichter des Publikums, die sich von Sébastien Jacobi dazu animieren lassen, eine Republik des Glücks zu gründen. Die Augen (und Ohren) werden groß, als Christiane Motter lauthals verkündet, sie sei eine Stripperin und keine Nutte. So. Das muss man auch mal klarstellen dürfen.

»Abstandskollektiv«: Kreatives Schreiben auf dem Picknickplatz mit der Theaterpädagogik.

Entgegen dem Strom gehe ich zurück durch den Schattenhof und vorbei an Vogelgezwitscher, erinnere mich an zwei Stunden zuvor zurück, wo eben hier gleichermaßen eindringlich wie (ver-)zweifelnd über die Zu- und Missstände der Politik debattiert wurde. Immer wieder ein Blick auf mein Handy. Alles funktioniert.

Ich gehe weiter Richtung Cowpergasse, einer der Orte, der den BesucherInnen im normalen Betrieb der Völklinger Hütte vorenthalten bleibt. An ihrem Ende bleibe ich stehen. Mozart.

Mozart in der Cowpergasse.

Die Sonne bricht durch die verzweigte Architektur der stählernd-betonesken Gasse, die Menschen halten Abstand und doch zusammen. Sie lauschen dem Flötenquartett. Einige mit direktem Blick auf die Musizierenden vor ihnen, andere lassen staunend ihre Augen durch den Raum wandern, nach oben zu den riesigen Rohren, Streben und Säulen. Andere fotografieren, unterhalten sich flüsternd, verstummen, lauschen wieder. Manche gehen weiter, wollen noch mehr sehen und hören. Am Ende: Applaus. Alles wie immer eigentlich. Eigentlich wie immer und doch alles anders.

4 Stunden später: Feierabend. Kostüme aus.

Ich denke zurück an die Pressekonferenz wenige Tage zuvor. Ob die Kunst Corona brauchte, ob »die Kunst« Corona als Chance sehe? Die Worte unseres Intendanten Bodo Busse kommen mir wieder in den Sinn: »Wir alle haben die Pandemie nicht gebraucht. Auch die Kunst nicht, um kreativ zu werden.« Ich stimme ihm zu. Wie am Mittwoch schon. Wir brauchten die Pandemie nicht. Niemand brauchte sie.

Aber die Kunst, die braucht man. Immer. Überall. Sie funktioniert.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert