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Wie ein Thriller

BW Was hat dich daran gereizt, dieses Stück zu inszenieren und zu choreographieren?

DV Für die Premiere der Produktion in Düsseldorf inmitten der Pandemie im Herbst 2021 haben wir ganz pragmatisch Stücke gesucht, die mit einer kleinen Besetzung auskommen. Deshalb haben wir das Stück dort auch in einer kleineren Orchesterfassung gespielt. Nichtsdestotrotz hat mich dieses Stück schon länger fasziniert, weil es wie ein gruseliger Thriller ist. Es passt gut in eine Zeit, in der von Kriminalgeschichten und True-Crime-Podcasts eine große Anziehungskraft ausgeht.

Bei der intensiveren Beschäftigung ist mir aufgefallen, wie stark das Libretto die Psychologie der Figuren betont. Das entspricht sehr meinem Zugang zum Regieführen, nämlich eine Welt aus den Figuren, aber auch aus ihren Widersprüchen zu erschaffen. Dabei kam die Idee auf, die Räume, die sich hinter den sieben Türen in der Burg befinden, nicht nur – wie im Libretto vorgesehen – über Lichtstrahlen zu erzählen, sondern ihnen eine »Seele« zu geben: durch die in der Burg gefangenen Seelen. Erst am Ende stellt sich heraus, dass die drei Tänzerinnen, deren Rollen zunächst geheimnisvoll bleiben, Blaubarts Gefangene sind.

BW Die Oper nimmt zwei Strömungen ihrer Entstehungszeit auf: die Psychoanalyse, also der Beschäftigung mit der Psyche eines bestimmten Menschen, und den Symbolismus, der von Konkretem abstrahiert. Was bedeuten die Türen vor diesem Hintergrund?

DV Die Türen stehen natürlich für Blaubarts dunkles Seelenleben, in das Judith Licht und Wärme zu bringen versucht. Aber en détail ist das gar nicht so klar, analog zur komplexen menschlichen Psyche. Sie sind in unseren Augen nicht einfach biographische Stationen Blaubarts, sie folgen keinem stringenten Programm. Wir sind daher schnell zu dem Schluss gekommen, dass jede Tür einer eigenen Logik gehorcht – Blaubart zeigt etwa bereits im Libretto manche bereitwillig vor, andere nicht. Wir haben versucht, die Essenz aus jedem Moment des Stücks herauszuziehen. Der Kontext des ganzen Stücks ergab sich dann aus den einzelnen Momenten heraus und nicht umgekehrt.

BW Wir sehen eine Paarbeziehung, die permanent zwischen Anziehung und Abstoßung changiert. Was treibt Blaubart und Judith an?

DV Eine besondere Herausforderung, vor allem natürlich für die Sängerin, ist Judiths erster Auftritt zu Beginn, denn wir wissen wenig über ihre Motivation, sich mit Blaubart einzulassen. Wir erfahren, dass sie zuvor einen Lebensplan hatte und heiraten sollte. Offenbar war ihr das nicht spannend genug, sodass sie mit Blaubart durchbrennt auf der Suche nach Intensität, wie es unser Bühnenbildner Markus Meyer treffend gesehen hat. Eine Art Angstlust fesselt sie an Blaubart, denn sie kennt die Gerüchte um ihn. Auch er selbst spricht das an und beruft sich damit im Stück auf das alte Blaubart-Märchen, demzufolge er seine drei ersten Frauen umgebracht hat – was bei Bartók ja anders ist: Hier versucht er sie zu »sammeln«, zu konservieren. Mit diesem Hinweis lässt er sie die Gefahr spüren und so beginnt ein Spiel aus Verlockung und Risiko.

Andererseits denke ich, dass Blaubart tatsächlich auf der Suche nach der wahren Liebe ist. Bei zu viel Nähe allerdings kehrt sich das um. Er hat offensichtlich eine Art Persönlichkeitsstörung, die ihn zum Täter macht, der die Frauen fängt und festhält: in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Das finale Bild von Eis und Kälte haben wir in Anspielung auf die Kryotechnologie gewählt, die durch Einfrieren versucht, ein Leben zu bewahren und bis in bessere Zeiten zu verlängern.

BW Judith könnte ja im Prinzip jederzeit gehen, wenn sie wollte. Wie siehst du ihr Verhalten in dieser Situation?

DV Lange konnte ich nicht nachvollziehen, warum sich Judith am Ende freiwillig in die Reihe der gefangenen Frauen einreiht. Sie gibt schließlich beim Machtpoker auf, ist völlig gebrochen und machtlos. Sie scheint sich ihm so sehr ausgeliefert zu haben, dass sie nicht mehr wegkommt.

Gerade das ist ein häufiger Widerspruch, wenn es um das Verhalten in toxischen Beziehungen geht: Menschen sehen keinen Ausweg, obwohl sie vernünftigerweise einfach die Koffer packen und die Beziehung beenden sollten. Stattdessen sind sie psychisch gefangen. Ab der Tür, hinter der sich der Garten befindet, geht es auch Judith so, weil Blaubart die Oberhand gewonnen hat. Am Anfang hat man das Gefühl, dass Judith die Seelenreise steuert; er vermittelt ihr dieses Gefühl, indem er sich selbst kleinredet. Damit entlockt er ihr immer stärkere Liebesbekundungen und macht sie umso abhängiger.

BW Wenn es sich um ein inneres Gefängnis handelt, wofür dann steht die Burg?

DV Die Burg ist eines der vielen Symbole, die das Stück aufruft. Für mich war es interessanter, von der Burg als konkretem Raum zu abstrahieren, um einen Seelenraum darzustellen. Im Stück wird das Gemäuer kaum beschrieben, es wird eher auf die ständige Dunkelheit hingewiesen. So wirkt die Burg auf Judith wie ein großes Geheimnis.

