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»Gute unbekannte Musik kann nur bereichernd sein.«

Das erste Kammerkonzert der diesjährigen Spielzeit am 2. Oktober im Rathausfestsaal war gleich in zweifacher Hinsicht etwas Besonderes: Zunächst war das Max-Bruch-Trio, bestehend aus Jörg Lieser, Marlene Simmendinger und Grigor Asmaryan, zu Gast, welches mit einer eher außergewöhnlichen Besetzung aus Klavier, Klarinette und Fagott hervorsticht. Zudem enthielt das Programm Werke von gleich zwei unbekannten Komponisten: Robert Kahn (1865 – 1951) sowie dessen Schüler Günter Raphael (1903 – 1960).

Was die beiden Komponisten vereint, ist nicht nur ihre mangelnde Bekanntheit selbst unter Musikliebhabern, sondern auch ihre jüdische Herkunft und ein von Antisemitismus und Emigration im Nationalsozialismus geprägter geschichtlicher Hintergrund. Von Günter Raphael waren gleich zwei Werke Teil des Abends: das Trio op. 70, eigentlich für Klavier, Klarinette und Cello, und die »Entensonatine«. Von Raphaels Lehrmeister Kahn bildete das Trio in g-Moll op. 45 Teil des Programms.

Günter Raphael                Foto: Ernst Hoenisch

Im Interview mit dem Klarinettisten Jörg Lieser, erzählt dieser von seiner Leidenschaft für gute Musik, vom Aufstöbern von Noten und seinem Wunsch danach, der Welt Zugang zu großartigen Stücken zu gewähren, die nie die verdiente Aufmerksamkeit erlangen konnten.

Jörg Lieser            Foto: Astrid Karger

Lenke Nagy: Wie sind Sie und das Max-Bruch-Trio auf die beiden jüdischen Komponisten gestoßen und was fasziniert Sie an ihren Kompositionen?

Jörg Lieser: Das Kahn-Trio kannte ich schon seit längerem vom Hören in der originalen Besetzung mit Cello und wollte es immer mal spielen.

Die Werke für Klarinette von Günter Raphael sind auf einer CD sehr gelungen und schön eingespielt von Dirk Schultheis.

Ich habe dann die Stücke dem Trio vorgeschlagen.

LN: Und wie kam Ihnen die Idee, diese Werke miteinander zu kombinieren? Schließlich ist es auch ein gewisses Wagnis, dem Publikum gleich zwei unbekannte Komponisten vorzustellen.

JL: Unser Trio existiert ja schon eine ganze Weile und ist auch keine gewöhnliche Instrumentenkombination. Das heißt, irgendwann hat man die bekanntesten Stücke, die in dieser Zusammenstellung möglich sind, alle schon mal gespielt. Wenn man dann – wie wir – dennoch gerne zusammen weitermusizieren möchte, dann muss man auf die Suche gehen nach ungewöhnlicheren Werken, die einen begeistern.

Bei Raphael ist es auch die Rhythmik, die mich – manchmal ostinatohaft oder jazzig – einfach mitnimmt und die Tonalität, die etwas an Hindemith erinnert, der auch, obwohl namhafter, zu selten gespielt wird.

Als ich dann bei weiteren Recherchen auch noch erkannte, dass es sich um Lehrer und Schüler (Kahn/Raphael) handelte, war klar, dass ich die beiden Trios gerne kombinieren wollte.

Robert Kahn                    Foto: Steffen Fahl

LN: Stimmt es, dass es die Noten von Raphaels Trio gar nicht mehr zu kaufen gibt? Wo liegt Ihrer Meinung nach der Grund dafür und wie konnten Sie an das Notenmaterial gelangen?

JL: Ich habe mehrere Notenhändler kontaktiert. Keiner hatte mehr ein Exemplar und es kam immer die Nachricht: Es wird vom Verlag nicht mehr gedruckt.

