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Die lieben Eltern und das liebe Geld

Eine Videoeinführung zu »Die lieben Eltern«
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Was Oscar Wilde mit Hyaluron zu tun hat – Journal einer FSjlerin

Was haben Instagram, Pflegecremes und Fitnessstudios gemeinsam? Gut, ich gebe zu – das war einfach. Alle drei haben in irgendeiner Form mit dem zu tun, dem ich mich in diesem Artikel widmen möchte: der gesellschaftlichen Auffassung von Schönheit, dem Selbstoptimierungswahn und (ungesunden) Körperbildern.

Man könnte meinen, dass der Hype um diese Thematiken gegenwärtig seinen historischen Höhepunkt erreicht hat. Und tatsächlich finden sich eine Vielzahl von Ereignissen aus dem 21. Jahrhundert, die diese These stützen. Um mal einige Beispiele zu nennen: 2002 wurde Botox offiziell als Einsatzmittel für kosmetische Zwecke zugelassen. 2006 wurde die erste Staffel von Heidi Klums Castingshow Germanys next Topmodel ausgestrahlt. 2011 wurde Snapchat, die App die neben lustigen Hundezungen auch eine Menge von vermeintlich optimierenden und hautglättenden Filtern beinhaltet, gelauncht.

Doch ist der Wahn, sich einem gesellschaftlichen Bild von Schönheit anpassen zu wollen, tatsächlich ein Phänomen der Gegenwart? Ist er nicht vielmehr seit Anbeginn der Zeit ein Impuls, für den die Menschheit bereit ist hohe Preise zu zahlen? Dies scheint nicht nur im Hinblick auf bei archäologischen Ausgrabungen gefundene Spiegel oder jahrzehntealte Diätkonzepte schlüssig, sondern auch bei einem Blick auf die Literaturgeschichte, in der sich Schönheitsideale und die Manipulation des eigenen Äußeren wie ein roter Faden durch eine Vielzahl von Werken ziehen, wie z.B. in Schneewittchen, dem Märchen, in dem Schneewittchens Stiefmutter die Prinzessin umbringen lassen möchte, da diese »tausendmal schöner« ist als sie.

Der Kostümentwurf für Basil Hallward (©Zana Bosnjak)

Im November 2023 hat in der Alten Feuerwache eine vom Regisseur Alexander Nerlich gefertigte Bühnenadaption von Oscar Wildes Roman Das Bildnis des Dorian Gray Premiere gefeiert. Und auch darin geht es um das Thema Sehnsucht nach ewiger Schönheit und Jugendlichkeit. Dem Protagonisten Dorian Gray bietet sich die Möglichkeit, diese Sehnsucht zu stillen, als sein Freund, der Maler Basil Hallward, ein Portrait von ihm anfertigt. Dorians Wunsch, das Bild möge an seiner Stelle altern, damit er niemals den Verfall seiner eigenen Attraktivität zu spüren bekommen muss, wird auf unerklärliche Art und Weise erhört. Doch zu spät findet der junge Mann heraus, womit er sein neues Leben bezahlen muss: Er wird zum Narzissten, Heimlichtuer und schließlich sogar zum grausamen Mörder.

Die erste Veröffentlichung von »Das Bildnis des Dorian Gray«

Ist die Moral der Geschichte also, dass es verwerflich ist, sich Schönheit zu wünschen? Falls ja, legt Wilde sich mit dieser These mit einer Vielzahl von Menschen an – um nicht zu sagen, mit allen. Denn der Wunsch nach vermeintlicher Schönheit, diesem Begriff, der mir mit zunehmendem Reflektieren immer ungreifbarer zu werden scheint, ist so tief in uns und der Gesellschaft verankert, dass man sich fragen muss, ob es überhaupt noch möglich ist, sich von dem Ziel möglichst »schön« zu sein, zu distanzieren. Denn selbst wenn man in seinem Leben noch keinen einzigen Gedanken an sein Äußeres verschwendet haben sollte, ist der gesellschaftlich genormte Begriff von Schönheit so eng mit Erfolg und Privilegien verknüpft, dass der Wunsch sie zu erlangen in Wünschen nach einer erfolgreichen Karriere, Familiengründung oder einer gehobenen Position in der Gesellschaft aus meiner Sicht inkludiert ist.

