Chefdramaturg Horst Busch wünscht sich eine intensivere Reflexion über Rituale:
Das Buch »Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart« des Philosophen Byung-Chul Han ist eine wunderbare Einladung, über Rituale und Festzyklen wie Weihnachten nachzudenken, die leider mehr und mehr »zu Erholungspausen degradiert« werden. Genau die richtige Lektüre für beschauliche Festtage!
Byung-Chul Han: Vom Verschwinden der Rituale
Operndramaturg Benjamin Wäntig empfiehlt einen Titel, der eine reizvolle Spekulation anstellt:
Was wäre, wenn Lenin die kommunistische Revolution nicht in St. Petersburg, sondern in seinem Züricher Exil ausgerufen hätte und die Schweizer Sowjetrepublik sich fortan mithilfe ihrer Kolonien in Afrika in einem ewigen Krieg gegen das faschistische Deutschland befände? Christian Krachts 2008 erschienener Roman »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« ist Groteske und Dystopie in einem. Für mein Empfinden wirkt Krachts unterkühlte Prosa mittlerweile noch aktueller, verstörender, unheimlicher. Für alle, die in verunsichernden Zeiten weitere Verunsicherung suchen.
Christian Kracht: Ich werde da sein im Sonnenschein und im Schatten
Ballettdramaturg Klaus Kieser hat den 50. Todestag eines weltberühmten Choreographen im Blick:
1973 starb John Cranko, der Begründer des legendären Stuttgarter Ballettwunders, dessen Handlungsballette nach wie vor zum Repertoire ungezählter Kompanien rund um den Globus gehören. Anlässlich seines 50. Todestags erinnern gleich zwei Publikationen an den Meister: eine ausführliche, lebendige Biographie des ehemaligen Stuttgarter Tänzers Ashley Killar (»Cranko. The Man and his Choreography«) und der vom Stuttgarter Ballett herausgegebene Erinnerungsband »John Cranko. Tanzvisionär« mit Beiträgen von zwanzig Weggefährten des Choreographen.
Das Stuttgarter Ballett: John CrankoAshley Killar: Cranko
Und unsere Dramaturgie-FSJlerin Lenke Nagy hat ein Faible für Eishockey:
In Björnstadt dreht sich von jeher alles um die eine gemeinsame Leidenschaft: Eishockey. Die vielversprechende Jugendmannschaft soll dem fast vergessenen Ort zu wirtschaftlichem Aufschwung und nationalem Ruhm verhelfen. Doch als ein Mädchen vergewaltigt wird, wird der Zusammenhalt der Björnstädter auf die Probe gestellt. Eine bewegende und sprachlich herausragende Winterlektüre ist Fredrik Backmans »Kleine Stadt der großen Träume« – auch geeignet für alle, die sich mit Eishockey (noch) nicht auskennen!
Schauspioeler Raimund Widra (Foto: Martin Kaufhold)
Lieber Raimund, mittlerweile spielst Du »Die Leiden des jungen Werther« schon im siebten Jahr in Saarbrücken. Was bedeutet Dir diese Produktion?
Die Arbeit ist bereits 2014 entstanden und ich schätze, dass ich bald 100 Vorstellungen gespielt habe, soviel wie von keinem anderen Stück. Vor jeder Vorstellung gehe ich für mich einmal durch den Text. Ich habe diese Worte also schon unzählige Male gesprochen und es bereitet mir immer noch große Freude. Wenn ich dann eine Vorstellung spiele, versuche ich jedes Mal aufs Neue, kleine Nuancen im Text anders zu erspielen und die Gedanken auf unterschiedlichem Wege zu greifen. Die Tatsache, dass ich bereits so viele Vorstellungen gespielt habe, gibt mir die Freiheit, dabei spielerisch etwas zu wagen, ohne genau zu wissen, wohin es mich an diesem Abend treibt. Ich kann mich darauf verlassen wieder auf Spur zu kommen, wenn ich mal aus der Kurve fliegen sollte. Und dennoch ärgere ich mich jedes Mal, wenn mir eine Passage verrutscht. Das ist in diesen Momenten aber eher eine Frage fehlender Konzentration, als des zu hohen Risikos – das zahlt sich meist aus!
Der Regisseur Maik Priebe hat diese Inszenierung schon am Theater Magdeburg mit Dir erarbeitet. Was hat sich für Dich von der Spielstätte in Magdeburg im Vergleich zur Alten Feuerwache in Saarbrücken verändert?