Das kann für mich nur ein wirtschaftlicher Grund sein. Das Stück ist zu unbekannt, es wird also nicht nachgefragt und nach der künstlerischen Ausgrenzung im Nationalsozialismus noch ein zweites Mal vergessen!

Ich habe daraufhin den Kollegen Schultheis kontaktiert und er besorgte mir umgehend die PDF-Dateien aus dem WDR-Archiv. Die Noten wurden dort eingescannt im Zuge der CD-Aufnahme. Er ist Klarinettist im WRD Funkhausorchester.

LN: Würden Sie sich wünschen, dass bei musisch-kulturellen Veranstaltungen mehr Augenmerk auf die Wahl von Werken unbekannter Komponisten gelegt wird?

JL: Ich bin tatsächlich immer auf der Suche nach Literatur abseits der Standardwerke, für mich selber, aber auch insbesondere für meine unterrichtende Tätigkeit.

Gute unbekannte Musik kann nur bereichernd sein und muss gewagt werden.

LN: Haben Sie einen persönlichen Bezug zum Thema Judentum und Antisemitismus?

JL: Nein. Ich fand zunächst einfach nur die Musik gut und spielenswert. Erst danach lernte ich die persönlichen Umstände der Komponisten kennen.

LN: Wie war das Feedback auf Ihre Zusammenstellung des Programms?

JL: Sehr gut! Das ist ja das Schöne bei den Kammerkonzerten, dass man sein Programm selbst zusammenstellen kann. Ich achte dann immer auf einen roten Faden, in diesem Fall eben durch die Lehrer-Schüler-Beziehung und das Judentum. Diesmal war das Publikum besonders begeistert und hat sich gefreut, neue Werke kennenzulernen. Meine Frau, die fast jedes meiner Programme gehört hat, fand dieses bisher am gelungensten. Jörg Lieser lacht.  Das wir uns da als Trio so steigern konnten, ist natürlich toll zu hören.

LN: Vielen Dank für das Gespräch!

Der verdiente Schlussapplaus                                      Foto:©Astrid Karger

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TERROR von Ferdinand von Schirach: Die Grundlage des Urteils

Die Bühne ist ein Gerichtssaal. Der Angeklagte, Lars Koch, wird des 164fachen Mordes beschuldigt. Den folgenden Tathergang hat er bereits gestanden: Als Pilot eines Kampfjets der Bundeswehr hatte er den Befehl, eine Passagiermaschine, die von Terroristen entführt wurde, zu eskortieren. Als das Flugzeug Kurs auf ein mit 70.000 Zuschauern besetztes Fußballstadion nimmt, schießt Lars Koch das Flugzeug, gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzen, ab. Seine Begründung: er habe die 70 000 Menschen im Stadion retten wollen und dafür die 164 Passagiere des Linienfluges opfern müssen. Ist dieses Motiv mit der im Grundgesetz Artikel 1 verankerten »Würde des Menschen« vereinbar, die vorgibt, dass Leben nicht gegen Leben abgewogen werden dürfen?

Foto: Martin Kaufhold

Schon zu Beginn der Theatervorstellung erklärt die Vorsitzende die Zuschauer zu Schöffen, also Laienrichtern. Das Publikum soll nach Zeugenvernehmung und Plädoyers über die Schuld des Angeklagten richten. Je nach der Entscheidung der Zuschauer, ob Lars Koch schuldig oder nicht-schuldig gesprochen wird, nimmt der Theaterabend einen anderen Verlauf. Der Urteilsspruch richtet sich jeweils nach dem Votum des an diesem Abend anwesenden Theaterpublikums.

Im Laufe der Verhandlung wird die Rechtslage erläutert, das Grundgesetz zitiert, werden Zeugen vernommen. Mit Frau Meiser, der Nebenklägern, kommt eine Angehörige der Opfer zu Wort. Entsprechen die juristischen Vorgaben dem moralischen Empfinden des Publikums, das nun Recht sprechen soll? War der Absturz der Passagiermaschine wirklich die einzige Möglichkeit, das Leben der Stadion-Besucher zu retten? Wie kommt das Urteil der Zuschauer zustande?