Wer Karriere machen will, hat laut Studien von z.B. dem »Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit« einen Vorteil, wenn er oder sie als attraktiv und ansehnlich gilt. Auf Dating-Apps wie Tinder wird ein möglicher Partner/eine mögliche Partnerin nur aufgrund des Äußeren innerhalb von Sekunden abgelehnt. Und dem gängigen Schönheitsideal entsprechende Menschen erhalten sogar bessere Noten, ein hilfsbereiteres soziales Umfeld und mildere Urteile in Gerichtsprozessen.

Der Schönheitswahn ist also ein gesellschaftliches Phänomen und im kollektiven Gedächtnis internalisiert. Interessant, dass wir ihn dennoch als verwerflich und unsympathisch brandmarken und die Maxime gilt: Gib dir Mühe schön zu sein, aber zeig niemandem wie viel Arbeit es dir wirklich bereitet. Und eben jene Maxime ist, wie schon angedeutet, kein neues Phänomen – erinnern wir uns doch mal an umschminkte Augen im alten Ägypten, wallende Lockenperücken im Barock, die Erfindung des Korsetts und ähnliches. Auf der einen Seite beängstigend, da es unmöglich erscheint, dass unsere Gesellschaft jemals ihre oberflächliche Beurteilung des Menschen aufgibt.

Auf der anderen Seite ist der Gedanke beruhigend, dass es vollkommen menschlich ist, sich von Schönheitsidealen unter Druck gesetzt zu fühlen, da die gesellschaftliche Erwartungshaltung, in sein Äußeres investieren zu müssen, Jahrhunderte Zeit hatte zu wachsen. Außerdem erinnert einen die Tatsache, dass innerhalb der letzten Jahrzehnte permanent unterschiedliche Körperformen als Ideal angepriesen wurden, daran, dass auch die aktuell geltenden vermeintlichen Schönheitsmerkmale nur eine Modewelle sind, die in einigen Jahren vielleicht schon von neuen abgelöst werden.

Wozu also einem Ideal nachrennen, das sowieso unerreichbar und ständig im Wandel ist? Leichter gesagt als getan, aber vielleicht können wir versuchen, uns diese Frage in Zukunft vor Augen zu halten, wenn wir mal wieder an unseren scheinbaren Makeln verzweifeln.

Der Kostümentwurf für Sibyl Vane (©Zana Bosnjak)

Doch zurück zu Dorian Gray: Der Klassiker aus dem Jahr 1890 bleibt thematisch zeitgemäß, was sich auch in der Inszenierung in der Feuerwache zeigt. So lassen sich zum Beispiel die Kostüme, entworfen von Zana Bosnjak, weder in eine Epoche, noch in einen Stil, ein Land oder eine Gesellschaftsschicht einordnen. Sie dienen eher dazu die Zeitlosigkeit der Handlung zu unterstreichen und können gleichzeitig Mittel zur Abstrahierung der Geschichte werden: Ist es nicht auch möglich, dass Komponenten der Handlung sich nur in Dorians Kopf abspielen? Sind nicht einige der Figuren nur eine Projektionsfläche von Teilen seiner selbst?

Auch das Bühnenbild von Thea Hoffmann-Axthelm, bestehend aus einem vollgestellten Dachboden mit einem leuchtenden Quadrat in der Mitte und einem beweglichen Plafond, ist abstrakt gehalten und kann als Stellvertreter für das Chaos in Dorians Psyche verstanden werden. Die Atmosphäre, die bei diesem Ausflug in Dorians Gedankenwelt herrscht, wird maßgeblich beeinflusst von der Musik, die Malte Preuss beigesteuert hat. Sie wird im Laufe des Stückes immer mystischer und bedrohlicher, sowie auch Dorian sich vom Unschuldslamm zur Gefahr für sich und seine Mitmenschen entwickelt.

Trotz all dieser künstlerischen Mittel versucht Nerlichs Inszenierung nicht mit dem Finger auf eine Kernaussage zu zeigen oder den Zuschauer*innen eine Moralpredigt zu halten. Vielmehr darf und soll jeder für sich merken, welche Gedanken das Werk in einem anstößt. Dieser Artikel konnte vielleicht einen kleinen Einblick in die meinen geben.

Ach ja, seid nett zu euch und euren Körpern. Kein Schönheitsideal dieser Welt ist eine Gefährdung eurer psychischen sowie physischen Gesundheit wert. Zum Schluss noch ein Fun Fact: Tatsächlich haben Forscher*innen des »British Medical Journal« herausgefunden, dass Menschen, die regelmäßig Kulturveranstaltungen beiwohnen, eine höhere Lebenserwartung haben! Wenn das mal nicht noch ein Grund mehr ist, ins Theater zu gehen.