Ich habe das Stück in Magdeburg in drei recht verschiedenen Spielstätten gespielt, auf einigen Gastspielen und hier in Saarbrücken, neben der Feuerwache und der sparte4 auch schon einmal auf der Vorbühne im Staatstheater. Der Abend hat sich immer gut anpassen können. Ursprünglich wurde er für ein Foyer konzipiert und war mit ungefähr 60 Plätzen auf einer kleinen Tribüne eine ziemlich intime Angelegenheit. Das ändert sich natürlich, wenn der Saal größer wird. Und dennoch habe ich das Gefühl, dass sich auch die kleinen, schwebenden Momente in einem großen Raum gut einlösen, vor allem, weil sich zum Ende hin die formalen Mittel der Inszenierung so auf die Sprache und die Emotion fokussieren.
Du kannst die Vorstellung »Die Leiden des jungen Werther« auch in Englischer Sprache spielen. Wie kam es dazu?
Grund dafür ist ein Gastspiel in der Ukraine gewesen. Das war 2015. Ich spreche weder Ukrainisch, noch Russisch, aber wir wollten den Abend möglichst vielen Zuschauern zugänglich machen. Ich habe dann vorgeschlagen, es auf Englisch zu spielen. Ich hatte das Stück zu diesem Zeitpunkt schon oft auf Deutsch gespielt und fühlte mich allgemein im Englischen recht sicher, weil ich mal Austauschschüler in England war (die Hybris eines jungen Schauspielers). Der Werther ist natürlich auch ins Englische übersetzt und die Textfassung ließ sich leicht übertragen. Wir mussten die Textstellen ja nur in der Übersetzung wiederfinden. Für das eine oder andere Extempore, das nicht von Goethe stammt, habe ich selbst nach Entsprechungen gesucht. Das Auswendiglernen mit Unterstützung von Muttersprachlern war dann eine Fleißarbeit. Bei einem zweiten Gastspiel in der Ukraine, diesmal in Saporischschja, habe ich aber auf Deutsch gespielt, wieder mit Ukrainischen bzw. Russischen Übertiteln. Ich würde mich sehr freuen, wieder dort spielen zu können.
Der Regisseur Maik Priebe, der mittlerweile Schauspieldirektor in Neustrelitz und Neubrandenburg ist, hat Dich mit dieser Produktion eingeladen. Wie ist es für Dich mit dieser Arbeit auf Gastspiel-Reise zu gehen?
Ein Gastspiel ist immer eine besondere Sache. Die Gegebenheiten sind einem fremd und es gibt wahrscheinlich ein paar Unwägbarkeiten auszuräumen, meist in sehr begrenzter Zeit. Das ist eine schöne Herausforderung. Außerdem kennen einen die Zuschauer nicht. Ich bin ja nun schon eine ganze Weile hier und wer, wie viele unserer Zuschauer*innen, regelmäßig kommt, wird kaum an meiner Nase vorbeigekommen sein. Es gibt hier für mich eine gewisse Aura des Vertrauten, wenn ich das mal etwas schwammig formulieren darf. Aber der vollkommen unvoreingenommene Publikumsblick, der mich beim nächsten Gastspiel erwarten wird, hat auch einen großen Reiz. Außerdem freue ich mich, dass Maik Priebe mich an seine neue Wirkungsstätte eingeladen hat, denn ich fühle mich ihm, heute wie damals, freundschaftlich verbunden.
»Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön…« – für die Bewohner eines Städtchens am Deister wohl eher nicht: Zur Schuldentilgung des Landes Niedersachsen wurden sie samt Infrastruktur verkauft und in Containern auf ein Frachtschiff geladen. An einem noch unbekannten Ort soll die Gemeinde als Freizeitpark wiederaufgebaut und begehbar gemacht werden.
Nicht lange, und der Lagerkoller setzt ein. Mitten auf dem Ozean ist man einander hemmungslos ausgeliefert. Dem Gegenüber, und vor allem sich selbst. So manche Beziehung, so manche Geschichte hätte man lieber zurückgelassen, nun drängt sie sich auf. Jakob Noltes Text zeigt das Miteinander, das Reden über das Reden. Was gibt man von sich Preis, was verbirgt man, was projiziert man auf den anderen? Man verrät mehr über sich selbst, als einem lieb ist – wenn man genau hinhört und, in Thorsten Köhlers Inszenierung, hinsieht. Gemeinsam mit Grigory Shklyar (Video und Bildregie) schafft er eine Bildwelt konzentriert auf die nonverbale Reaktion. Nur Hände, Beine, der Körper im Bild, nicht das Gesicht, gerät jedes Zittern der Hände, jedes Ballen zur Faust, unter das Brennglas. Das Ungesagte und das Gesagte verschmelzen.