In einem Interview äußerte sich der studierte Jurist Ferdinand von Schirach über die Wirkung seines Erfolgsstückes Terror: »Ich habe erlebt, wie Zuschauer nach der Aufführung im Foyer blieben, um weiter miteinander zu diskutieren. Alle redeten über den Staat, über unsere Gesellschaft und unsere Zukunft, die Verfassung wurde plötzlich lebendig. Das genau ist es, wofür ich schreibe, für diesen Moment, der alles ermöglicht.«

Foto: Martin Kaufhold

Die Saarbrücker Inszenierung in der Regie von Jonas Knecht unterstreicht die Künstlichkeit des Theaterabends, will nicht vorgeben, ein Gerichtverfahren zu sein. Angefangen bei dem blubbernden Wasserspender über das orchestral gesetzte Rascheln der Gerichtsakten, dem Klackern der Tastatur der Gerichtsschreiberin bis hin zu dem sich drehenden Zeugenstuhl werden akustische und optische Mittel eingesetzt, die den Spannungsbogen der Inszenierung rhythmisieren. Hinzu kommen die überdimensional projizierten Filmaufnahmen der Live-Kamera, die das psychologische Spiel der Schauspieler vergrößern und sie ganz nah an die Zuschauer bringen. Gleichzeitig manipulieren die Filmbilder die Blickrichtung, bestimmen den Fokus der Aufmerksamkeit. Ist der Appell der Vorsitzenden am Anfang des Theaterabends »ausschließlich über das (zu) urteilen, was Sie hier in der Verhandlung hören« nicht eine Illusion? Können wirklich »nur die Beweise, die wir hier erheben«, Grundlage des Urteils sein?

Ferdinand von Schirachs Stück ist eine Versuchsanordnung, ein Spiel, das perfekt durchkomponiert ein ethisch moralisches Dilemma präsentiert. Der eingebaute Entscheidungsprozess macht das Publikum zu Mitspielern und verhilft dem Stück zu seiner Popularität: Terror wurde bereits in elf Ländern auf fünf Kontinenten gezeigt.  Simone Kranz

Salzburger Rede

Unser einziger sicherer Halt, meine Damen und Herren, sind die Verfassungen der freien Länder. Auch wenn es langweilig klingt: nur ihre komplizierten Regeln, nur ihre Ausgewogenheit und Langsamkeit, ordnen unsere schwankenden Gefühle, sie lehnen Wut und Rache als Ratgeber ab, sie achten den Schwächeren, und am Ende sind sie es, die uns vor uns selber schützen.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich ein Theaterstück geschrieben habe, in dem das Publikum ein Urteil fällen soll, wenn ich doch gegen Volksentscheide bin. Theater und Literatur haben ganz andere Aufgaben als Politik und Justiz. Im Theater begegnen wir uns selbst, unseren Reflexen, Gefühlen, Gedanken. Wir ringen mit uns, sind hin- und hergerissen, wir streiten, zweifeln, verwerfen und suchen nach der richtigen Lösung. Das Theater wird so zu einem Forum, auf dem »res publica«, die öffentliche Sache, verhandelt wird. Die Abstimmung dient nur der Anregung, nicht mehr und nicht weniger.

(…) Kein Mensch, auch nicht der Wähler, ist im Besitz der Wahrheit, unsere Zukunft ist niemals alternativlos – im Gegenteil, sie ist offen. Wir können – und dürfen deshalb nur kleine Schritte gehen, jede Veränderung muss korrigierbar sein. Einfache Wahrheiten gibt es nicht, sie gab es noch nie, und Schwarm Intelligenz, zumindest in der Politik, ist am Ende nur ein weiterer Modebegriff für die hässliche Macht des Stärkeren. Tyrannei entsteht durch die Aufhebung der Gewaltenteilung. Und dabei ist es ganz gleichgültig, ob das – wie in der Oper – ein Tyrann selbst tut oder ob es der angebliche Wille des Volkes ist. Gerade in diesen aufgeregten Zeiten müssen wir das Recht gegen die Macht stellen.

