»Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön…« – für die Bewohner eines Städtchens am Deister wohl eher nicht: Zur Schuldentilgung des Landes Niedersachsen wurden sie samt Infrastruktur verkauft und in Containern auf ein Frachtschiff geladen. An einem noch unbekannten Ort soll die Gemeinde als Freizeitpark wiederaufgebaut und begehbar gemacht werden.
Nicht lange, und der Lagerkoller setzt ein. Mitten auf dem Ozean ist man einander hemmungslos ausgeliefert. Dem Gegenüber, und vor allem sich selbst. So manche Beziehung, so manche Geschichte hätte man lieber zurückgelassen, nun drängt sie sich auf. Jakob Noltes Text zeigt das Miteinander, das Reden über das Reden. Was gibt man von sich Preis, was verbirgt man, was projiziert man auf den anderen? Man verrät mehr über sich selbst, als einem lieb ist – wenn man genau hinhört und, in Thorsten Köhlers Inszenierung, hinsieht. Gemeinsam mit Grigory Shklyar (Video und Bildregie) schafft er eine Bildwelt konzentriert auf die nonverbale Reaktion. Nur Hände, Beine, der Körper im Bild, nicht das Gesicht, gerät jedes Zittern der Hände, jedes Ballen zur Faust, unter das Brennglas. Das Ungesagte und das Gesagte verschmelzen.
»…denn da kann man fremde Länder und noch manches andre sehn«, geht das Lied weiter. So manch einer auf dem Frachtschiff sehnt sich aber eher nach der Heimat, nach dem Bekannten. Über den Tellerrand schauen lässt einen allzu oft über das Bisherige und Gewohnte grübeln. Wie geht man mit dem Neuen, mit dem Fremden um? Was ist typisch deutsch? Sonst sind es doch »die Deutschen«, die als Touristen andere Länder und Kulturen bestaunen, die vom Erbe des Kolonialismus bis heute profitieren. Und jetzt wird man verkauft? Im Freizeitpark ausgestellt? Die Ausstattung von Justus Saretz spielt genau damit – mit kultureller Aneignung, mit Alltagsrassismus, mit Vergangenheitsbewältigung. Und mit dem »typisch Deutschen«, mit dem Bild, das man von sich selbst hat, wie man sich gerne präsentieren möchte, und mit dem Bild, das sich die anderen machen.
Bühne und Kostüme schaffen zugleich eine geheimnisvolle Welt, fast mythen- und märchenhaft. Auch Prolog und Epilog des Stücks erinnern an ein Märchen, und bei Thorsten Köhler erklingt »Scheherazade« von Nikolai Rimski-Korsakow dazu. Man erzählt sich Geschichten, vielleicht eben auch Märchen, über sich selbst und die Vergangenheit, so eingepfercht auf einem Schiff. Und dieses Schiff wird, auch ganz Märchen, auf einmal zum Geisterschiff. Die Investorin möchte lieber ein südamerikanisches Pueblo als eine niedersächsische Kleinstadt. Eine Rückführung ist zu teuer. Ohne Kapitän und Crew treibt das Schiff auf dem Ozean, und die Passagiere beginnen zu meutern. Verkauft und nicht abgeholt, orientierungs- und ziellos, frustriert, misstrauisch. Wie wird ihre Geschichte weitergehen, wer wird sich ihrer annehmen, und wo wird man stranden? Ihre Ängste manifestieren sich in einer geheimnisvollen Gestalt, die jede*r gesehen haben will, die aber keiner genau beschreiben kann. Eine mythenhafte Gestalt des Ozeans.
Erlösung naht durch eine Cola, trinkbarer Konsum. Die süßen Perlen des Softgetränks lassen einen Heimat, Herkunft und die eigene Geschichte vergessen. Der Mensch ist längst Ware geworden, nutzbar, verfügbar, sein Schicksal der Ökonomie unterworfen. »Ein Gespenst geht um in Europa. Es heißt Gute Laune.« Gelenkt von der merkwürdigen Sehnsucht, stets glücklich zu sein, irren die Glücklichen und die Traurigen über die Meere und durch ihre Gedanken. Eine melancholische, verdichtete Suche danach, was das Leben lebenswert macht, was den einzelnen ausmacht und was – und vor allem: wer – davon übrigbleibt im Wechselspiel mit Befindlichkeiten, Wirtschaft, Politik und Macht.
Bernd Geiling (Basil Hallward) und Mira Fajfer (Dorian Gray)
Gedanken zu »Das Bildnis des Dorian Gray«
11891 erschien Oscar Wildes einziger Roman »Das Bildnis des Dorian Gray«. Der Roman, der zunächst als Forstsetzungsgeschichte in »Lippincott`s Monthly Magazine« herauskam, veränderte, wie sein Übersetzer Lutz-W. Wolff im Nachwort schreibt, »die englische Literatur des 19. Jahrhunderts nachhaltig«. In einer Bühnenadaption von Regisseur Alexander Nerlich ist »Das Bildnis des Dorian Gray« nun in der Alten Feuerwache zu sehen. Der folgende Text von Simone Kranz ist collagiert mit (in Großbuchstaben gesetzten) Notizen von Alexander Nerlich.