Lenke Nagy

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Geschenktipps aus der Dramaturgie

Chefdramaturg Horst Busch wünscht sich eine intensivere Reflexion über Rituale:

Das Buch »Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart« des Philosophen Byung-Chul Han ist eine wunderbare Einladung, über Rituale und Festzyklen wie Weihnachten nachzudenken, die leider mehr und mehr »zu Erholungspausen degradiert« werden. Genau die richtige Lektüre für beschauliche Festtage!

Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale

Operndramaturg Benjamin Wäntig empfiehlt einen Titel, der eine reizvolle Spekulation anstellt:

Was wäre, wenn Lenin die kommunistische Revolution nicht in St. Petersburg, sondern in seinem Züricher Exil ausgerufen hätte und die Schweizer Sowjetrepublik sich fortan mithilfe ihrer Kolonien in Afrika in einem ewigen Krieg gegen das faschistische Deutschland befände? Christian Krachts 2008 erschienener Roman »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« ist Groteske und Dystopie in einem. Für mein Empfinden wirkt Krachts unterkühlte Prosa mittlerweile noch aktueller, verstörender, unheimlicher. Für alle, die in verunsichernden Zeiten weitere Verunsicherung suchen.

Christian Kracht: Ich werde da sein im Sonnenschein und im Schatten

Ballettdramaturg Klaus Kieser hat den 50. Todestag eines weltberühmten Choreographen im Blick:

1973 starb John Cranko, der Begründer des legendären Stuttgarter Ballettwunders, dessen Handlungsballette nach wie vor zum Repertoire ungezählter Kompanien rund um den Globus gehören. Anlässlich seines 50. Todestags erinnern gleich zwei Publikationen an den Meister: eine ausführliche, lebendige Biographie des ehemaligen Stuttgarter Tänzers Ashley Killar (»Cranko. The Man and his Choreography«) und der vom Stuttgarter Ballett herausgegebene Erinnerungsband »John Cranko. Tanzvisionär« mit Beiträgen von zwanzig Weggefährten des Choreographen.

Das Stuttgarter Ballett: John Cranko
Ashley Killar: Cranko

Und unsere Dramaturgie-FSJlerin Lenke Nagy hat ein Faible für Eishockey:

In Björnstadt dreht sich von jeher alles um die eine gemeinsame Leidenschaft: Eishockey. Die vielversprechende Jugendmannschaft soll dem fast vergessenen Ort zu wirtschaftlichem Aufschwung und nationalem Ruhm verhelfen. Doch als ein Mädchen vergewaltigt wird, wird der Zusammenhalt der Björnstädter auf die Probe gestellt. Eine bewegende und sprachlich herausragende Winterlektüre ist Fredrik Backmans »Kleine Stadt der großen Träume«  – auch geeignet für alle, die sich mit Eishockey (noch) nicht auskennen!

Frederik Backmann: Kleine Stadt der großen Träume

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Fragen an den Schauspieler Raimund Widra

Lieber Raimund, mittlerweile spielst Du  »Die Leiden des jungen Werther« schon im siebten Jahr in Saarbrücken. Was bedeutet Dir diese Produktion?

Die Arbeit ist bereits 2014 entstanden und ich schätze, dass ich bald 100 Vorstellungen gespielt habe, soviel wie von keinem anderen Stück. Vor jeder Vorstellung gehe ich für mich einmal durch den Text. Ich habe diese Worte also schon unzählige Male gesprochen und es bereitet mir immer noch große Freude. Wenn ich dann eine Vorstellung spiele, versuche ich jedes Mal aufs Neue, kleine Nuancen im Text anders zu erspielen und die Gedanken auf unterschiedlichem Wege zu greifen. Die Tatsache, dass ich bereits so viele Vorstellungen gespielt habe, gibt mir die Freiheit, dabei spielerisch etwas zu wagen, ohne genau zu wissen, wohin es mich an diesem Abend treibt. Ich kann mich darauf verlassen wieder auf Spur zu kommen, wenn ich mal aus der Kurve fliegen sollte. Und dennoch ärgere ich mich jedes Mal, wenn mir eine Passage verrutscht. Das ist in diesen Momenten aber eher eine Frage fehlender Konzentration, als des zu hohen Risikos – das zahlt sich meist aus!