Auszüge aus der Festrede von Ferdinand von Schirach zur Eröffnung der Salzburger Festspiel 2017

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IM KREISLAUF

Benjamin Wäntig Drei denkbar unterschiedliche Stücke an einem Abend – was sind die Herausforderungen bei der Erarbeitung, wenn man gleich drei Genres zu bedienen hat?

Wolfgang Nägele Eine der größten Herausforderungen war es für mich, zwischen den drei Stücken komplett umswitchen zu müssen und mit den Darsteller*innen, die mehrere Rollen in unterschiedlichen Stücken übernehmen, ebenso unterschiedliche Figurenprofile zu erarbeiten. Denn durch die Nebeneinanderstellung der Stücke müssen die Unterschiede der Genres umso deutlicher sichtbar sein: »Il tabarro« ist im Wesentlichen ein psychologisches Kammerstück mit drei Personen, »Suor Angelica« – zumindest in der zweiten Hälfte – quasi eine Soloperformance, »Gianni Schicchi« dagegen funktioniert als großes Ensemblestück, das sich durch Slapstick, Konstellationen vieler Figuren und Reaktionen aufeinander auszeichnet.

BW Trotz aller Unterschiede: Worin liegt für euch die Verbindung zwischen den drei »Trittico«-Einaktern? Wie geht ihr mit diesem besonderen Aufbau um?

Lisa Däßler Wir haben für die drei Stücke eine gemeinsame ästhetische Klammer gesucht. Das hatte zunächst auch pragmatische Gründe: Um nur eine Pause zu benötigen, müssen wir schnell von einem Bild ins andere wechseln können. So haben wir die Setzung getroffen, dass die drei Räume aus denselben Elementen bestehen, die in allen drei Stücken neu zusammengesetzt wiederkehren.

WN Die Stücke spielen in unterschiedlichen sozialen Schichten, teilen aber eine gemeinsame Welt. In »Gianni Schicchi«, das in der höchsten Klasse angesiedelt ist, sehen wir eine Inneneinrichtung, deren Bestandteile in »Tabarro« von Schrottsammlern aufgelesen werden, die den Wohlstandsmüll der Oberschicht verwerten. Die Stücke stehen so in einer Art Kreislaufbeziehung zueinander. Das haben wir auch durch kleine Verweise in den Stücken auf die jeweils anderen verstärkt. Beispielsweise tritt die Figur der Frugola, eine der Lumpensammlerinnen aus »Tabarro« noch einmal am Ende von »Gianni Schicchi« auf, wo sie die Objekte einpackt, die sie schon am Anfang gezeigt hat. Umgekehrt schleichen Rinuccio und Lauretta aus »Schicchi« als Amanti schon einmal kurz durch das »Tabarro«-Bild.

LD In unserer Bühnenwelt wird das Moment des Irdischen betont, selbst in dem eigentlich weltabgewandten Klosterbild. Wir befinden uns vielleicht nicht in einem streng logischen Kreislauf, aber alle Figuren dieser Welt müssen mit denselben Ressourcen umgehen.

BW Seht ihr auch thematische Verbindungslinien, die sich durch die Stücke ziehen?

WN Ja, ein gemeinsames Thema aller drei Stücke ist etwa die Leerstelle, die ein Verstorbener bei den Hinterbliebenen hinterlässt: Bei »Tabarro« und »Suor Angelica« ist es ein totes Kind, bei Gianni Schicchi ein gestorbener alter Verwandter. Die drei Stücken werfen jeweils entsprechend ihrer Genres ein anderes Schlaglicht auf dieses Thema.