»Ich verkünde die Wahrheiten von Morgen«, lässt Oscar Wilde Lord Henry Wotton, einen der Protagonisten von »Das Bildnis des Dorian Gray« sagen. Die Figur, vielleicht ein Alter Ego des Autors, scheint Recht zu haben. Die Geschichte des jungen Dorian, dessen Jugend und Schönheit jedermann in Bann schlägt und der Macht über andere erlangt, indem er sich zur Projektionsfläche für ihre Wünsche und Sehnsüchte macht, zu einer Abfolge von Bildern stilisiert, scheint der Welt der Selfies und Instagram Accounts entsprungen zu sein.
Aber der Reihe nach. Schon zu Beginn des Romans steht die Erschaffung eines Bildes. Es ist der Maler Basil Hallward der Dorian portraitiert und in ihm eine Inspirationsquelle sieht, die seiner Kunst radikal erneuert. Basil stilisiert Dorian zur utopisch reinen Seele, die gleichzeitig »einen schwarzen undurchdringlichen Hintergrund« habe. Das verwirrt den jungen Dorian – als Waise bei seinem Großvater dem strengen und kaltherzigen Lord Kenzo aufgewachsen, hat er keinerlei Selbstwertgefühl, er sehnt sich nach Zuwendung und einer stärkenden Außenbindung. Das macht es auch Lord Henry Wotton leicht, der Dorian in Basils Atelier trifft und der in ihm »weißen zu allem formbaren Marmor« sieht. Um den Reagenzprozess seines Dorian-Experimentes zu starten, konfrontiert Lord Henry Dorian mit der Endlichkeit seiner Jugend und Schönheit und dem Auftrag sein Leben, allen Erfahrungen zu öffnen, solange ihm seine Jugend noch gegeben sei. Dorian stürzt die Erkenntnis seiner eigenen Vergänglichkeit in Verzweiflung, er wünscht, das Portrait möge an seiner Stelle altern und ihm sei stattdessen die ewige Jugend des Abbildes gegeben. Mysteriöser Weise erfüllt sich dieser Wunsch.
»DER FLUSS, IN DEN NARZISS SCHAUT, DAS FLUIDE, DAS GLITZERNDE, DAS UNGREIFBARE, IST DIE FREIHEIT DES ERSCHEINENS: UNVERBINDLICHKEIT, VERWANDLUNGSFÄHIGKEIT UND LUSTVOLLE SELBSTREPRODUKTION. DIE ARBEIT AN DER EIGENEN LEBENSERZÄHLUNG.«
Das Postulat Lord Henrys, dass man »die Seele durch die Sinne heilen« könne, ist ihm von nun an Lebensmaxime, denn Dorian sehnt sich nach Heilung. Er beginnt ein Leben in Ausschweifungen, das getreu den Vorgaben Lord Henrys ganz dem Augenblick gewidmet ist.
Doch die Heilung stellt sich nicht ein, nicht in der Liebe zu der jungen Schauspielerin Sibyl Vane, die er in den Tod treibt, nicht im Ruin seines Gefolgsmanns Alan Campbell, nicht in den vielen rauschenden Partys und Drogenexzessen in die sich Dorian stürzt. Schließlich ermordet er den Maler Basil Hallward, der sich als erster ein Bild von ihm schuf. Am Ende sitzt Dorian allein in seiner Dachkammer, seinem einstigen Kinderzimmer, umringt von den Schattengestalten der Toten, deren Ende er mitverschuldet hat.
»DAS BILD IST MEHR ALS EIN VERFLUCHTES GEMÄLDE, ES IST ERINNERUNG: SPUREN UND NARBEN DES LEBENS, DIE NICHT VERSCHWINDEN SONDERN ABGESPALTEN WERDEN, VERGEBLICH NATÜRLICH.«
In einem letzten verzweifelten Akt versucht er das verhasste Portrait, das inzwischen zur Fratze geworden ist, zu zerstören, um die Vergangenheit, die sich in dem Portrait abgezeichnet hat, endgültig auszulöschen. Doch passend zum Genre der Gothic Novel zerreißt ein markerschütternder Schrei das Haus. Kein Mensch kann seiner Vergangenheit entgehen.
Larissa Jenne arbeitet als Puppenbauerin und Kostüm- und Bühnenbildnerin | Foto: NataschaZivadinovic
Du hast Bühnen- und Kostümbild studiert, wie bist du zum Figurenbau gekommen?
Ich habe in meiner Studienzeit bei der Langen Nacht der Theater in der Schaubude Berlin ein Figurenstück für Erwachsene gesehen. Ich saß mit offenem Mund da und war völlig ins Stück eingetaucht. Das war so ein intensives, berauschendes Erlebnis. Danach wusste ich: Das will ich auch! Ich will auch mit Figuren und Objekten arbeiten!