»…denn da kann man fremde Länder und noch manches andre sehn«, geht das Lied weiter. So manch einer auf dem Frachtschiff sehnt sich aber eher nach der Heimat, nach dem Bekannten. Über den Tellerrand schauen lässt einen allzu oft über das Bisherige und Gewohnte grübeln. Wie geht man mit dem Neuen, mit dem Fremden um? Was ist typisch deutsch? Sonst sind es doch »die Deutschen«, die als Touristen andere Länder und Kulturen bestaunen, die vom Erbe des Kolonialismus bis heute profitieren. Und jetzt wird man verkauft? Im Freizeitpark ausgestellt? Die Ausstattung von Justus Saretz spielt genau damit – mit kultureller Aneignung, mit Alltagsrassismus, mit Vergangenheitsbewältigung. Und mit dem »typisch Deutschen«, mit dem Bild, das man von sich selbst hat, wie man sich gerne präsentieren möchte, und mit dem Bild, das sich die anderen machen.
Bühne und Kostüme schaffen zugleich eine geheimnisvolle Welt, fast mythen- und märchenhaft. Auch Prolog und Epilog des Stücks erinnern an ein Märchen, und bei Thorsten Köhler erklingt »Scheherazade« von Nikolai Rimski-Korsakow dazu. Man erzählt sich Geschichten, vielleicht eben auch Märchen, über sich selbst und die Vergangenheit, so eingepfercht auf einem Schiff. Und dieses Schiff wird, auch ganz Märchen, auf einmal zum Geisterschiff. Die Investorin möchte lieber ein südamerikanisches Pueblo als eine niedersächsische Kleinstadt. Eine Rückführung ist zu teuer. Ohne Kapitän und Crew treibt das Schiff auf dem Ozean, und die Passagiere beginnen zu meutern. Verkauft und nicht abgeholt, orientierungs- und ziellos, frustriert, misstrauisch. Wie wird ihre Geschichte weitergehen, wer wird sich ihrer annehmen, und wo wird man stranden? Ihre Ängste manifestieren sich in einer geheimnisvollen Gestalt, die jede*r gesehen haben will, die aber keiner genau beschreiben kann. Eine mythenhafte Gestalt des Ozeans.
Erlösung naht durch eine Cola, trinkbarer Konsum. Die süßen Perlen des Softgetränks lassen einen Heimat, Herkunft und die eigene Geschichte vergessen. Der Mensch ist längst Ware geworden, nutzbar, verfügbar, sein Schicksal der Ökonomie unterworfen. »Ein Gespenst geht um in Europa. Es heißt Gute Laune.« Gelenkt von der merkwürdigen Sehnsucht, stets glücklich zu sein, irren die Glücklichen und die Traurigen über die Meere und durch ihre Gedanken. Eine melancholische, verdichtete Suche danach, was das Leben lebenswert macht, was den einzelnen ausmacht und was – und vor allem: wer – davon übrigbleibt im Wechselspiel mit Befindlichkeiten, Wirtschaft, Politik und Macht.
Bernd Geiling (Basil Hallward) und Mira Fajfer (Dorian Gray)
Gedanken zu »Das Bildnis des Dorian Gray«
11891 erschien Oscar Wildes einziger Roman »Das Bildnis des Dorian Gray«. Der Roman, der zunächst als Forstsetzungsgeschichte in »Lippincott`s Monthly Magazine« herauskam, veränderte, wie sein Übersetzer Lutz-W. Wolff im Nachwort schreibt, »die englische Literatur des 19. Jahrhunderts nachhaltig«. In einer Bühnenadaption von Regisseur Alexander Nerlich ist »Das Bildnis des Dorian Gray« nun in der Alten Feuerwache zu sehen. Der folgende Text von Simone Kranz ist collagiert mit (in Großbuchstaben gesetzten) Notizen von Alexander Nerlich.