Der Regisseur Maik Priebe hat diese Inszenierung schon am Theater Magdeburg mit Dir erarbeitet. Was hat sich für Dich von der Spielstätte in Magdeburg im Vergleich zur Alten Feuerwache in Saarbrücken verändert?

Ich habe das Stück in Magdeburg in drei recht verschiedenen Spielstätten gespielt, auf einigen Gastspielen und hier in Saarbrücken, neben der Feuerwache und der sparte4 auch schon einmal auf der Vorbühne im Staatstheater. Der Abend hat sich immer gut anpassen können. Ursprünglich wurde er für ein Foyer konzipiert und war mit ungefähr 60 Plätzen auf einer kleinen Tribüne eine ziemlich intime Angelegenheit. Das ändert sich natürlich, wenn der Saal größer wird. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass sich auch die kleinen, schwebenden Momente in einem großen Raum gut einlösen, vor allem, weil sich zum Ende hin die formalen Mittel der Inszenierung so auf die Sprache und die Emotion fokussieren.

Du kannst die Vorstellung »Die Leiden des jungen Werther« auch in Englischer Sprache spielen. Wie kam es dazu?

Grund dafür ist ein Gastspiel in der Ukraine gewesen. Das war 2015. Ich spreche weder Ukrainisch, noch Russisch, aber wir wollten den Abend möglichst vielen Zuschauern zugänglich machen. Ich habe dann vorgeschlagen, es auf Englisch zu spielen. Ich hatte das Stück zu diesem Zeitpunkt schon oft auf Deutsch gespielt und fühlte mich allgemein im Englischen recht sicher, weil ich mal Austauschschüler in England war (die Hybris eines jungen Schauspielers). Der Werther ist natürlich auch ins Englische übersetzt und die Textfassung ließ sich leicht übertragen. Wir mussten die Textstellen ja nur in der Übersetzung wiederfinden. Für das eine oder andere Extempore, das nicht von Goethe stammt, habe ich selbst nach Entsprechungen gesucht. Das Auswendiglernen mit Unterstützung von Muttersprachlern war dann eine Fleißarbeit. Bei einem zweiten Gastspiel in der Ukraine, diesmal in Saporischschja, habe ich aber auf Deutsch gespielt, wieder mit Ukrainischen bzw. Russischen Übertiteln. Ich würde mich sehr freuen, wieder dort spielen zu können.

Der Regisseur Maik Priebe, der mittlerweile Schauspieldirektor in Neustrelitz und Neubrandenburg ist, hat Dich mit dieser Produktion eingeladen. Wie ist es für Dich mit dieser Arbeit auf Gastspiel-Reise zu gehen?

Ein Gastspiel ist immer eine besondere Sache. Die Gegebenheiten sind einem fremd und es gibt wahrscheinlich ein paar Unwägbarkeiten auszuräumen, meist in sehr begrenzter Zeit. Das ist eine schöne Herausforderung. Außerdem kennen einen die Zuschauer nicht. Ich bin ja nun schon eine ganze Weile hier und wer, wie viele unserer Zuschauer*innen, regelmäßig kommt, wird kaum an meiner Nase vorbeigekommen sein. Es gibt hier für mich eine gewisse Aura des Vertrauten, wenn ich das mal etwas schwammig formulieren darf. Aber der vollkommen unvoreingenommene Publikumsblick, der mich beim nächsten Gastspiel erwarten wird, hat auch einen großen Reiz. Außerdem freue ich mich, dass Maik Priebe mich an seine neue Wirkungsstätte eingeladen hat, denn ich fühle mich ihm, heute wie damals, freundschaftlich verbunden.

Die Fragen stellte Horst Busch, Chefdramaturg

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Märchen, Mythen, Meuterei

»Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön…« – für die Bewohner eines Städtchens am Deister wohl eher nicht: Zur Schuldentilgung des Landes Niedersachsen wurden sie samt Infrastruktur verkauft und in Containern auf ein Frachtschiff geladen. An einem noch unbekannten Ort soll die Gemeinde als Freizeitpark wiederaufgebaut und begehbar gemacht werden.