In meiner Diplomarbeit entwickelte ich überlebensgroße Frauenfiguren auf Grundlage der Kurzgeschichte »Die drei dicken Damen von Antibes« von Somerset Maugham. Ich beschäftigte mich mit Körperidealen, Schlankheitswahn und Fressattacken, auch mit dem grotesken Körper und der Stärke von Außenseiterfiguren. Dieser erste Versuch, mich einem Thema mit Figurenbau anzunähern, erinnert mich im Nachhinein an einen bildhauerischen Prozess. Mir wurde klar, dass man mit Figurenspiel sehr extrem werden kann.
Nach dem Studium probierte ich Figuren in eigenen Projekten aus, baute dann auch Puppen für andere Figurenspieler*innen und bringe seit einiger Zeit auch eigene Stücke auf die Bühne, bei denen das Material, Figuren und Objekte eine zentrale Rolle spielen.
Erstmal lese ich das Stück, recherchiere zum Thema und höre mir die Ideen der Kolleg*innen im Team an. Ich fertige Skizzen an, sammle Bilder und recherchiere. Ich mag es, erstmal alle Assoziationen zuzulassen und dann langsam einzukreisen, wohin die Reise geht.
»Die Glücklichen und die Traurigen« spielt auf einem verlorenen Schiff, das auf den Weltmeeren treibt. Die auftauchende Figur erscheint wie ein Geist oder Ungeheuer, ist aber in erster Linie Projektionsfläche der Ängste der Menschen auf dem Schiff. Sie sollte wachsen und drohend groß werden können, so der Wunsch des Regisseurs Thorsten Koehler.
In meiner Phantasie ist sie eine Gestalt des Meeres, eine Gestalt der Natur vielleicht, völlig aus der Zeit und dem Rahmen der modernen Schiffspassagiere gefallen. Sie bewegt sich schwebend oder schwimmend und ist relativ unkörperlich, schwer zu fassen. Inspiration lieferten unter anderem die Sirenen, weibliche Figuren, die schon seit der Antike Seefahrern erscheinen und sie locken. Ich liebe die Welt der Mythen. Sie bergen viel Potenzial für ein tieferes Verständnis von Figuren und Zusammenhängen, egal wie alt oder neu das Theaterstück ist – sie sind die Schatzkammer menschlicher Vorstellungen über die Welt.
Während meiner Recherchen sammle ich immer Materialien, die ich eventuell beim Bau verwenden möchte und die mich auf Grund ihrer sinnlichen Eigenschaften wie Farbigkeit, Lichtdurchlässigkeit, ob fließend oder steif etc. inspirieren. Denke ich bei der Figur an Metall oder Malerplane, Seide oder Kartoffelsack? Hat sie überhaupt Augen, Arme, Haare, Schuppen? Ist sie humanoid oder vielleicht ein Insekt? Für diese Figur fiel mir unter anderem glänzende schwarze und weiße Plastikfolie in die Hände, die wunderbar schwebt und auch ein kleiner unheimlicher Link zur Verschmutzung der Meere mit Plastik sein kann.
In Gesprächen mit dem Team werden die Ideen zusammengetragen. Langsam grenzen wir ein, welche Rolle die Figur im Stück spielt und wie sie sein soll. Bei »Die Glücklichen und die Traurigen« habe ich mich regelmäßig mit dem Bühnen-und Kostümbildner Justus Saretz und mit dem Puppenspieler Tizian Steffen abgesprochen. Tizian kam mich mehrmals im Atelier besuchen und hat die Figur in unterschiedlichen Stadien getestet. Gemeinsam entwickelten wir die Handhabung der Figur.
In Arbeit: Die Puppe für »Die Glücklichen und die Traurigen« (Foto: privat)
Was muss eine Puppe können? Was ergeben sich für Möglichkeiten und Spielräume im Theater durch die Arbeit mit einer Puppe?
Eine Puppe erfüllt eine bestimmte Rolle im Stück. Daher muss die Figurenbauerin genau überlegen, was die Figur unbedingt können muss, um technisch sinnvoll spielbar und ausdrucksstark zu sein. Es muss auch klar sein, wie viele Spieler*innen die Figur führen werden. Es ist eine völlig andere technische Voraussetzung, ob ein oder fünf Spieler*innen die Figur führen.
Als Kostümbildnerin muss ich neben der eigentlichen kreativen Idee für das Kostüm natürlich auch die Wünsche der Spielenden beachten. Manchmal fallen ursprüngliche Ideen den Anforderungen wie Bewegungsfreiheit, Tragekomfort und durchaus auch der Eitelkeit zum Opfer. Ich fand im Figurenbau auch reizvoll, ganze Körper zu gestalten, die genau so sind, wie ich das möchte, ohne die Gegebenheiten der menschlichen Körper der Schauspielenden. Material ist nicht eitel.
Die Möglichkeiten im Figurenspiel sind unendlich! Eine Puppe kann eigentlich alles. Sie kann jedwede Form annehmen, Metamorphosen durchmachen, fliegen, auf der Bühne in echt sterben, abgeschlachtet werden und wiederauferstehen. Das geht, weil das Publikum mit den Spieler*innen eine unausgesprochene Verabredung trifft, wo gemeinsam, für die Zeit des Theaterstücks, angenommen wird, dass die Figur auf der Bühne lebt.