»Ich verkünde die Wahrheiten von Morgen«, lässt Oscar Wilde Lord Henry Wotton, einen der Protagonisten von »Das Bildnis des Dorian Gray« sagen. Die Figur, vielleicht ein Alter Ego des Autors, scheint Recht zu haben. Die Geschichte des jungen Dorian, dessen Jugend und Schönheit jedermann in Bann schlägt und der Macht über andere erlangt, indem er sich zur Projektionsfläche für ihre Wünsche und Sehnsüchte macht, zu einer Abfolge von Bildern stilisiert, scheint der Welt der Selfies und Instagram Accounts entsprungen zu sein.
Aber der Reihe nach. Schon zu Beginn des Romans steht die Erschaffung eines Bildes. Es ist der Maler Basil Hallward der Dorian portraitiert und in ihm eine Inspirationsquelle sieht, die seiner Kunst radikal erneuert. Basil stilisiert Dorian zur utopisch reinen Seele, die gleichzeitig »einen schwarzen undurchdringlichen Hintergrund« habe. Das verwirrt den jungen Dorian – als Waise bei seinem Großvater dem strengen und kaltherzigen Lord Kenzo aufgewachsen, hat er keinerlei Selbstwertgefühl, er sehnt sich nach Zuwendung und einer stärkenden Außenbindung. Das macht es auch Lord Henry Wotton leicht, der Dorian in Basils Atelier trifft und der in ihm »weißen zu allem formbaren Marmor« sieht. Um den Reagenzprozess seines Dorian-Experimentes zu starten, konfrontiert Lord Henry Dorian mit der Endlichkeit seiner Jugend und Schönheit und dem Auftrag sein Leben, allen Erfahrungen zu öffnen, solange ihm seine Jugend noch gegeben sei. Dorian stürzt die Erkenntnis seiner eigenen Vergänglichkeit in Verzweiflung, er wünscht, das Portrait möge an seiner Stelle altern und ihm sei stattdessen die ewige Jugend des Abbildes gegeben. Mysteriöser Weise erfüllt sich dieser Wunsch.
»DER FLUSS, IN DEN NARZISS SCHAUT, DAS FLUIDE, DAS GLITZERNDE, DAS UNGREIFBARE, IST DIE FREIHEIT DES ERSCHEINENS: UNVERBINDLICHKEIT, VERWANDLUNGSFÄHIGKEIT UND LUSTVOLLE SELBSTREPRODUKTION. DIE ARBEIT AN DER EIGENEN LEBENSERZÄHLUNG.«
Das Postulat Lord Henrys, dass man »die Seele durch die Sinne heilen« könne, ist ihm von nun an Lebensmaxime, denn Dorian sehnt sich nach Heilung. Er beginnt ein Leben in Ausschweifungen, das getreu den Vorgaben Lord Henrys ganz dem Augenblick gewidmet ist.
Doch die Heilung stellt sich nicht ein, nicht in der Liebe zu der jungen Schauspielerin Sibyl Vane, die er in den Tod treibt, nicht im Ruin seines Gefolgsmanns Alan Campbell, nicht in den vielen rauschenden Partys und Drogenexzessen in die sich Dorian stürzt. Schließlich ermordet er den Maler Basil Hallward, der sich als erster ein Bild von ihm schuf. Am Ende sitzt Dorian allein in seiner Dachkammer, seinem einstigen Kinderzimmer, umringt von den Schattengestalten der Toten, deren Ende er mitverschuldet hat.
»DAS BILD IST MEHR ALS EIN VERFLUCHTES GEMÄLDE, ES IST ERINNERUNG: SPUREN UND NARBEN DES LEBENS, DIE NICHT VERSCHWINDEN SONDERN ABGESPALTEN WERDEN, VERGEBLICH NATÜRLICH.«
In einem letzten verzweifelten Akt versucht er das verhasste Portrait, das inzwischen zur Fratze geworden ist, zu zerstören, um die Vergangenheit, die sich in dem Portrait abgezeichnet hat, endgültig auszulöschen. Doch passend zum Genre der Gothic Novel zerreißt ein markerschütternder Schrei das Haus. Kein Mensch kann seiner Vergangenheit entgehen.
Larissa Jenne arbeitet als Puppenbauerin und Kostüm- und Bühnenbildnerin | Foto: NataschaZivadinovic
Du hast Bühnen- und Kostümbild studiert, wie bist du zum Figurenbau gekommen?