Neu ist in der Version, die wir hier für Saarbrücken erarbeitet haben, dass sich die Burg durch ein Tänzerkollektiv manifestiert. Man könnte die Tänzer als allegorische Gestalten bezeichnen, die keine konkrete Aufgabe im realistischen Sinn erfüllen, sondern analog zur Idee der Burg als Nicht-Ort abstrakte Wesen sind. Sie lassen die Ungreifbarkeit der Seelenzustände Gestalt werden.

BW Bartóks Musik ist eine Opernmusik, die sich sehr eng aus der ungarischen Sprache speist. Wie choreographiert man eine solche Musik?

DV Zunächst freue ich mich, in Saarbrücken endlich Bartóks große Originalbesetzung im Orchestergraben zu hören. Seine Musik erzählt, teils auch mit sehr spielerischen, fast folkloristischen Motiven, was unter der Oberfläche des Texts passiert. Außerdem schafft sie einen großen Gesamtbogen: Es gibt keine Unterteilung in Szenen, alles ist beständig im Fluss. Selbst Anfang und Ende der Oper markieren keine Zäsuren, sondern wirken, als hätte die Musik längst begonnen bzw. würde sich weiter fortsetzen. Ein geniales Stück!

Als Choreograph gibt es verschiedene Wege, Musik zu begegnen: Man kann die Musik in ihrer Struktur und Form im Tanz visualisieren, ihre Stimmung in tänzerische Bilder überführen oder ihr etwas ganz Eigenes, Komplementäres entgegensetzen. Ich habe in diesem Stück mit allen drei Wegen gespielt. Es gibt sehr konkrete Momente, in denen man die Musik zu sehen glaubt bzw. ihre Atmosphäre unmittelbar umgesetzt wird. Daneben existieren auch Passagen wie die des Tränensees hinter der sechsten Tür, in der sehr ruhige Musik auf hektische, schnelle Bewegungen der Tänzer stößt, die die latente Unruhe, aber auch Trauer der Szene zum Ausdruck bringen. Ebenfalls in der Choreographie wollte ich mir so die Freiheit bewahren, die Besonderheit eines jeden Moments ohne ein starres System darzustellen.

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»Look at the woman I’ve become« oder Wann ist eine Frau eine Frau?

Dein Debüt am Saarländischen Staatstheater ist eine Wiederbegegnung mit Hedwig. 2017 hast du in dieser Rolle dein professionelles Musical-Debüt in Frankfurt gegeben. Wie beschreibst du deine Beziehung zu dieser Figur?

Zum Artikel:  »Love creates something that was not there before« – Hedwig erzählt von der Liebe

Hedwig ist für mich musikalisch und inhaltlich eine der spannendsten Figuren im Musical. Mit all den Realitäten, die sie an dem Abend bespricht, gibt es so wahnsinnig viel Irreales. Da ist natürlich gleich die Frage nach ihrer Identität: Ist sie eine Frau? ist sie eine Dragqueen? Ist sie trans*? Oder nichts von dem? Eigentlich passt sie in diese ganzen Muster überhaupt nicht hinein, sondern sie ist eine Kunstfigur. Gleichzeitig trägt sie ganz viel Wahrheit in sich, indem sie so viel von sich preisgibt. Mich fasziniert die Annahme, dass sie jeden Abend eigentlich neu entscheidet, was sie in dem Konzert über sich erzählt und was nicht. Und mit dieser Dynamik spiele ich: Was ist wahr? Was ist übertrieben, vielleicht erfunden?

Welche neuen Seiten hast du an Hedwig kennengelernt?

Das habe ich mich neulich auch gefragt. Mache ich eigentlich alles genauso? Natürlich habe ich meine Art, Hedwig zu sprechen, mich auf diesen hohen Schuhen zu bewegen, meine eigene Körperlichkeit. Damals in Frankfurt war ich die Zweitbesetzung. Hier in Saarbrücken kann ich viel mehr Kreieren, meine eigene Hedwig erfinden. Ich muss gar nicht jede Frage über Hedwig beantworten können. Das kann jede Produktion und jede*r Zuschauer*in für sich neu. Die Dinge in einer Uneindeutigkeit zu belassen, macht es so spannend.

Hedwig zieht ihre »OneWoMan*Show« durch und doch setzt sie sich ständig ins Verhältnis zu den Anderen – den Anwesenden, und vielleicht noch entscheidender, zu den Abwesenden, besonders ihrer verlorenen Liebe Tommy.

Der Abend ist auch deswegen so besonders und unberechenbar, weil Hedwig relativ wenig mit den anderen Personen auf der Bühne agiert, sondern wichtiger ist das Spiel mit dem Publikum. Natürlich habe ich einen Text und die Inszenierung, aber das, was an diesem Abend passiert, ist ganz entscheidend von den Reaktionen der Zuschauer*innen abhängig. Das mag ich. Hedwig hat Spaß daran, die Episoden aus ihrer Vergangenheit wirklich erlebbar zu machen und das Publikum in ihre Geschichte reinzuziehen. »Das spielen wir jetzt mal eben zusammen nach,« übertrieben gesagt. Sie hat Spaß daran, den Personen aus ihrer Vergangenheit ihre Stimme zu geben, ihre einzigartige Körperlichkeit. Über Jahre hat sie sich eine Performance gebaut, um die eigene Geschichte einerseits künstlerisch zu verarbeiten. Andererseits gibt ihr das ein Gefühl von Sicherheit. Wie ein Panzer, der sich dann im Laufe des Konzerts nach und nach dekonstruiert. Sie könnte das ja alles viel blumiger malen. Aber sie geht immer dorthin, wo es weh tut. Es gibt Momente, an denen sie tiefer blicken lässt, dann aber schnell wieder versucht, Fassung zu gewinnen. Sie bricht zusammen, geht ab, zieht sich um und kommt strahlend wieder hervor. Alles wieder gut. The show must go on.