Larissa Jenne in ihrem Atelier in Berlin (Foto: privat)
Wie fertigst du deine Figuren an, und wie lange dauert das in etwa? Was verwendest du für Materialien?
Bisher waren die Anforderungen an die Figuren immer so divers, dass es schwierig ist, einen Weg zu schildern oder gar die Arbeitszeit einzuschätzen. Mein Bestiarium umfasst unter anderem zwei Meter große Figuren aus Schaumstoff, Metall und Pappe, die gesamte Belegschaft der Berliner Stadtmusikant*innen plus Kuh und einen Bus voller Schattenspielfiguren. Ein Ziegenwirbelknochen, der aussah wie ein Kopf mit einer langen Nase, inspirierte mich zu einer klitzekleinen Stabpuppe, die ich kurzerhand an einem einzigen Abend baute. An einigen Figuren, die für ein bestimmtes Stück vorgesehen sind und bestimmte technische und optische Voraussetzungen erfüllen müssen, arbeite ich mehrere Wochen.
Ich liebe Materialien! Mein Atelier-Kollektiv nennt sich MATERIAL GIRLS, weil wir ständig sammeln und tauschen und wie die Elstern alles einheimsen, woraus wir noch was machen können. Die Straßen Berlins sind eine einzige Fundgrube. Was für andere Müll ist, ist für mich Material. Am nächsten liegen mir Materialien, die ich vernähen kann, sowie Schaumstoffe und Kunststoffe, die ich schnitzen kann, und natürlich Papier und Pappmaché! Vor kurzem habe ich mit Experimenten mit Plastik und Heißfön begonnen. Dabei spielt der Zufall eine große Rolle. Ich bin gespannt, ob ich damit viel Plastik in neue interessante Formen und vielleicht auf die Bühne bringen kann.
Nachhaltigkeit ist auch im Theater ein Thema. Du bist Expertin für nachhaltige Materialnutzung in den darstellenden Künsten – wie sieht das im Theater konkret, und konkret für dich aus? Auf welche Widerstände stößt du?
Haha. Ja, das großartige Netzwerk SK Freie Szene für Szenograph*innen und Kostümbildner*innen hat mich letztes Jahr eingeladen, zwei kleine Vorträge zu dem Thema Nachhaltigkeit zu halten, da ich schon seit vielen Jahren viel mit Recyclingmaterialien arbeite. Mein Fokus und Know-How liegt auf der Arbeit in der freien Theaterszene. Da gibt es riesige Unterschiede zur Struktur an Stadt- und Staatstheatern, die auf ihre Fundus-Schätze zurückgreifen können und großartige Werkstätten haben, wo Profis Kostüme und Bühnenteile umarbeiten können. In der freien Szene müssen die Künstler*innen Lagerung und Herstellung im eigenen Atelier umsetzen.
In beiden Modellen wird viel dazugekauft und bestellt. Ich kann das verstehen und ich mache das auch. Ich versuche, eine gute Balance zu schaffen zwischen meinem Anspruch, möglichst viel zu recyclen und auf die eigenen Energieressourcen zu achten. Das klappt mal mehr, mal weniger gut.
Ich habe in eigenen Produktionen versucht, auch das Bühnenbild aus Recyclingmaterial herzustellen. Zum Beispiel habe ich ganz viele hölzerne Stellwände aus zweiter Hand aufgekauft und sie dann umgestaltet. Der logistische Aufwand ist groß. Dafür mussten wir weniger Wände bauen und weniger neues Bauholz zukaufen. Bei Kostümen bestand bisher das Problem meist darin, dass z.B. Kostüme doppelt oder dreifach gebraucht wurden, Second-Hand-Kleidung aber oft nur einfach vorhanden ist.
Am einfachsten ist Wiederverwertung tatsächlich im Figurenbau. Eine Figur wird meist nicht gewaschen. Im Gegensatz zu Kostümen trägt sie meist niemand auf der Haut. Die Materialien können viel freier gewählt sein. Ich glaube außerdem daran, dass Material genauso wie Haut Geschichten, Erlebnisse und Erinnerungen speichert und deshalb gebrauchtes Material aus zweiter oder dritter oder fünfzigster Hand neuem Material gegenüber einen entscheidenden Vorteil hat: es gibt über einen geheimen magischen Vorgang seine Aura, seine Biografie an die Figur weiter.
Du hast schon an vielen Theatern Stücke zur Weihnachtszeit inszeniert. Was gefällt Dir besonders an »Der Lebkuchenmann« von David Wood?
David Woods »Der Lebkuchenmann« kommt aus der britischen Weihnachtstheatertradition, und da ich über 25 Jahre in London gelebt habe, ist mir diese sehr nah. Die britischen Weihnachtsstücke sind oft gespickt mit Gags und Aktion und haben nicht selten auch interaktive Elemente, und das ist auch im Lebkuchenmann angelegt. Abgesehen davon erzählt das Stück auch auf enorm charmante Weise eine richtig gute Geschichte: wie man mit neuen Freunden Herausforderungen meistern und gemeinsam Lösungen finden kann, dass ein Status Quo, der sich schon seit langem schwierig anfühlt – bei uns der alte Teebeutel im oberen Regal – durch einen frischen Angang positiv verändern lässt, und natürlich auch, dass man nicht immer gleich alles wegwerfen muss.