Ich habe in meiner Studienzeit bei der Langen Nacht der Theater in der Schaubude Berlin ein Figurenstück für Erwachsene gesehen. Ich saß mit offenem Mund da und war völlig ins Stück eingetaucht. Das war so ein intensives, berauschendes Erlebnis. Danach wusste ich: Das will ich auch! Ich will auch mit Figuren und Objekten arbeiten!
In meiner Diplomarbeit entwickelte ich überlebensgroße Frauenfiguren auf Grundlage der Kurzgeschichte »Die drei dicken Damen von Antibes« von Somerset Maugham. Ich beschäftigte mich mit Körperidealen, Schlankheitswahn und Fressattacken, auch mit dem grotesken Körper und der Stärke von Außenseiterfiguren. Dieser erste Versuch, mich einem Thema mit Figurenbau anzunähern, erinnert mich im Nachhinein an einen bildhauerischen Prozess. Mir wurde klar, dass man mit Figurenspiel sehr extrem werden kann.
Nach dem Studium probierte ich Figuren in eigenen Projekten aus, baute dann auch Puppen für andere Figurenspieler*innen und bringe seit einiger Zeit auch eigene Stücke auf die Bühne, bei denen das Material, Figuren und Objekte eine zentrale Rolle spielen.
Erstmal lese ich das Stück, recherchiere zum Thema und höre mir die Ideen der Kolleg*innen im Team an. Ich fertige Skizzen an, sammle Bilder und recherchiere. Ich mag es, erstmal alle Assoziationen zuzulassen und dann langsam einzukreisen, wohin die Reise geht.
»Die Glücklichen und die Traurigen« spielt auf einem verlorenen Schiff, das auf den Weltmeeren treibt. Die auftauchende Figur erscheint wie ein Geist oder Ungeheuer, ist aber in erster Linie Projektionsfläche der Ängste der Menschen auf dem Schiff. Sie sollte wachsen und drohend groß werden können, so der Wunsch des Regisseurs Thorsten Koehler.
In meiner Phantasie ist sie eine Gestalt des Meeres, eine Gestalt der Natur vielleicht, völlig aus der Zeit und dem Rahmen der modernen Schiffspassagiere gefallen. Sie bewegt sich schwebend oder schwimmend und ist relativ unkörperlich, schwer zu fassen. Inspiration lieferten unter anderem die Sirenen, weibliche Figuren, die schon seit der Antike Seefahrern erscheinen und sie locken. Ich liebe die Welt der Mythen. Sie bergen viel Potenzial für ein tieferes Verständnis von Figuren und Zusammenhängen, egal wie alt oder neu das Theaterstück ist – sie sind die Schatzkammer menschlicher Vorstellungen über die Welt.
Während meiner Recherchen sammle ich immer Materialien, die ich eventuell beim Bau verwenden möchte und die mich auf Grund ihrer sinnlichen Eigenschaften wie Farbigkeit, Lichtdurchlässigkeit, ob fließend oder steif etc. inspirieren. Denke ich bei der Figur an Metall oder Malerplane, Seide oder Kartoffelsack? Hat sie überhaupt Augen, Arme, Haare, Schuppen? Ist sie humanoid oder vielleicht ein Insekt? Für diese Figur fiel mir unter anderem glänzende schwarze und weiße Plastikfolie in die Hände, die wunderbar schwebt und auch ein kleiner unheimlicher Link zur Verschmutzung der Meere mit Plastik sein kann.
In Gesprächen mit dem Team werden die Ideen zusammengetragen. Langsam grenzen wir ein, welche Rolle die Figur im Stück spielt und wie sie sein soll. Bei »Die Glücklichen und die Traurigen« habe ich mich regelmäßig mit dem Bühnen-und Kostümbildner Justus Saretz und mit dem Puppenspieler Tizian Steffen abgesprochen. Tizian kam mich mehrmals im Atelier besuchen und hat die Figur in unterschiedlichen Stadien getestet. Gemeinsam entwickelten wir die Handhabung der Figur.
In Arbeit: Die Puppe für »Die Glücklichen und die Traurigen« (Foto: privat)
Was muss eine Puppe können? Was ergeben sich für Möglichkeiten und Spielräume im Theater durch die Arbeit mit einer Puppe?