Welche Rolle spielen Kostüm, Perücke und Schminke? Ist das mehr Fassade oder wichtiger Teil der Identität?

Das ist Fassade, Selbstschutz, und gleichzeitig wichtiger Teil ihrer Selbstfindung. Hedwig steht zwischen Mann und Frau, ist aber ganz klar eine Fiktion mit dieser schiefgegangenen Operation. Sie klebt sich Brüste an und hat diesen »angry inch« da unten, alles Weitere wird ja gar nicht thematisiert. Das ist ja anders als bei transidentitären Menschen, die sich im falschen Körper fühlen. Für mich ist sie eigentlich nach wie vor ein schwuler Junge, dem es der Schritt in die Freiheit wert war, sein Geschlechtsteil zu opfern. Dabei ist die Fassade eine weibliche. Und wenn die Welt von ihr will, dass sie nur als »Frau« frei sein kann, dann zeigt sie der Welt, was eine »Frau« alles sein kann. »You’ll buy me the dress, and I’ll be more woman than a man like you can stand«, heißt es in ihrem Song »Sugar Daddy«. Dann bin ich mehr Frau, als eine Frau je sein könnte – diese Haltung habe ich mir für meine Hedwig vorgenommen. Sie ist kein Mensch für halbe Sachen. Diese Show erzählt aber auch etwas darüber, wie sie ohne Schminke, ohne Fassade, ohne die Anderen, vielleicht sogar ohne die Musik allein mit sich selbst glücklich sein kann.

Gelingt es ihr in der Musik näher bei sich selbst sein?

Die Musik ist ihre erste große Liebe. In der Musik kann sie sich mit all ihren Facetten ausdrücken, in ihre Songs hat sie alles von sich reingelegt. Dort hat sie eine Souveränität, die sie sonst nicht hat. Und wo sie die Kontrolle hat, da kann sie es auch ausstrahlen. An dem Konzertabend verliert sie diese eben immer wieder zwischen den Songs.

Musikalisch mäandert der Abend zwischen Glam-Rock, Grunge, Country und soften Rock-Balladen. Gibt es einen Song, in welchem du Hedwig am nächsten kommst? Einen Lieblingssong?

»Wig in a box«. Der Song ist musikalisch extrem vielseitig und macht dabei unglaublich Spaß. Eigentlich bringt er genau ihre Geschichte auf den Punkt. Sie muss den Weg, den sie eingeschlagen hat, weitergehen, um ihr Glück zu finden und erfolgreich zu sein, und sei es mit Make-Up und Perücke. Die Perücke ist ein Relikt aus einer anderen Zeit und wird zu einem wichtigen Symbol; sie kann sie immer wieder aufziehen und sich damit rausziehen aus dem Loch. Gleichzeitig ist das wie ein Bumerang: Sie kommt immer wieder dorthin zurück. »The origin of love« – »Bevor die Liebe entstand« ist auch ein zentraler Song, denn er erzählt uns, woher ihre Suche nach der anderen Hälfte kommt. Die Songs sind vielleicht eher noch ein Fenster zu ihrer Seele als die gesprochenen Texte.

Seit der Uraufführung von »Hedwig and the Angry Inch« sind 25 Jahre vergangen. Wie ist das Stück für dich im Hinblick auf seine politische Agenda gealtert?

Auch wenn queere Themen und Anliegen der LGBTQIA+-Community mehr ins Bewusstsein gerückt sind, gibt es noch viel Unsicherheit. Vielen, mich eingenommen, fällt es schwer, da genau zu differenzieren. LGBTQIA+ – was ist aktuell der richtige Ausdruck? Das verändert sich oder wird von Gruppe zu Gruppe anders definiert. Was versteht man jetzt unter Begriffen wie »trans« oder »nicht-binär«? Wie werden Grenzen gezogen? Und woher weiß ich, was das Selbstverständnis dieser oder jener Person ist? Andererseits nehme ich heute auch einen großen Verdruss gegenüber dem Thema war – ähnlich beim Thema Gendern. Das ist so ein »Hassfeld« geworden für Anti-LGBTQIA+ Einstellungen. Und das ist dramatisch. Ähnlich wie beim Umgang mit der Klimakrise. Da gibt es auch eine Anti-Haltung aus Angst, die eigene Komfortzone bedroht zu sehen. Hedwig ist ja keine typische queere Rolle bzw. sie ist als Kunstfigur vielleicht wenig beispielgebend. Vielleicht auch, weil ihr eigentliches Thema ist, wie man im Leben Liebe, Glück und das Gefühl von Ganzheit finden kann. Und das ist in erster Linie eine sehr universelle Sehnsucht.