LD Immer wieder wird daneben die Sehnsucht nach einer anderen Welt thematisiert: Giorgetta sehnt sich nach einem anderen, freieren Leben in Paris, das ihr weder ihr Mann Michele, noch ihr Geliebter Luigi ermöglichen können; die Nonnen sehnen sich nach der Außenwelt; die gierigen Verwandten in »Gianni Schicchi« sind nie zufrieden mit dem, was sie haben, sondern wollen immer noch mehr.

Der Mantel | Angelos Samartzis (Luigi) und Ingegjerd Bagøien Moe (Giorgetta) | Foto: Martin Kaufhold

WN Man könnte zusammenfassen: Es »menschelt« sehr in allen diesen drei Stücken. Wir sehen vielschichtige, berührende Figuren, die Puccini auch gerade in ihren Unzulänglichkeiten sehr genau gezeichnet hat.

BW Puccinis Opernästhetik ist stark dem Realismus verpflichtet, etwa strotzen seine Libretti vor detaillierten Regieanweisungen und kleinteiligen Aktionen. Empfindet ihr das bei der szenischen Umsetzung als ein Korsett, eine künstlerische Einschränkung?

WN Es stimmt, dass man weniger Freiheiten hat als bei anderen Komponisten. Ich finde es jedoch spannend, angesichts der Dichte an vorgegebenen Parametern eigene Lösungen zu finden. Wenn jemand »Reich mir die Flasche« singt, muss man sich bewusst entscheiden und begründen, wenn man szenisch etwas anderes macht. Die Herausforderung Puccini anzunehmen, heißt, sich an seinen Vorstellungen abzuarbeiten.

LD Ich habe versucht, zweigleisig zu fahren: auf der einen Seite Räume zu schaffen, die realistisch für Puccinis Spielsituationen funktionieren, auf der anderen Seite aber auf einer abstrakteren Ebene die erwähnte ästhetische Verklammerung ermöglichen.

Gianni Schicchi | links: Peter Schöne (Gianni Schicchi); rechts: Ensemble | Foto: Martin Kaufhold

Irina Spreckelmeyer Während sich das Bühnenbild mit dem Verlauf der drei Stücke kontinuierlich verändert, wollte ich im Kostümbild klar drei verschiedene Welten erzählen, die in diese Räume getragen werden. Ich sehe sie aber nicht realistisch im engeren Sinn, denn sie haben eine eigene Künstlichkeit oder ästhetische Überzeichnung. Die Arbeiterkluft in »Tabarro« ist keine realistische Milieustudie, zitiert höchstens ein paar konkrete Elemente; auch die Schickeria-Outfits à la Gucci in »Gianni Schicchi« zitieren nur einzelne Stücke und Stoffe. Daneben kommen analog zum Kreislaufgedanken im Bühnenbild bestimmte Elemente immer wieder vor, wie etwa die rote Strumpfhose.

BW Auch dein Nonnenhabit hat ja nicht die Kleidung eines konkreten Ordens zum Vorbild …

IS An dieser Klosterwelt interessiert uns vor allem die Vorstellung von Eingesperrtsein, von Enge, von Bestrafung. Die Kostüme der Nonnen sind eine vereinheitlichende Uniform, gleichzeitig aber auch körperbetont – anders als reale Ordenskleider – und bringen so doch Individualität zum Ausdruck. Darunter verborgen tragen sie rote Strümpfe als Zeichen ihrer geheimen Sehnsüchte. Außerdem war uns für den Orden die Ausstellung von Hierarchie wichtig.

Schwester Angelica | Valda Wilson (Suor Angelica) | Foto: Martin Kaufhold

WN Ich misstraue ja der vermeintlichen Idylle dieses Klosters, die Puccini anfangs in so liebliche und zärtliche Töne setzt. Dass dreimal im Jahr hereinscheinende Sonnenstrahlen und Johannisbeeren den Höhepunkt im Klosterleben darstellen, sagt viel über Verdrängung und Sublimierung der eigenen Wünsche der Nonnen aus. In diesem Kloster gibt es ein starkes System der Überwachung, die Nonnen sind ohne Privatsphäre zusammengesperrt – nicht unbedingt ein positiv konnotierter Ort. Und so verhalten sie sich auch: In dem Moment, als Angelica die Todesnachricht ihres Kindes empfängt, findet keine Solidarität seitens der anderen Schwestern statt; niemand fängt sie in ihrer Trauer auf.