Eine Puppe erfüllt eine bestimmte Rolle im Stück. Daher muss die Figurenbauerin genau überlegen, was die Figur unbedingt können muss, um technisch sinnvoll spielbar und ausdrucksstark zu sein. Es muss auch klar sein, wie viele Spieler*innen die Figur führen werden. Es ist eine völlig andere technische Voraussetzung, ob ein oder fünf Spieler*innen die Figur führen.
Als Kostümbildnerin muss ich neben der eigentlichen kreativen Idee für das Kostüm natürlich auch die Wünsche der Spielenden beachten. Manchmal fallen ursprüngliche Ideen den Anforderungen wie Bewegungsfreiheit, Tragekomfort und durchaus auch der Eitelkeit zum Opfer. Ich fand im Figurenbau auch reizvoll, ganze Körper zu gestalten, die genau so sind, wie ich das möchte, ohne die Gegebenheiten der menschlichen Körper der Schauspielenden. Material ist nicht eitel.
Die Möglichkeiten im Figurenspiel sind unendlich! Eine Puppe kann eigentlich alles. Sie kann jedwede Form annehmen, Metamorphosen durchmachen, fliegen, auf der Bühne in echt sterben, abgeschlachtet werden und wiederauferstehen. Das geht, weil das Publikum mit den Spieler*innen eine unausgesprochene Verabredung trifft, wo gemeinsam, für die Zeit des Theaterstücks, angenommen wird, dass die Figur auf der Bühne lebt.
Larissa Jenne in ihrem Atelier in Berlin (Foto: privat)
Wie fertigst du deine Figuren an, und wie lange dauert das in etwa? Was verwendest du für Materialien?
Bisher waren die Anforderungen an die Figuren immer so divers, dass es schwierig ist, einen Weg zu schildern oder gar die Arbeitszeit einzuschätzen. Mein Bestiarium umfasst unter anderem zwei Meter große Figuren aus Schaumstoff, Metall und Pappe, die gesamte Belegschaft der Berliner Stadtmusikant*innen plus Kuh und einen Bus voller Schattenspielfiguren. Ein Ziegenwirbelknochen, der aussah wie ein Kopf mit einer langen Nase, inspirierte mich zu einer klitzekleinen Stabpuppe, die ich kurzerhand an einem einzigen Abend baute. An einigen Figuren, die für ein bestimmtes Stück vorgesehen sind und bestimmte technische und optische Voraussetzungen erfüllen müssen, arbeite ich mehrere Wochen.
Ich liebe Materialien! Mein Atelier-Kollektiv nennt sich MATERIAL GIRLS, weil wir ständig sammeln und tauschen und wie die Elstern alles einheimsen, woraus wir noch was machen können. Die Straßen Berlins sind eine einzige Fundgrube. Was für andere Müll ist, ist für mich Material. Am nächsten liegen mir Materialien, die ich vernähen kann, sowie Schaumstoffe und Kunststoffe, die ich schnitzen kann, und natürlich Papier und Pappmaché! Vor kurzem habe ich mit Experimenten mit Plastik und Heißfön begonnen. Dabei spielt der Zufall eine große Rolle. Ich bin gespannt, ob ich damit viel Plastik in neue interessante Formen und vielleicht auf die Bühne bringen kann.
Nachhaltigkeit ist auch im Theater ein Thema. Du bist Expertin für nachhaltige Materialnutzung in den darstellenden Künsten – wie sieht das im Theater konkret, und konkret für dich aus? Auf welche Widerstände stößt du?
Haha. Ja, das großartige Netzwerk SK Freie Szene für Szenograph*innen und Kostümbildner*innen hat mich letztes Jahr eingeladen, zwei kleine Vorträge zu dem Thema Nachhaltigkeit zu halten, da ich schon seit vielen Jahren viel mit Recyclingmaterialien arbeite. Mein Fokus und Know-How liegt auf der Arbeit in der freien Theaterszene. Da gibt es riesige Unterschiede zur Struktur an Stadt- und Staatstheatern, die auf ihre Fundus-Schätze zurückgreifen können und großartige Werkstätten haben, wo Profis Kostüme und Bühnenteile umarbeiten können. In der freien Szene müssen die Künstler*innen Lagerung und Herstellung im eigenen Atelier umsetzen.
In beiden Modellen wird viel dazugekauft und bestellt. Ich kann das verstehen und ich mache das auch. Ich versuche, eine gute Balance zu schaffen zwischen meinem Anspruch, möglichst viel zu recyclen und auf die eigenen Energieressourcen zu achten. Das klappt mal mehr, mal weniger gut.