Das Gespräch führte Stephanie Schulze

Fotos: Martin Kaufhold (Hauptprobe, 20.10.2023), Svenja Drewitz (Lukas Witzel)

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Endstation rotes Sofa

Wer kennt es nicht: Am Wochenende wünscht man sich, sich für die Mühen einer Arbeitswoche eine Belohnung zu erlauben. Was könnte besser passen, als ein Besuch im Theater? Dies gilt umso mehr, wenn es nach der Vorstellung die Möglichkeit gibt, sich nicht nur mit den ebenso »theaterstimmungserhitzten« Nachbar*innen aus dem Publikum zu unterhalten, sondern auch mit den Leuten, die wochenlang in die Marterie des Stückes ein- und mit einem fertigen Theaterstück wieder daraus aufgetaucht sind. Oder um es in drei Worten zu sagen: »Das rote Sofa«. Was zunächst nichts mit Theater zu tun haben scheint, ist am Staatstheater rundum bekannt: Bei dieser, nach ausgewählten Vorstellungen im großen Haus stattfindenden Veranstaltung, lädt Chefdramaturg Horst Busch dazu ein, Ensemblemitgliedern Fragen zu stellen und das Stück durch die Augen derjenigen zu sehen, die daran beteiligt sind.

Verena Bukal, Christiane Motter und Fabian Gröver in »Endstation Sehnsucht« (Foto: Jennifer Hörr)

In der Spielzeit 2023/2024 eröffnet Horst Busch diese Reihe von Theatergesprächen am Freitag, den 22. September nach der dritten Vorstellung von »Endstation Sehnsucht« und bittet dazu den Regisseur und neuen Schauspieldirektor des Hauses Christoph Mehler zum Gespräch. Nachdem also alle »Endstation Sehnsucht« – Nerds, die das Angebot gerne wahrnehmen wollen, im Schillerfoyer eingetrudelt sind und sich mit Getränken und Snacks versorgt haben, erzählt Mehler zunächst von seiner Motivation den Klassiker Williams´ als Eröffnungspremiere der neuen Spielzeit zu wählen.

Bereits hier kristallisiert sich der Blick des Schauspieldirektors aufs Theater allgemein heraus: Er versteht es als ein Vergrößerungsglas von dem, was in der Welt vorgeht, was die Menschen bewegt und womit sie zu kämpfen haben. Und diese Dinge sind meist – und bei Tennessee Williams im Besonderen – zeitlos. Schließlich hat und wird es immer Menschen geben, die sich fühlen, als ob sie anders als der Rest der Welt sind und auch das Pendeln zwischen einer Sehnsucht nach Magie und dem Festhängen in der schmerzlichen Realität ist kein Alleinstellungsmerkmal der Protagonistin Blanche.

Mehler stellt auch fest, dass er seinen Beruf zwar für das Publikum ausübt, aber natürlich die Inszenierung aus seinem persönlichen Verständnis des Stoffes und seinen Assoziationen und Wünschen resultiert – und auch aus denen der Darsteller, für die der Schauspieldirektor sehr wertschätzende Worte findet und deren »eigener Wahrheit« er Raum lassen will.

Ob es diese Einstellung ist, wegen derer Mehler so entspannt damit umgeht, als auch ein kritisches Feedback aus den Reihen der gesprächsfreudigen Zuschauer*innen kommt? Selbst wenn nicht, ist Mehlers Umgang damit genau richtig; schließlich darf und soll das »rote Sofa« mehr sein, als ein Platz für Selbstbeweihräucherung und Lobeshymnen.

Fabian Gröver und Gregor Trakis als Mitch und Stanley  (Foto: Jennifer Hörr)                                                                                   

Am 22. September ist es sogar kurz Bühne für ein klares Statement in Bezug auf Geschlechtergerechtigkeit und Gleichstellung, da Mehler nach Ansprechen der Figur Stanley klarstellt: »Wir müssen uns von solchen Männern befreien!« und betont, dass Stanley keinesfalls eine Vorbildfunktion oder eine das Männerbild prägende Stellung einnehmen darf. Weitere Themen im Laufe des Gesprächs sind die Lautstärke des Stückes, die Angst vorm Scheitern, der Einsatz des Bürger*innenensembles und der Rahmen, in dem das Stück neu interpretierbar ist.

Am Ende, nachdem selbst den enthusiastischsten Theaterliebhaber*innen die Fragen ausgehen, versucht eine Dame den Spieß rumzudrehen: »Möchten Sie denn noch was von Ihrem Publikum wissen?«. Eine Frau einen Tisch weiter schließt den Abend schließlich mit dem schönen Appell ab, öfter ins Theater zu gehen und auch mal ein Stück mehrfach anzuschauen, denn »das ist gut für das Theater und gut für uns selbst«.

Theater dürfe auch mal unangenehm sein, betont Mehler an dem Abend, von dem hier die Rede ist. Die Endstation des Abends, das »Rote Sofa« im Schillerfoyer ist dies jedoch nicht. Im Gegenteil, gerade nach so einem aufwühlenden Erlebnis, wie es »Endstation Sehnsucht« sein kann, tut es gut, sich mit seinen Fragen und Anregungen nicht alleine zu wissen.

Und um den Kreis zum Anfang hin zu schließen: Wochenenden sind ja bekanntlich sowieso für jede Geselligkeit zu haben. Damit: Bis bald, wenn vielleicht auch Sie Lust haben, ihren Fragen an »Theatermacher*innen« freien Lauf zu lassen. Lenke Nagy

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»Gute unbekannte Musik kann nur bereichernd sein.«

Das erste Kammerkonzert der diesjährigen Spielzeit am 2. Oktober im Rathausfestsaal war gleich in zweifacher Hinsicht etwas Besonderes: Zunächst war das Max-Bruch-Trio, bestehend aus Jörg Lieser, Marlene Simmendinger und Grigor Asmaryan, zu Gast, welches mit einer eher außergewöhnlichen Besetzung aus Klavier, Klarinette und Fagott hervorsticht. Zudem enthielt das Programm Werke von gleich zwei unbekannten Komponisten: Robert Kahn (1865 – 1951) sowie dessen Schüler Günter Raphael (1903 – 1960).