Was ist Dir besonders wichtig bei der Arbeit an einem Familienstück, also an einem Theaterstück für kleine und große Zuschauer?
Wir hoffen ja, dass die kleinen Zuschauer von heute unsere großen Zuschauer von morgen werden, also ist mir wichtig, dass wir den Kindern, die kommen, so richtig Lust auf Theater machen. Gleichzeitig versuche ich ein Familienstück so zu inszenieren, dass auch die Erwachsenen, die es sich ansehen, in die Geschichte gezogen werden und vielleicht das ein oder andere Augenzwinkern miteinander teilen.
Warum wolltest Du gerne, dass für Deine Inszenierung in Saarbrücken der englische Theatermusiker Simon Slater neue Songs schreibt?
Simon Slater hat inzwischen für viele meiner Arbeiten Musik geschrieben. Ich wollte gerne, dass er beim Lebkuchenmann dabei ist, weil er, obwohl er regelmäßig für Londoner Inszenierungen am National Theatre, im West End oder am Globe Theatre Theatermusik schreibt, auch alle Jahre wieder für Weihnachtsstücke komponiert. Seine Erfahrung mit und Begeisterung für Familienstücke ist wunderbar, die Songs die er schreibt, machen einfach gute Laune – den Figuren auf der Bühne und uns im Zuschauerraum. Da er mit der britischen Weihnachtsstücktradition aufgewachsen ist, wusste er sofort, was für Songs unser Stück braucht.
Was bedeutet es für Dich, Premiere zu haben?
Premiere mit einem Familienstück zur Weihnachtszeit zu haben ist immer etwas ganz Besonderes. Man kann sich während der Proben zwar ein ungefähres theoretisches Bild davon machen, worauf die Kinder wie reagieren, aber wenn dann nach den leeren Stühlen im Zuschauerraum, die man während der Probenzeit hatte, die Reihen zur Premiere voller junger Menschen sind, und man das erste Mal erlebt, wie sie sich lautstark freuen und mitgehen, ist das einfach großartig.
Am Valentinstag 1998 betrat am kleinen New Yorker Jane Street Theatre eine Figur die Bühne, die Kultstatus erlangen sollte: Hedwig. Als Kämpferin, Rockstar, Versehrte, Heimatlose, sang sie sich in die Herzen einer internationalen Fangemeinde und traf einen Nerv der Zeit.
Es war ein Überraschungserfolg für den Schauspieler John Cameron Mitchell und den Musiker Stephen Trask, die sich Anfang der 1990er Jahre zufällig in einem Flugzeug kennenlernten, ihre Leidenschaft für Rockmusik teilten und in Sachen Karriere beide auf der Suche nach dem nächsten großen Ding waren. Trask spielte damals in der Band eines Nachtclubs in Tribeca, dessen SqueezeBox-Parties zum Hafen wurde für »all the strange Rock’n’Rollers«, Punk-Rocker, die queere Community, Dragqueens und -kings, die eine Alternative zu den üblichen House- und Technoveranstaltungen suchten. Dort entwickelte Mitchell auf Grundlage von autobiografischen Episoden – als Sohn eines US-Generals lebte er zeitweise in Berlin; in Kansas war er mit einer deutschen Militärsgattin befreundet, die ihn zu Hedwig inspirierte – mit Stephen Trasks Songs und einer gehörigen Portion Glamrock jenen Charakter, der schließlich international für Furore sorgen sollte. Nach mehr als 850 Vorstellungen Off-Broadway wurde die Geschichte mit Mitchell in der Hauptrolle verfilmt. Die erste Broadway-Produktion 2014 mit Neil Patrick Harris als Hedwig gewann zahlreiche Preise, u. a. mehrere Tony-Awards. Im Mainstream des kommerzialisierten Betriebes angekommen, gecovert, kopiert, hat sich Hedwig ihren Underdog-Charme bewahrt. Sie tingelt mit ihrer Band The Angry Inch weiterhin über die großen und kleinen Theaterbühnen und erzählt in zehn Songs, deren musikalischer Horizont von Glamrock über Punk und Country bis zu Rockballaden reicht, ihre Geschichte.