LD Wir haben lange über das Finale von »Suor Angelica« mit Angelicas Wundererscheinung nachgedacht, die bei uns gerade nicht sichtbar in äußeren Zeichen, sondern nur in ihrem Kopf stattfindet, dadurch aber umso härter und eindringlicher wirkt.

BW Nach dem einheitlichen Nonnenorden tritt in »Schicchi« eine vielköpfige Verwandtschaft auf, deren Mitglieder in der rasanten Komödie schnell austauschbar wirken können. Wie gewinnen sie individuellere Züge?

IS Eine Verwandtschaft setzt sich ja immer aus verschiedenen Typen und Charakteren zusammen. Das Libretto enthält in diesem Fall nicht nur allgemeine Charakterisierungen bereit, sondern sogar konkrete Altersangaben. Mit diesen Informationen und dem, was unsere Darsteller*innen mitbringen, habe ich versucht, möglichst unterschiedliche, überzeichnete Figuren zu kreieren – eine breite Form von »Bekleidungslandschaft«, damit man alle klar voneinander unterscheiden kann. Gleichzeitig sind viele Details wie Zitas übergroße Brille oder Marcos extravagante Frisur auch Spielangebote, die unsere Darsteller*innen toll nutzen.

WN Wir haben auch viel über Biografien der Figuren gesprochen, die über das eigentliche Stück hinausgehen. Gerade die zwei Paare Ciesca–Marco und Nella–Gherardo können etwas indifferent geraten. Erstere sind bei uns ein neureiches Yuppie-Paar aus der Kleinstadt, letztere ungleicher: Sie baut einen Erwartungsdruck auf, dem er nicht gerecht werden kann. An solchen Geschichten im Hintergrund zu arbeiten, hat uns allen viel Spaß gemacht.

Gianni Schicchi | Doris Lamprecht (Zita); Algirdas Drevinskas (Gherardo); Peter Schöne (Gianni Schicchi); Bettina Maria Bauer (Nella); Carmen Seibel (La Ciesca) und Max Dollinger (Marco) | Foto: Martin Kaufhold

BW Wir haben zwei Stücke über den Tod, den die Figuren nicht verarbeiten können, die Komödie aber endet mit einem Generationenwechsel und der Aussicht auf eine Zukunft. Auch der Puccini von 1918 stand künstlerisch zwischen diesen zwei Polen: der großen Tradition der italienischen Gesangsoper und dem nostalgischen Bewusstsein darüber, dass die an ein Ende gelangt war, und der Bewunderung der längst aufgekommenen Moderne. In »Il trittico« finden wir beides …

LD Dass Puccini am Ende sogar die vierte Wand einreißt, indem er Schicchi seinen Schlussmonolog ans Publikum richten lässt und so das Spiel als solches entlarvt, ist für seine Zeit tatsächlich etwas Besonderes.

WN Einerseits kam Puccini aus seiner Tradition nicht heraus, wollte es auch nicht unbedingt, aber versuchte trotzdem einen künstlerischen Spagat: Der Einbau von Alltagsgeräuschen oder auch das ironische Selbstzitat aus »La Bohème« in »Tabarro« sind deutliche Zeichen, dass er sich der allgemeinen und künstlerischen Umwälzungen seiner Zeit bewusst war und sich künstlerisch immer weiterentwickeln wollte.

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Warum ein FSJ in der Dramaturgie?