Was die beiden Komponisten vereint, ist nicht nur ihre mangelnde Bekanntheit selbst unter Musikliebhabern, sondern auch ihre jüdische Herkunft und ein von Antisemitismus und Emigration im Nationalsozialismus geprägter geschichtlicher Hintergrund. Von Günter Raphael waren gleich zwei Werke Teil des Abends: das Trio op. 70, eigentlich für Klavier, Klarinette und Cello, und die »Entensonatine«. Von Raphaels Lehrmeister Kahn bildete das Trio in g-Moll op. 45 Teil des Programms.

Günter Raphael                Foto: Ernst Hoenisch

Im Interview mit dem Klarinettisten Jörg Lieser, erzählt dieser von seiner Leidenschaft für gute Musik, vom Aufstöbern von Noten und seinem Wunsch danach, der Welt Zugang zu großartigen Stücken zu gewähren, die nie die verdiente Aufmerksamkeit erlangen konnten.

Jörg Lieser            Foto: Astrid Karger

Lenke Nagy: Wie sind Sie und das Max-Bruch-Trio auf die beiden jüdischen Komponisten gestoßen und was fasziniert Sie an ihren Kompositionen?

Jörg Lieser: Das Kahn-Trio kannte ich schon seit längerem vom Hören in der originalen Besetzung mit Cello und wollte es immer mal spielen.

Die Werke für Klarinette von Günter Raphael sind auf einer CD sehr gelungen und schön eingespielt von Dirk Schultheis.

Ich habe dann die Stücke dem Trio vorgeschlagen.

LN: Und wie kam Ihnen die Idee, diese Werke miteinander zu kombinieren? Schließlich ist es auch ein gewisses Wagnis, dem Publikum gleich zwei unbekannte Komponisten vorzustellen.

JL: Unser Trio existiert ja schon eine ganze Weile und ist auch keine gewöhnliche Instrumentenkombination. Das heißt, irgendwann hat man die bekanntesten Stücke, die in dieser Zusammenstellung möglich sind, alle schon mal gespielt. Wenn man dann – wie wir – dennoch gerne zusammen weitermusizieren möchte, dann muss man auf die Suche gehen nach ungewöhnlicheren Werken, die einen begeistern.

Bei Raphael ist es auch die Rhythmik, die mich – manchmal ostinatohaft oder jazzig – einfach mitnimmt und die Tonalität, die etwas an Hindemith erinnert, der auch, obwohl namhafter, zu selten gespielt wird.

Als ich dann bei weiteren Recherchen auch noch erkannte, dass es sich um Lehrer und Schüler (Kahn/Raphael) handelte, war klar, dass ich die beiden Trios gerne kombinieren wollte.

Robert Kahn                    Foto: Steffen Fahl

LN: Stimmt es, dass es die Noten von Raphaels Trio gar nicht mehr zu kaufen gibt? Wo liegt Ihrer Meinung nach der Grund dafür und wie konnten Sie an das Notenmaterial gelangen?

JL: Ich habe mehrere Notenhändler kontaktiert. Keiner hatte mehr ein Exemplar und es kam immer die Nachricht: Es wird vom Verlag nicht mehr gedruckt.

Das kann für mich nur ein wirtschaftlicher Grund sein. Das Stück ist zu unbekannt, es wird also nicht nachgefragt und nach der künstlerischen Ausgrenzung im Nationalsozialismus noch ein zweites Mal vergessen!

Ich habe daraufhin den Kollegen Schultheis kontaktiert und er besorgte mir umgehend die PDF-Dateien aus dem WDR-Archiv. Die Noten wurden dort eingescannt im Zuge der CD-Aufnahme. Er ist Klarinettist im WRD Funkhausorchester.

LN: Würden Sie sich wünschen, dass bei musisch-kulturellen Veranstaltungen mehr Augenmerk auf die Wahl von Werken unbekannter Komponisten gelegt wird?

JL: Ich bin tatsächlich immer auf der Suche nach Literatur abseits der Standardwerke, für mich selber, aber auch insbesondere für meine unterrichtende Tätigkeit.

Gute unbekannte Musik kann nur bereichernd sein und muss gewagt werden.

LN: Haben Sie einen persönlichen Bezug zum Thema Judentum und Antisemitismus?

JL: Nein. Ich fand zunächst einfach nur die Musik gut und spielenswert. Erst danach lernte ich die persönlichen Umstände der Komponisten kennen.

LN: Wie war das Feedback auf Ihre Zusammenstellung des Programms?

JL: Sehr gut! Das ist ja das Schöne bei den Kammerkonzerten, dass man sein Programm selbst zusammenstellen kann. Ich achte dann immer auf einen roten Faden, in diesem Fall eben durch die Lehrer-Schüler-Beziehung und das Judentum. Diesmal war das Publikum besonders begeistert und hat sich gefreut, neue Werke kennenzulernen. Meine Frau, die fast jedes meiner Programme gehört hat, fand dieses bisher am gelungensten. Jörg Lieser lacht.  Das wir uns da als Trio so steigern konnten, ist natürlich toll zu hören.

LN: Vielen Dank für das Gespräch!