Nicht lange, und der Lagerkoller setzt ein. Mitten auf dem Ozean ist man einander hemmungslos ausgeliefert. Dem Gegenüber, und vor allem sich selbst. So manche Beziehung, so manche Geschichte hätte man lieber zurückgelassen, nun drängt sie sich auf. Jakob Noltes Text zeigt das Miteinander, das Reden über das Reden. Was gibt man von sich Preis, was verbirgt man, was projiziert man auf den anderen? Man verrät mehr über sich selbst, als einem lieb ist – wenn man genau hinhört und, in Thorsten Köhlers Inszenierung, hinsieht. Gemeinsam mit Grigory Shklyar (Video und Bildregie) schafft er eine Bildwelt konzentriert auf die nonverbale Reaktion. Nur Hände, Beine, der Körper im Bild, nicht das Gesicht, gerät jedes Zittern der Hände, jedes Ballen zur Faust, unter das Brennglas. Das Ungesagte und das Gesagte verschmelzen.

»…denn da kann man fremde Länder und noch manches andre sehn«, geht das Lied weiter. So manch einer auf dem Frachtschiff sehnt sich aber eher nach der Heimat, nach dem Bekannten. Über den Tellerrand schauen lässt einen allzu oft über das Bisherige und Gewohnte grübeln. Wie geht man mit dem Neuen, mit dem Fremden um? Was ist typisch deutsch? Sonst sind es doch »die Deutschen«, die als Touristen andere Länder und Kulturen bestaunen, die vom Erbe des Kolonialismus bis heute profitieren. Und jetzt wird man verkauft? Im Freizeitpark ausgestellt? Die Ausstattung von Justus Saretz spielt genau damit – mit kultureller Aneignung, mit Alltagsrassismus, mit Vergangenheitsbewältigung. Und mit dem »typisch Deutschen«, mit dem Bild, das man von sich selbst hat, wie man sich gerne präsentieren möchte, und mit dem Bild, das sich die anderen machen.

Bühne und Kostüme schaffen zugleich eine geheimnisvolle Welt, fast mythen- und märchenhaft. Auch Prolog und Epilog des Stücks erinnern an ein Märchen, und bei Thorsten Köhler erklingt »Scheherazade« von Nikolai Rimski-Korsakow dazu. Man erzählt sich Geschichten, vielleicht eben auch Märchen, über sich selbst und die Vergangenheit, so eingepfercht auf einem Schiff. Und dieses Schiff wird, auch ganz Märchen, auf einmal zum Geisterschiff. Die Investorin möchte lieber ein südamerikanisches Pueblo als eine niedersächsische Kleinstadt. Eine Rückführung ist zu teuer. Ohne Kapitän und Crew treibt das Schiff auf dem Ozean, und die Passagiere beginnen zu meutern. Verkauft und nicht abgeholt, orientierungs- und ziellos, frustriert, misstrauisch. Wie wird ihre Geschichte weitergehen, wer wird sich ihrer annehmen, und wo wird man stranden? Ihre Ängste manifestieren sich in einer geheimnisvollen Gestalt, die jede*r gesehen haben will, die aber keiner genau beschreiben kann. Eine mythenhafte Gestalt des Ozeans.

Erlösung naht durch eine Cola, trinkbarer Konsum. Die süßen Perlen des Softgetränks lassen einen Heimat, Herkunft und die eigene Geschichte vergessen. Der Mensch ist längst Ware geworden, nutzbar, verfügbar, sein Schicksal der Ökonomie unterworfen.  »Ein Gespenst geht um in Europa. Es heißt Gute Laune.« Gelenkt von der merkwürdigen Sehnsucht, stets glücklich zu sein, irren die Glücklichen und die Traurigen über die Meere und durch ihre Gedanken. Eine melancholische, verdichtete Suche danach, was das Leben lebenswert macht, was den einzelnen ausmacht und was – und vor allem: wer – davon übrigbleibt im Wechselspiel mit Befindlichkeiten, Wirtschaft, Politik und Macht.

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Die Freiheit des Erscheinens

Gedanken zu »Das Bildnis des Dorian Gray«

11891 erschien Oscar Wildes einziger Roman »Das Bildnis des Dorian Gray«. Der Roman, der zunächst als Forstsetzungsgeschichte in »Lippincott`s Monthly Magazine«  herauskam, veränderte, wie sein Übersetzer Lutz-W. Wolff im Nachwort schreibt, »die englische Literatur des 19. Jahrhunderts nachhaltig«. In einer Bühnenadaption von Regisseur Alexander Nerlich ist »Das Bildnis des Dorian Gray« nun in der Alten Feuerwache zu sehen. Der folgende Text von Simone Kranz ist collagiert mit (in Großbuchstaben gesetzten) Notizen von Alexander Nerlich.