Ich habe in eigenen Produktionen versucht, auch das Bühnenbild aus Recyclingmaterial herzustellen. Zum Beispiel habe ich ganz viele hölzerne Stellwände aus zweiter Hand aufgekauft und sie dann umgestaltet. Der logistische Aufwand ist groß. Dafür mussten wir weniger Wände bauen und weniger neues Bauholz zukaufen. Bei Kostümen bestand bisher das Problem meist darin, dass z.B. Kostüme doppelt oder dreifach gebraucht wurden, Second-Hand-Kleidung aber oft nur einfach vorhanden ist.
Am einfachsten ist Wiederverwertung tatsächlich im Figurenbau. Eine Figur wird meist nicht gewaschen. Im Gegensatz zu Kostümen trägt sie meist niemand auf der Haut. Die Materialien können viel freier gewählt sein. Ich glaube außerdem daran, dass Material genauso wie Haut Geschichten, Erlebnisse und Erinnerungen speichert und deshalb gebrauchtes Material aus zweiter oder dritter oder fünfzigster Hand neuem Material gegenüber einen entscheidenden Vorteil hat: es gibt über einen geheimen magischen Vorgang seine Aura, seine Biografie an die Figur weiter.
Du hast schon an vielen Theatern Stücke zur Weihnachtszeit inszeniert. Was gefällt Dir besonders an »Der Lebkuchenmann« von David Wood?
David Woods »Der Lebkuchenmann« kommt aus der britischen Weihnachtstheatertradition, und da ich über 25 Jahre in London gelebt habe, ist mir diese sehr nah. Die britischen Weihnachtsstücke sind oft gespickt mit Gags und Aktion und haben nicht selten auch interaktive Elemente, und das ist auch im Lebkuchenmann angelegt. Abgesehen davon erzählt das Stück auch auf enorm charmante Weise eine richtig gute Geschichte: wie man mit neuen Freunden Herausforderungen meistern und gemeinsam Lösungen finden kann, dass ein Status Quo, der sich schon seit langem schwierig anfühlt – bei uns der alte Teebeutel im oberen Regal – durch einen frischen Angang positiv verändern lässt, und natürlich auch, dass man nicht immer gleich alles wegwerfen muss.
Was ist Dir besonders wichtig bei der Arbeit an einem Familienstück, also an einem Theaterstück für kleine und große Zuschauer?
Wir hoffen ja, dass die kleinen Zuschauer von heute unsere großen Zuschauer von morgen werden, also ist mir wichtig, dass wir den Kindern, die kommen, so richtig Lust auf Theater machen. Gleichzeitig versuche ich ein Familienstück so zu inszenieren, dass auch die Erwachsenen, die es sich ansehen, in die Geschichte gezogen werden und vielleicht das ein oder andere Augenzwinkern miteinander teilen.
Warum wolltest Du gerne, dass für Deine Inszenierung in Saarbrücken der englische Theatermusiker Simon Slater neue Songs schreibt?
Simon Slater hat inzwischen für viele meiner Arbeiten Musik geschrieben. Ich wollte gerne, dass er beim Lebkuchenmann dabei ist, weil er, obwohl er regelmäßig für Londoner Inszenierungen am National Theatre, im West End oder am Globe Theatre Theatermusik schreibt, auch alle Jahre wieder für Weihnachtsstücke komponiert. Seine Erfahrung mit und Begeisterung für Familienstücke ist wunderbar, die Songs die er schreibt, machen einfach gute Laune – den Figuren auf der Bühne und uns im Zuschauerraum. Da er mit der britischen Weihnachtsstücktradition aufgewachsen ist, wusste er sofort, was für Songs unser Stück braucht.
Was bedeutet es für Dich, Premiere zu haben?
Premiere mit einem Familienstück zur Weihnachtszeit zu haben ist immer etwas ganz Besonderes. Man kann sich während der Proben zwar ein ungefähres theoretisches Bild davon machen, worauf die Kinder wie reagieren, aber wenn dann nach den leeren Stühlen im Zuschauerraum, die man während der Probenzeit hatte, die Reihen zur Premiere voller junger Menschen sind, und man das erste Mal erlebt, wie sie sich lautstark freuen und mitgehen, ist das einfach großartig.