Die Musik war Hedwigs erste Liebe. Aufgewachsen als Hansel Schmidt in Ostberlin, vom Vater verlassen und der Mutter mehr geduldet als behütet, hört der einsame »irregeleitete Girlyboy« in der Enge seines Ofens amerikanische Rocksongs aus dem US-Army-Radio und in ihnen eine ungekannte Freiheit. Mitte zwanzig, ungeküsst und der Universität verwiesen, öffnet sich eine Tür in eine bessere Welt in der Begegnung mit dem amerikanischen GI Luther Robinson. Auf Spaziergang durch die Ruinen Berlins verguckt sich dieser in den zarten Hansel und lockt ihn als Sugar Daddy mit Milky Ways und Gummibärchen in den goldenen Westen. Den Geschmack von Liebe und Freiheit im Mund willigt Hansel zur Hochzeit mit Luther ein. Mit Perücke, gefälschtem Pass und dem Namen der Mutter fehlt noch ein entscheidendes Detail zum Glück: Um heiraten und ausreisen zu können, muss er ganz Frau werden. Luther und die Mutter drängen ihn zu einer Geschlechtsoperation. Doch der Eingriff geht schief und hinterlässt zwischen ihren Beinen jenen »angry inch«, eine zollgroße vernarbte Wulst, die sie fortan zwischen den Geschlechtern stehen lässt. Das erhoffte Glück weicht nüchternen Tatsachen. Schon bald von Luther verlassen, muss Hedwig in der Tristesse eines Trailerparks im tiefsten Kansas am Fernsehbildschirm mitansehen, wie in Berlin die Mauer fällt. Fortan schlägt sie sich mit Gelegenheitsjobs durch – Auftritte in schäbigen Bars, Babysitten, Prostitution. Sie nimmt sich des Teenagers Tommy an, bringt ihm alles über Musik bei und meint in ihm ihre große Liebe, ihr verlorengeglaubtes Gegenstück gefunden zu haben. Doch auch hier findet sie kein Glück: Tommy lässt sie fallen, als sich seine große Rockkarriere anbahnt. Während er in Stadien ihre Songs spielt, reist Hedwig ihm mit ihrer Band The Angry Inch hinterher. Immer an ihrer Seite ist Roadie-»Ehemann« Yitzhak, der Hedwigs permanenten Provokationen und Attacken infolge ihrer eigenen ausgesetzt ist, bis auch sein Moment kommen wird.
Hedwigs Geschichte kann als düsteres Märchen über ein Kind gelesen werden, das ohne Liebe aufwachsen musste und schon früh seine Einzigartigkeit entdeckt. Ihre Suche nach Liebe und Vervollkommnung fußt auf einer Episode in Platons »Symposium«, auf die der Song »The origin of love« Bezug nimmt. Im Mythos von den Kugelmenschen erklärt dort der Komödiendichter Aristophanes die Herkunft sexueller Vorlieben in Form einer Allegorie: Ursprünglich war die Menschheit in drei Geschlechter unterteilt, denn es gab neben männlichen und weiblichen ein drittes, das Anteil an beiden hatte. Ihre Körper waren von kugelförmiger Gestalt mit zwei Köpfen, vier Armen, vier Beinen und zwei Geschlechtsteilen. Zeus, der die Kraft und Übermacht der Kugelmenschen fürchtete, schnitt sie in zwei Hälften, damit sie den Göttern nicht gefährlich werden konnten. Seitdem sind die Menschen von der Suche getrieben, sich mit ihrer verlorengegangenen ursprünglichen Hälfte zu vereinen. Aus Mitleid verlegte Zeus ihre Genitalien nach vorn, damit sie Kinder zeugen oder wenigstens in der Vereinigung Befriedigung finden konnten. So kam das Begehren in die Welt. Jener Mythos, der letztendlich ein binäres Geschlechterverständnis nicht überwinden kann, wird zu Hedwigs Urerzählung. Ihre Liebesphilosophie steht somit konträr zu der katholisch geprägten Sicht Tommys, der sein Verständnis des Begehrens auf die Genesis und den Sündenfall bezieht. Bezeichnenderweise tauft sie ihn mit dem Namen »Gnosis« für Erkenntnis. Dass sie diese durch die schmerzvolle Enttäuschung revidieren muss, sich auch hier etwas vorgemacht zu haben, ist eine weitere Etappe auf ihrem Weg zu sich selbst.
Hedwig erzählt auch über die transformative Kraft der Kunst. Auf der Grenze zwischen den Geschlechtern stehend, begegnet sie der körperlichen und seelischen Versehrtheit, dem Gefühl der Unvollständigkeit und dem Ausloten der eigenen Identität mit einer Performance. Schillernd, erotisch, provokant: Glam heißt das Zauberwort, das hier Pate steht für einen Stil, der in den 1970er Jahren ausgehend von Großbritannien zahlreiche kulturelle Bereiche wie Mode, Musik, Film und bildende Kunst erfasste. Glam lässt sofort an extravagante Outfits, wilde Frisuren und grelle Schminke denken. Der Bruch mit allem Natürlichen, Authentischen – wie es die Hippiebewegung intensiv auslebte – bedeutete eine Überbetonung des Künstlichen in jeglicher Hinsicht. Der eigene Körper wurde mit Hang zum Exhibitionismus eingesetzt, um sich außerhalb der Norm zu verorten. Mit Strategien der Selbstinszenierung konnte man in den Status eines strahlenden Superstars, eines schillernden Aliens oder eine glamouröse Hollywood-Rock-Diva gehoben werden. Begriffe von Weiblichkeit und Männlichkeit begannen sich hin zu einem diffusen Geschlechterverständnis aufzulösen: Jungs trugen Frauenkleider, Mädchen spielten die harten Kerle, androgyne Facetten wurden betont. Die Tradition des Crossdressings in den performativen Künsten als Vorreiter des Drag beginnt sich hier weiter auszudifferenzieren. Das Spiel mit wechselnden Rollen und Masken durchdringt die (Selbst-)Darstellung von Leben und Identität in einer Welt moderner Konsumkultur und Massenmedien.