Der verdiente Schlussapplaus                                      Foto:©Astrid Karger

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TERROR von Ferdinand von Schirach: Die Grundlage des Urteils

Die Bühne ist ein Gerichtssaal. Der Angeklagte, Lars Koch, wird des 164fachen Mordes beschuldigt. Den folgenden Tathergang hat er bereits gestanden: Als Pilot eines Kampfjets der Bundeswehr hatte er den Befehl, eine Passagiermaschine, die von Terroristen entführt wurde, zu eskortieren. Als das Flugzeug Kurs auf ein mit 70.000 Zuschauern besetztes Fußballstadion nimmt, schießt Lars Koch das Flugzeug, gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzen, ab. Seine Begründung: er habe die 70 000 Menschen im Stadion retten wollen und dafür die 164 Passagiere des Linienfluges opfern müssen. Ist dieses Motiv mit der im Grundgesetz Artikel 1 verankerten »Würde des Menschen« vereinbar, die vorgibt, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden dürfen?

Foto: Martin Kaufhold

Schon zu Beginn der Theatervorstellung erklärt die Vorsitzende die Zuschauer zu Schöffen, also Laienrichtern. Das Publikum soll nach Zeugenvernehmung und Plädoyers über die Schuld des Angeklagten richten. Je nach der Entscheidung der Zuschauer, ob Lars Koch schuldig oder nicht-schuldig gesprochen wird, nimmt der Theaterabend einen anderen Verlauf. Der Urteilsspruch richtet sich jeweils nach dem Votum des an diesem Abend anwesenden Theaterpublikums.

Im Laufe der Verhandlung wird die Rechtslage erläutert, das Grundgesetz zitiert, werden Zeugen vernommen. Mit Frau Meiser, der Nebenklägern, kommt eine Angehörige der Opfer zu Wort. Entsprechen die juristischen Vorgaben dem moralischen Empfinden des Publikums, das nun Recht sprechen soll? War der Absturz der Passagiermaschine wirklich die einzige Möglichkeit, das Leben der Stadion-Besucher zu retten? Wie kommt das Urteil der Zuschauer zustande?

In einem Interview äußerte sich der studierte Jurist Ferdinand von Schirach über die Wirkung seines Erfolgsstückes Terror: »Ich habe erlebt, wie Zuschauer nach der Aufführung im Foyer blieben, um weiter miteinander zu diskutieren. Alle redeten über den Staat, über unsere Gesellschaft und unsere Zukunft, die Verfassung wurde plötzlich lebendig. Das genau ist es, wofür ich schreibe, für diesen Moment, der alles ermöglicht.«

Foto: Martin Kaufhold

Die Saarbrücker Inszenierung in der Regie von Jonas Knecht unterstreicht die Künstlichkeit des Theaterabends, will nicht vorgeben, ein Gerichtverfahren zu sein. Angefangen bei dem blubbernden Wasserspender über das orchestral gesetzte Rascheln der Gerichtsakten, dem Klackern der Tastatur der Gerichtsschreiberin bis hin zu dem sich drehenden Zeugenstuhl werden akustische und optische Mittel eingesetzt, die den Spannungsbogen der Inszenierung rhythmisieren. Hinzu kommen die überdimensional projizierten Filmaufnahmen der Live-Kamera, die das psychologische Spiel der Schauspieler vergrößern und sie ganz nah an die Zuschauer bringen. Gleichzeitig manipulieren die Filmbilder die Blickrichtung, bestimmen den Fokus der Aufmerksamkeit. Ist der Appell der Vorsitzenden am Anfang des Theaterabends »ausschließlich über das (zu) urteilen, was Sie hier in der Verhandlung hören« nicht eine Illusion? Können wirklich »nur die Beweise, die wir hier erheben«, Grundlage des Urteils sein?

Ferdinand von Schirachs Stück ist eine Versuchsanordnung, ein Spiel, das perfekt durchkomponiert ein ethisch moralisches Dilemma präsentiert. Der eingebaute Entscheidungsprozess macht das Publikum zu Mitspielern und verhilft dem Stück zu seiner Popularität: Terror wurde bereits in elf Ländern auf fünf Kontinenten gezeigt.  Simone Kranz

Salzburger Rede

Unser einziger sicherer Halt, meine Damen und Herren, sind die Verfassungen der freien Länder. Auch wenn es langweilig klingt: nur ihre komplizierten Regeln, nur ihre Ausgewogenheit und Langsamkeit, ordnen unsere schwankenden Gefühle, sie lehnen Wut und Rache als Ratgeber ab, sie achten den Schwächeren, und am Ende sind sie es, die uns vor uns selber schützen.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich ein Theaterstück geschrieben habe, in dem das Publikum ein Urteil fällen soll, wenn ich doch gegen Volksentscheide bin. Theater und Literatur haben ganz andere Aufgaben als Politik und Justiz. Im Theater begegnen wir uns selbst, unseren Reflexen, Gefühlen, Gedanken. Wir ringen mit uns, sind hin- und hergerissen, wir streiten, zweifeln, verwerfen und suchen nach der richtigen Lösung. Das Theater wird so zu einem Forum, auf dem »res publica«, die öffentliche Sache, verhandelt wird. Die Abstimmung dient nur der Anregung, nicht mehr und nicht weniger.

(…) Kein Mensch, auch nicht der Wähler, ist im Besitz der Wahrheit, unsere Zukunft ist niemals alternativlos – im Gegenteil, sie ist offen. Wir können – und dürfen deshalb nur kleine Schritte gehen, jede Veränderung muss korrigierbar sein. Einfache Wahrheiten gibt es nicht, sie gab es noch nie, und Schwarm Intelligenz, zumindest in der Politik, ist am Ende nur ein weiterer Modebegriff für die hässliche Macht des Stärkeren. Tyrannei entsteht durch die Aufhebung der Gewaltenteilung. Und dabei ist es ganz gleichgültig, ob das – wie in der Oper – ein Tyrann selbst tut oder ob es der angebliche Wille des Volkes ist. Gerade in diesen aufgeregten Zeiten müssen wir das Recht gegen die Macht stellen.