»Was denkst du, sind die Aufgaben einer Dramaturgin?« hieß es in meinem Bewerbungsgespräch Anfang Mai, zu dem ich aufgeregt und mit frisch beendeten schriftlichen Abiturprüfungen erschienen war. Zugegeben, eine naheliegende Frage, wenn man sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Dramaturgie bewirbt. Und trotzdem gar nicht so leicht zu beantworten. »Der Dramaturg ist ein kleiner König, denn ohne ihn läuft am Theater nichts«, heißt es in einem Beitrag von Christian Gampert für die Reihe »Endlich mal erklärt« des Deutschlandfunks. Doch was sind dann Krone und Mantel, Zepter und Reichsapfel für die Dramaturg*innen?

Nach meinen ersten Tagen hier maße ich mir an, für mich selber schon eine Ahnung davon zu haben. Die Krone der dramaturgischen Aufgabenfelder besteht in meinen Augen (Ich bekenne mich schuldig: Es sind die Augen einer Leseratte…) aus dem Lesen und Auseinandersetzen mit Dramen und Texten aller Art. Was gibt es denn Verlockenderes, als bei seiner Arbeit ab und zu einfach in eine andere Welt einzutauchen? Mit Sicherheit nicht immer eine, die schöner ist als die echte, aber eine, die Bilder in den Kopf malt, die es dann später auf der Bühne umzusetzen gilt.

Zepter und Reichsapfel könnte man mit dem Zuschauen bei Proben, dem Schreiben von Programmheften und Ähnlichem vergleichen. Ebenfalls zwei Tätigkeiten, die mich an der Ausschreibung gereizt haben und Grund für meine Bewerbung waren.

Und der Mantel? Um in diesem etwas kitschigen Bild zu bleiben, würde ich den Mantel eines Königs als den Kontakt zu gleichgesinnten, theaterfaszinierten Menschen sehen, den ein Dramaturg/eine Dramaturgin durch seine/ihre Kommunikation mit den Personen auf, vor und hinter der Bühne hat. Ein ziemlich vielseitiger Job also.

Ob irgendwas von dem, was ich hier geschrieben habe, nach den wenigen Stunden, die ich bislang an meinem Schreibtisch in der Schauspieldramaturgie verbracht habe, Hand und Fuß hat? Mit Sicherheit nicht. Aber ich bin ja auch noch keine Königin (es soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch viele Frauen im Berufsfeld Dramaturgie tätig sind), nicht mal eine kleine. Sondern nur so etwas wie eine Besucherin, die mal ausprobieren will, wie es sich in einem Schloss lebt, um vielleicht selber irgendwann eins zu bauen. Und so lange es noch nicht so weit ist: Zuschauen, mitmachen und lernen, denn das ist, was ein FSJ einem ermöglicht. Ich jedenfalls freue mich, mich diesen drei Disziplinen in Zukunft weiter zu widmen.

Eure Lenke

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Auf ein Wort Theaterblog

»FAST ALLES IST POP.«

Gesa Oetting #PEEP! spielt im Kaufhaus, die Spieler*innen
verkörpern verschiedene Spielzeuge. Was erzählen sie uns?

Mona Sabaschus Wir begegnen Spielzeugen, die nach Ladenschluss zum Leben erwachen und sich deprimiert fragen, warum sie Ladenhüter sind. Alle hoffen auf ein Leben außerhalb des Kaufhauses, um ihren Daseinszweck zu erfüllen: zu unterhalten und Freude zu bereiten. Als die Müllpresse droht, bricht Panik aus. Sie beginnen, alle möglichen Strategien durchzuspielen, um ihren Marktwert zu steigern. Singend und tanzend buhlen sie um potentielle Käufer*innen und lavieren sich durch verschiedenste Zuschreibungen, Sehnsüchte und Glaubenssätze unserer Gesellschaft. Zwischen Imagefindung und Selbstoptimierung halten sie uns dabei gehörig den Spiegel vor.

Lea Ostrovskyi in »#Peep!« (Foto: Honkphoto).