Unter dem glitzernden Mantel der Rockmusik steckt eine Pre-Punk-Attitüde, die die soziale Ordnung gehörig in Frage stellt. Indem Identitäten als fluide, zersplittert und wandelbar verstanden werden, stellt Glam implizit die Frage, ob so etwas wie vorgegebene Identität überhaupt existiert.
David Bowie ist mit seinen außerirdischen Inszenierungen, den androgynen Verwandlungen und ständigen Neuerfindungen sowie der Massenkompatibilität seiner Musik unerreichter Prototyp dieser Zeit. Bei aller Ambivalenz ihrer Inszenierungen und der nicht zu unterschätzenden Bedeutung für die homosexuelle Emanzipationsbewegung ist die Glam-Rock-Szene doch vorrangig männlich: Neben Marc Bolan und T.Rex, Slade, Roxy Music, The New York Dolls oder auch Lou Reed, um nur einige zu nennen, ist Suzie Quatro in den 1970ern eine der wenigen weiblichen Superstars. Unter Einfluss der sich überlappenden Glam-Punk-Rock-Szene standen auch Musiker wie Iggy Pop und Lou Reed oder später Bands wie Queen, Kiss oder The Runaways mit Joan Jett. Die Strahlkraft des Glam reicht weit über die Zeit hinaus zu Punk, Disco, bis hin zu unterschiedlichen Pop-Rock-Größen von heute wie Peaches, Marilyn Manson, Beyoncé oder Lady Gaga, die das Erbe des Glam auf je ihre Art weitertragen.
Hedwig reiht sich mit ihrer Performance ein in die Riege der ikonischen Rockstar-Figuren, die mit dem Ungreifbaren und Doppeldeutigen spielen. Unter der schillernden Oberfläche offenbaren die Songs immer weitere Facetten ihrer selbst und lassen ein bisschen tiefer hören, ein bisschen mehr verstehen und fühlen, wer sich unter all den Schichten eigentlich verbirgt.
BW Was hat dich daran gereizt, dieses Stück zu inszenieren und zu choreographieren?
DV Für die Premiere der Produktion in Düsseldorf inmitten der Pandemie im Herbst 2021 haben wir ganz pragmatisch Stücke gesucht, die mit einer kleinen Besetzung auskommen. Deshalb haben wir das Stück dort auch in einer kleineren Orchesterfassung gespielt. Nichtsdestotrotz hat mich dieses Stück schon länger fasziniert, weil es wie ein gruseliger Thriller ist. Es passt gut in eine Zeit, in der von Kriminalgeschichten und True-Crime-Podcasts eine große Anziehungskraft ausgeht.
Bei der intensiveren Beschäftigung ist mir aufgefallen, wie stark das Libretto die Psychologie der Figuren betont. Das entspricht sehr meinem Zugang zum Regieführen, nämlich eine Welt aus den Figuren, aber auch aus ihren Widersprüchen zu erschaffen. Dabei kam die Idee auf, die Räume, die sich hinter den sieben Türen in der Burg befinden, nicht nur – wie im Libretto vorgesehen – über Lichtstrahlen zu erzählen, sondern ihnen eine »Seele« zu geben: durch die in der Burg gefangenen Seelen. Erst am Ende stellt sich heraus, dass die drei Tänzerinnen, deren Rollen zunächst geheimnisvoll bleiben, Blaubarts Gefangene sind.
BW Die Oper nimmt zwei Strömungen ihrer Entstehungszeit auf: die Psychoanalyse, also der Beschäftigung mit der Psyche eines bestimmten Menschen, und den Symbolismus, der von Konkretem abstrahiert. Was bedeuten die Türen vor diesem Hintergrund?
DV Die Türen stehen natürlich für Blaubarts dunkles Seelenleben, in das Judith Licht und Wärme zu bringen versucht. Aber en détail ist das gar nicht so klar, analog zur komplexen menschlichen Psyche. Sie sind in unseren Augen nicht einfach biographische Stationen Blaubarts, sie folgen keinem stringenten Programm. Wir sind daher schnell zu dem Schluss gekommen, dass jede Tür einer eigenen Logik gehorcht – Blaubart zeigt etwa bereits im Libretto manche bereitwillig vor, andere nicht. Wir haben versucht, die Essenz aus jedem Moment des Stücks herauszuziehen. Der Kontext des ganzen Stücks ergab sich dann aus den einzelnen Momenten heraus und nicht umgekehrt.
BW Wir sehen eine Paarbeziehung, die permanent zwischen Anziehung und Abstoßung changiert. Was treibt Blaubart und Judith an?