Auszüge aus der Festrede von Ferdinand von Schirach zur Eröffnung der Salzburger Festspiel 2017

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IM KREISLAUF

Benjamin Wäntig Drei denkbar unterschiedliche Stücke an einem Abend – was sind die Herausforderungen bei der Erarbeitung, wenn man gleich drei Genres zu bedienen hat?

Wolfgang Nägele Eine der größten Herausforderungen war es für mich, zwischen den drei Stücken komplett umswitchen zu müssen und mit den Darsteller*innen, die mehrere Rollen in unterschiedlichen Stücken übernehmen, ebenso unterschiedliche Figurenprofile zu erarbeiten. Denn durch die Nebeneinanderstellung der Stücke müssen die Unterschiede der Genres umso deutlicher sichtbar sein: »Il tabarro« ist im Wesentlichen ein psychologisches Kammerstück mit drei Personen, »Suor Angelica« – zumindest in der zweiten Hälfte – quasi eine Soloperformance, »Gianni Schicchi« dagegen funktioniert als großes Ensemblestück, das sich durch Slapstick, Konstellationen vieler Figuren und Reaktionen aufeinander auszeichnet.

BW Trotz aller Unterschiede: Worin liegt für euch die Verbindung zwischen den drei »Trittico«-Einaktern? Wie geht ihr mit diesem besonderen Aufbau um?

Lisa Däßler Wir haben für die drei Stücke eine gemeinsame ästhetische Klammer gesucht. Das hatte zunächst auch pragmatische Gründe: Um nur eine Pause zu benötigen, müssen wir schnell von einem Bild ins andere wechseln können. So haben wir die Setzung getroffen, dass die drei Räume aus denselben Elementen bestehen, die in allen drei Stücken neu zusammengesetzt wiederkehren.

WN Die Stücke spielen in unterschiedlichen sozialen Schichten, teilen aber eine gemeinsame Welt. In »Gianni Schicchi«, das in der höchsten Klasse angesiedelt ist, sehen wir eine Inneneinrichtung, deren Bestandteile in »Tabarro« von Schrottsammlern aufgelesen werden, die den Wohlstandsmüll der Oberschicht verwerten. Die Stücke stehen so in einer Art Kreislaufbeziehung zueinander. Das haben wir auch durch kleine Verweise in den Stücken auf die jeweils anderen verstärkt. Beispielsweise tritt die Figur der Frugola, eine der Lumpensammlerinnen aus »Tabarro« noch einmal am Ende von »Gianni Schicchi« auf, wo sie die Objekte einpackt, die sie schon am Anfang gezeigt hat. Umgekehrt schleichen Rinuccio und Lauretta aus »Schicchi« als Amanti schon einmal kurz durch das »Tabarro«-Bild.

LD In unserer Bühnenwelt wird das Moment des Irdischen betont, selbst in dem eigentlich weltabgewandten Klosterbild. Wir befinden uns vielleicht nicht in einem streng logischen Kreislauf, aber alle Figuren dieser Welt müssen mit denselben Ressourcen umgehen.

BW Seht ihr auch thematische Verbindungslinien, die sich durch die Stücke ziehen?

WN Ja, ein gemeinsames Thema aller drei Stücke ist etwa die Leerstelle, die ein Verstorbener bei den Hinterbliebenen hinterlässt: Bei »Tabarro« und »Suor Angelica« ist es ein totes Kind, bei Gianni Schicchi ein gestorbener alter Verwandter. Die drei Stücken werfen jeweils entsprechend ihrer Genres ein anderes Schlaglicht auf dieses Thema.

LD Immer wieder wird daneben die Sehnsucht nach einer anderen Welt thematisiert: Giorgetta sehnt sich nach einem anderen, freieren Leben in Paris, das ihr weder ihr Mann Michele, noch ihr Geliebter Luigi ermöglichen können; die Nonnen sehnen sich nach der Außenwelt; die gierigen Verwandten in »Gianni Schicchi« sind nie zufrieden mit dem, was sie haben, sondern wollen immer noch mehr.

Der Mantel | Angelos Samartzis (Luigi) und Ingegjerd Bagøien Moe (Giorgetta) | Foto: Martin Kaufhold

WN Man könnte zusammenfassen: Es »menschelt« sehr in allen diesen drei Stücken. Wir sehen vielschichtige, berührende Figuren, die Puccini auch gerade in ihren Unzulänglichkeiten sehr genau gezeichnet hat.

BW Puccinis Opernästhetik ist stark dem Realismus verpflichtet, etwa strotzen seine Libretti vor detaillierten Regieanweisungen und kleinteiligen Aktionen. Empfindet ihr das bei der szenischen Umsetzung als ein Korsett, eine künstlerische Einschränkung?

WN Es stimmt, dass man weniger Freiheiten hat als bei anderen Komponisten. Ich finde es jedoch spannend, angesichts der Dichte an vorgegebenen Parametern eigene Lösungen zu finden. Wenn jemand »Reich mir die Flasche« singt, muss man sich bewusst entscheiden und begründen, wenn man szenisch etwas anderes macht. Die Herausforderung Puccini anzunehmen, heißt, sich an seinen Vorstellungen abzuarbeiten.

LD Ich habe versucht, zweigleisig zu fahren: auf der einen Seite Räume zu schaffen, die realistisch für Puccinis Spielsituationen funktionieren, auf der anderen Seite aber auf einer abstrakteren Ebene die erwähnte ästhetische Verklammerung ermöglichen.