»Ich verkünde die Wahrheiten von Morgen«, lässt Oscar Wilde Lord Henry Wotton, einen der Protagonisten von »Das Bildnis des Dorian Gray« sagen. Die Figur, vielleicht ein Alter Ego des Autors, scheint Recht zu haben. Die Geschichte des jungen Dorian, dessen Jugend und Schönheit jedermann in Bann schlägt und der Macht über andere erlangt, indem er sich zur Projektionsfläche für ihre Wünsche und Sehnsüchte macht, zu einer Abfolge von Bildern stilisiert, scheint der Welt der Selfies und Instagram Accounts entsprungen zu sein.

Aber der Reihe nach. Schon zu Beginn des Romans steht die Erschaffung eines Bildes. Es ist der Maler Basil Hallward der Dorian portraitiert und in ihm eine Inspirationsquelle sieht, die seiner Kunst radikal erneuert. Basil stilisiert Dorian zur utopisch reinen Seele, die gleichzeitig »einen schwarzen undurchdringlichen Hintergrund« habe. Das verwirrt den jungen Dorian – als Waise bei seinem Großvater dem strengen und kaltherzigen Lord Kenzo aufgewachsen, hat er keinerlei Selbstwertgefühl, er sehnt sich nach Zuwendung und einer stärkenden Außenbindung. Das macht es auch Lord Henry Wotton leicht, der Dorian in Basils Atelier trifft und der in ihm »weißen zu allem formbaren Marmor« sieht. Um den Reagenzprozess seines Dorian-Experimentes zu starten, konfrontiert Lord Henry Dorian mit der Endlichkeit seiner Jugend und Schönheit und dem Auftrag sein Leben, allen Erfahrungen zu öffnen, solange ihm seine Jugend noch gegeben sei. Dorian stürzt die Erkenntnis seiner eigenen Vergänglichkeit in Verzweiflung, er wünscht, das Portrait möge an seiner Stelle altern und ihm sei stattdessen die ewige Jugend des Abbildes gegeben. Mysteriöser Weise erfüllt sich dieser Wunsch.

»DER FLUSS, IN DEN NARZISS SCHAUT, DAS FLUIDE, DAS GLITZERNDE, DAS UNGREIFBARE, IST DIE FREIHEIT DES ERSCHEINENS: UNVERBINDLICHKEIT, VERWANDLUNGSFÄHIGKEIT UND LUSTVOLLE SELBSTREPRODUKTION. DIE ARBEIT AN DER EIGENEN LEBENSERZÄHLUNG.« 

Das Postulat Lord Henrys, dass man »die Seele durch die Sinne heilen« könne, ist ihm von nun an Lebensmaxime, denn Dorian sehnt sich nach Heilung. Er beginnt ein Leben in Ausschweifungen, das getreu den Vorgaben Lord Henrys ganz dem Augenblick gewidmet ist.

Doch die Heilung stellt sich nicht ein, nicht in der Liebe zu der jungen Schauspielerin Sibyl Vane, die er in den Tod treibt, nicht im Ruin seines Gefolgsmanns Alan Campbell, nicht in den vielen rauschenden Partys und Drogenexzessen in die sich Dorian stürzt. Schließlich ermordet er den Maler Basil Hallward, der sich als erster ein Bild von ihm schuf. Am Ende sitzt Dorian allein in seiner Dachkammer, seinem einstigen Kinderzimmer, umringt von den Schattengestalten der Toten, deren Ende er mitverschuldet hat.

»DAS BILD IST MEHR ALS EIN VERFLUCHTES GEMÄLDE, ES IST ERINNERUNG: SPUREN UND NARBEN DES LEBENS, DIE NICHT VERSCHWINDEN SONDERN ABGESPALTEN WERDEN, VERGEBLICH NATÜRLICH.«  

In einem letzten verzweifelten Akt versucht er das verhasste Portrait, das inzwischen zur Fratze geworden ist, zu zerstören, um die Vergangenheit, die sich in dem Portrait abgezeichnet hat, endgültig auszulöschen. Doch passend zum Genre der Gothic Novel zerreißt ein markerschütternder Schrei das Haus. Kein Mensch kann seiner Vergangenheit entgehen.