DV Eine besondere Herausforderung, vor allem natürlich für die Sängerin, ist Judiths erster Auftritt zu Beginn, denn wir wissen wenig über ihre Motivation, sich mit Blaubart einzulassen. Wir erfahren, dass sie zuvor einen Lebensplan hatte und heiraten sollte. Offenbar war ihr das nicht spannend genug, sodass sie mit Blaubart durchbrennt auf der Suche nach Intensität, wie es unser Bühnenbildner Markus Meyer treffend gesehen hat. Eine Art Angstlust fesselt sie an Blaubart, denn sie kennt die Gerüchte um ihn. Auch er selbst spricht das an und beruft sich damit im Stück auf das alte Blaubart-Märchen, demzufolge er seine drei ersten Frauen umgebracht hat – was bei Bartók ja anders ist: Hier versucht er sie zu »sammeln«, zu konservieren. Mit diesem Hinweis lässt er sie die Gefahr spüren und so beginnt ein Spiel aus Verlockung und Risiko.
Andererseits denke ich, dass Blaubart tatsächlich auf der Suche nach der wahren Liebe ist. Bei zu viel Nähe allerdings kehrt sich das um. Er hat offensichtlich eine Art Persönlichkeitsstörung, die ihn zum Täter macht, der die Frauen fängt und festhält: in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Das finale Bild von Eis und Kälte haben wir in Anspielung auf die Kryotechnologie gewählt, die durch Einfrieren versucht, ein Leben zu bewahren und bis in bessere Zeiten zu verlängern.
BW Judith könnte ja im Prinzip jederzeit gehen, wenn sie wollte. Wie siehst du ihr Verhalten in dieser Situation?
DV Lange konnte ich nicht nachvollziehen, warum sich Judith am Ende freiwillig in die Reihe der gefangenen Frauen einreiht. Sie gibt schließlich beim Machtpoker auf, ist völlig gebrochen und machtlos. Sie scheint sich ihm so sehr ausgeliefert zu haben, dass sie nicht mehr wegkommt.
Gerade das ist ein häufiger Widerspruch, wenn es um das Verhalten in toxischen Beziehungen geht: Menschen sehen keinen Ausweg, obwohl sie vernünftigerweise einfach die Koffer packen und die Beziehung beenden sollten. Stattdessen sind sie psychisch gefangen. Ab der Tür, hinter der sich der Garten befindet, geht es auch Judith so, weil Blaubart die Oberhand gewonnen hat. Am Anfang hat man das Gefühl, dass Judith die Seelenreise steuert; er vermittelt ihr dieses Gefühl, indem er sich selbst kleinredet. Damit entlockt er ihr immer stärkere Liebesbekundungen und macht sie umso abhängiger.
BW Wenn es sich um ein inneres Gefängnis handelt, wofür dann steht die Burg?
DV Die Burg ist eines der vielen Symbole, die das Stück aufruft. Für mich war es interessanter, von der Burg als konkretem Raum zu abstrahieren, um einen Seelenraum darzustellen. Im Stück wird das Gemäuer kaum beschrieben, es wird eher auf die ständige Dunkelheit hingewiesen. So wirkt die Burg auf Judith wie ein großes Geheimnis.
Neu ist in der Version, die wir hier für Saarbrücken erarbeitet haben, dass sich die Burg durch ein Tänzerkollektiv manifestiert. Man könnte die Tänzer als allegorische Gestalten bezeichnen, die keine konkrete Aufgabe im realistischen Sinn erfüllen, sondern analog zur Idee der Burg als Nicht-Ort abstrakte Wesen sind. Sie lassen die Ungreifbarkeit der Seelenzustände Gestalt werden.
BW Bartóks Musik ist eine Opernmusik, die sich sehr eng aus der ungarischen Sprache speist. Wie choreographiert man eine solche Musik?
DV Zunächst freue ich mich, in Saarbrücken endlich Bartóks große Originalbesetzung im Orchestergraben zu hören. Seine Musik erzählt, teils auch mit sehr spielerischen, fast folkloristischen Motiven, was unter der Oberfläche des Texts passiert. Außerdem schafft sie einen großen Gesamtbogen: Es gibt keine Unterteilung in Szenen, alles ist beständig im Fluss. Selbst Anfang und Ende der Oper markieren keine Zäsuren, sondern wirken, als hätte die Musik längst begonnen bzw. würde sich weiter fortsetzen. Ein geniales Stück!
Als Choreograph gibt es verschiedene Wege, Musik zu begegnen: Man kann die Musik in ihrer Struktur und Form im Tanz visualisieren, ihre Stimmung in tänzerische Bilder überführen oder ihr etwas ganz Eigenes, Komplementäres entgegensetzen. Ich habe in diesem Stück mit allen drei Wegen gespielt. Es gibt sehr konkrete Momente, in denen man die Musik zu sehen glaubt bzw. ihre Atmosphäre unmittelbar umgesetzt wird. Daneben existieren auch Passagen wie die des Tränensees hinter der sechsten Tür, in der sehr ruhige Musik auf hektische, schnelle Bewegungen der Tänzer stößt, die die latente Unruhe, aber auch Trauer der Szene zum Ausdruck bringen. Ebenfalls in der Choreographie wollte ich mir so die Freiheit bewahren, die Besonderheit eines jeden Moments ohne ein starres System darzustellen.