Gianni Schicchi | links: Peter Schöne (Gianni Schicchi); rechts: Ensemble | Foto: Martin Kaufhold

Irina Spreckelmeyer Während sich das Bühnenbild mit dem Verlauf der drei Stücke kontinuierlich verändert, wollte ich im Kostümbild klar drei verschiedene Welten erzählen, die in diese Räume getragen werden. Ich sehe sie aber nicht realistisch im engeren Sinn, denn sie haben eine eigene Künstlichkeit oder ästhetische Überzeichnung. Die Arbeiterkluft in »Tabarro« ist keine realistische Milieustudie, zitiert höchstens ein paar konkrete Elemente; auch die Schickeria-Outfits à la Gucci in »Gianni Schicchi« zitieren nur einzelne Stücke und Stoffe. Daneben kommen analog zum Kreislaufgedanken im Bühnenbild bestimmte Elemente immer wieder vor, wie etwa die rote Strumpfhose.

BW Auch dein Nonnenhabit hat ja nicht die Kleidung eines konkreten Ordens zum Vorbild …

IS An dieser Klosterwelt interessiert uns vor allem die Vorstellung von Eingesperrtsein, von Enge, von Bestrafung. Die Kostüme der Nonnen sind eine vereinheitlichende Uniform, gleichzeitig aber auch körperbetont – anders als reale Ordenskleider – und bringen so doch Individualität zum Ausdruck. Darunter verborgen tragen sie rote Strümpfe als Zeichen ihrer geheimen Sehnsüchte. Außerdem war uns für den Orden die Ausstellung von Hierarchie wichtig.

Schwester Angelica | Valda Wilson (Suor Angelica) | Foto: Martin Kaufhold

WN Ich misstraue ja der vermeintlichen Idylle dieses Klosters, die Puccini anfangs in so liebliche und zärtliche Töne setzt. Dass dreimal im Jahr hereinscheinende Sonnenstrahlen und Johannisbeeren den Höhepunkt im Klosterleben darstellen, sagt viel über Verdrängung und Sublimierung der eigenen Wünsche der Nonnen aus. In diesem Kloster gibt es ein starkes System der Überwachung, die Nonnen sind ohne Privatsphäre zusammengesperrt – nicht unbedingt ein positiv konnotierter Ort. Und so verhalten sie sich auch: In dem Moment, als Angelica die Todesnachricht ihres Kindes empfängt, findet keine Solidarität seitens der anderen Schwestern statt; niemand fängt sie in ihrer Trauer auf.

LD Wir haben lange über das Finale von »Suor Angelica« mit Angelicas Wundererscheinung nachgedacht, die bei uns gerade nicht sichtbar in äußeren Zeichen, sondern nur in ihrem Kopf stattfindet, dadurch aber umso härter und eindringlicher wirkt.

BW Nach dem einheitlichen Nonnenorden tritt in »Schicchi« eine vielköpfige Verwandtschaft auf, deren Mitglieder in der rasanten Komödie schnell austauschbar wirken können. Wie gewinnen sie individuellere Züge?

IS Eine Verwandtschaft setzt sich ja immer aus verschiedenen Typen und Charakteren zusammen. Das Libretto enthält in diesem Fall nicht nur allgemeine Charakterisierungen bereit, sondern sogar konkrete Altersangaben. Mit diesen Informationen und dem, was unsere Darsteller*innen mitbringen, habe ich versucht, möglichst unterschiedliche, überzeichnete Figuren zu kreieren – eine breite Form von »Bekleidungslandschaft«, damit man alle klar voneinander unterscheiden kann. Gleichzeitig sind viele Details wie Zitas übergroße Brille oder Marcos extravagante Frisur auch Spielangebote, die unsere Darsteller*innen toll nutzen.

WN Wir haben auch viel über Biografien der Figuren gesprochen, die über das eigentliche Stück hinausgehen. Gerade die zwei Paare Ciesca–Marco und Nella–Gherardo können etwas indifferent geraten. Erstere sind bei uns ein neureiches Yuppie-Paar aus der Kleinstadt, letztere ungleicher: Sie baut einen Erwartungsdruck auf, dem er nicht gerecht werden kann. An solchen Geschichten im Hintergrund zu arbeiten, hat uns allen viel Spaß gemacht.

Gianni Schicchi | Doris Lamprecht (Zita); Algirdas Drevinskas (Gherardo); Peter Schöne (Gianni Schicchi); Bettina Maria Bauer (Nella); Carmen Seibel (La Ciesca) und Max Dollinger (Marco) | Foto: Martin Kaufhold

BW Wir haben zwei Stücke über den Tod, den die Figuren nicht verarbeiten können, die Komödie aber endet mit einem Generationenwechsel und der Aussicht auf eine Zukunft. Auch der Puccini von 1918 stand künstlerisch zwischen diesen zwei Polen: der großen Tradition der italienischen Gesangsoper und dem nostalgischen Bewusstsein darüber, dass die an ein Ende gelangt war, und der Bewunderung der längst aufgekommenen Moderne. In »Il trittico« finden wir beides …

LD Dass Puccini am Ende sogar die vierte Wand einreißt, indem er Schicchi seinen Schlussmonolog ans Publikum richten lässt und so das Spiel als solches entlarvt, ist für seine Zeit tatsächlich etwas Besonderes.

WN Einerseits kam Puccini aus seiner Tradition nicht heraus, wollte es auch nicht unbedingt, aber versuchte trotzdem einen künstlerischen Spagat: Der Einbau von Alltagsgeräuschen oder auch das ironische Selbstzitat aus »La Bohème« in »Tabarro« sind deutliche Zeichen, dass er sich der allgemeinen und künstlerischen Umwälzungen seiner Zeit bewusst war und sich künstlerisch immer weiterentwickeln wollte.