Oetting Die Figuren bei #PEEP! äußern sich fast nur über Popsongs – wie fiel deine Wahl auf Popmusik als Ausdrucksmittel?

Sabaschus Mich interessiert die ständige Wechselwirkung, wie Pop uns beeinflusst und wir den Pop. Dabei ist Musik nur ein Aspekt von Popkultur, auf die wir uns in #PEEP! immer wieder beziehen. Fast alles ist Pop und wir sind davon unweigerlich umgeben. Popkultur ist immer auch Produkt gesellschaftlicher Prozesse, reflektiert Diskurse und nimmt diese dabei gleichzeitig für sich ein, um sie kommerziell zu verwerten. Sie ist also total ambivalent und bewegt sich somit in einem aufregenden Spannungsfeld, an dem man sich gut abarbeiten kann!
Das Gespräch führte Gesa Oetting

#PEEP!
Kammermusical von Mona Sabaschus
Mona Sabaschus
B + K Janin Lang
ML Johannes Mittl
C Claudia Meystre
D Gesa Oetting

Mit Bauer, Trapp, Ostrovskiy; Kretschmer, Hutter, Wischniowski

Band: Jochen Lauer, Johannes Mittl, Max Popp, Marc Sauer

Uraufführung: 15. September 2023, 19:30 Uhr,Alte Feuerwache

Weitere Vorstellungen:
September 22., 27., 29., 30.
Oktober 3., 6., 15., 26.

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»Journal einer FSJlerin«

28. August 2023 – Während für alle Schulkinder im Saarland dieser Tag noch in den Ferien liegt, heißt es im Saarländischen Staatstheater wieder: an die Arbeit! Oder um es im Theaterjargon zu sagen:»Schöne neue Spielzeit!«. Dementsprechend sollen alle Neuen im Team des Staatstheaters feierlich begrüßt werden und so heißt es auch für mich um kurz nach zehn: auf in den Zuschauerraum, um zuzuhören wie Kultusministerin Christine Streichert-Clivot, Generalintendant Bodo Busse und der Kaufmännischer Direktor Prof. Dr. Matthias Almstedt ihre Gedanken zur neuen Spielzeit teilen, die altbekannten Gesichter begrüßen und die Neuzugänge im Theater herzlich willkommen heißen.

Die saarländische Ministerin für Bildung und Kultur Christine Streichert-Clivot bei der Begrüßung im Großen Haus. Foto: ©Honkphoto

Die saarländische Ministerin für Bildung und Kultur Christine Streichert-Clivot bei der Begrüßung im Großen Haus.  Foto: ©Honkphoto

Zu letzteren gehöre ich als neue Freiwilligendienstlerin in der Dramaturgie auch. Dennoch bin ich überrascht, als ich auf einmal auf die Bühne gerufen werde und zwischen neuer Souffleuse, neuen Sänger*innen und Tänzer*innen und anderen neuen Kollegen und Kolleginnen auf der Bühne stehe. Kaum bin sind wir im neuen Arbeitsumfeld angekommen und schon stehen wir Neulinge im Rampenlicht – aber so ist das wohl am Theater.

Mit »Daumen hoch« startet Generalintendant Bodo Busse in die Saison 23/24. Foto: ©Honkphoto

Insgesamt herrscht eine aufgeregte Stimmung, nicht nur aufgrund des hohen Besuchs aus dem Kultusministerium, sondern auch, weil es sich für mich ein bisschen anfühlt, wie der erste Tag in einer neuen Klassenstufe – wer sich schon kennt, freut sich über das Wiedersehen und wer neu ist, blickt gespannt und vielleicht ein bisschen ängstlich der Zukunft entgegen. Aber hier ist es dieses »gute Ängstlichsein«, bei dem man eigentlich schon weiß, dass sich alles so fügen wird, wie es soll. Und damit bleibt mir nicht mehr zu sagen als: Auf eine schöne neue Spielzeit!

Eure Lenke