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Hinter dem Vorhang

ABSCHIED VON EINER PRODUKTION

30. April 2020 – heute hätten wir die 1. Hauptprobe unserer Produktion »Die Passagierin« von Mieczysław Weinberg gehabt. Ein kleines Virus hat nicht nur den Theaterbetrieb lahmgelegt, sondern auch ein ganzes Land, ja unsere ganze Welt in den Ausnahmezustand gebracht. Erschreckend für mich, wie schnell das gehen kann, wie fragil selbstverständlich gewordene Freiheiten sind und wie schwer es ist, in diesen Zeiten hoffnungsfroh nach vorn zu schauen und kreativ zu bleiben. Und dennoch, ich bin gesund, habe ein Dach über dem Kopf, genügend zu essen und im Gegensatz zu vielen noch Arbeit. Was sind für mich da Einschränkungen, die helfen können, durch diese Pandemie zu kommen? – Peanuts! Andere haben mit Schwerwiegenderem zu kämpfen, mit Krankheit und Sorgen um die wirtschaftliche Existenz. Wie wichtig sind da menschliche Zuwendung – das geht auch mit Abstand – und nicht Denunziation, Solidarität und nicht Missgunst.

Wenn ich jetzt die Bücher, die in den letzten Wochen meinen Schreibtisch belagerten, und die alle im thematischen Zusammenhang mit der »Passagierin« stehen, die von der Geschichte der Verbrechen in Auschwitz berichten, in den Schrank stelle, wird mir derzeit umso mehr bewusst, wie unsagbar grauenhaft der Aufenthalt dort war und wieviel Kraft aus Glauben und Kunst erwuchs. Den Menschen war klar, sie werden nicht überleben, sie werden in Rauch aufgehen und da gab es welche, die taten das Ungewöhnliche, sie lebten im Moment und sie waren für andere da. Ein Überlebender berichtete, dass er Männer hinter der Baracke mit einer Geige und einer Mundharmonika sah und einige tanzten. Sie lebten von gestundeter Zeit. Nie darf die Menschheit je etwas wie den Holocaust wieder zulassen. Wie kam es dazu, dass Menschen zu monströsen Verbrechern mutieren und sich nicht einmal einer Schuld bewusst waren, denn sie taten ja nur ihre »Pflicht«, sie gehorchten einer übergeordneten Macht. Und ich stelle mir die Frage, die sich auch Franz Maciejewski in »Ein Deutsches Nachdenken im Schatten des Großen Krieges« (Lettre International 122) stellte:

»Welche Verkettung von Umständen und Ereignissen, Personen und Handlungen musste zusammenkommen, damit Menschen die Massenmorde des Holocaust, die Verfolgung und Ermordung von Millionen unschuldiger Zivilisten, denken, planen und durchführen konnten? Woher stammte der dämonische Vernichtungswille der nationalsozialistischen Täter, wie stand es um die Seelenstände der >normalen< Deutschen, die jene nicht nur gewähren ließen, sondern mitmachten, dabeistanden, zuschauten?«

Mieczysław Weinberg, der als Jude auch fast dem stalinistischen Faschismus zum Opfer gefallen war, ist mit dieser Oper ein wahres Wunder gelungen. Sie gibt mit Sicherheit keine Antworten auf die vorangestellte Frage, aber ihre Musik lässt menschliche Schicksale spürbar werden und ist der vielleicht glücklichste Versuch von Erinnerungskultur.

Achten wir auf die Errungenschaften unserer Demokratie, arbeiten wir an einer Welt der Gewaltfreiheit und der Menschlichkeit, bleiben wir menschlich und solidarisch auch in ungewöhnlichen Zeiten.

Und nun lege ich auch noch den Klavierauszug von »Die Passagierin« in den Schrank, in der Hoffnung, ihn in einer der folgenden Spielzeiten wieder zur Hand nehmen zu können, und lese das Vorwort von Dmitri Schostakowitsch:

»Ich werde nicht müde, mich für die Oper »Die Passagierin« von M. Weinberg zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört. Die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk und dazu vom Thema her ein höchst aktuelles. Die moralisch-sittlichen Ideen, die der Oper zugrunde liegen, seine Geistigkeit und sein Humanismus können den Zuhörer nicht unbeeindruckt lassen … Die Musik der Oper erschüttert mit ihrer Dramatik. Sie ist prägnant und bildhaft, in ihr gibt es keine einzige >leere<, gleichgültige Note. Alles ist vom Komponisten durchlebt und durchdacht, alles ist wahrheitsgetreu und mit Leidenschaft ausgedrückt.

Ich verstehe diese Oper als eine Hymne an den Menschen, eine Hymne an die internationale Solidarität der Menschen, die dem fürchterlichsten Übel auf der Welt, dem Faschismus, die Stirn boten …

>Wenn das Echo ihrer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde<, – diese Worte des französischen Kommunisten und Dichters Paul Éluard haben die Autoren der Oper als Motto vorangestellt. Der Appell an das Gedächtnis, d.h. auch an das Gewissen eines jeden von uns hat einen tieferen Sinn. Damit sich die Schrecken der Vergangenheit niemals wiederholen, müssen wir uns an diese Vergangenheit erinnern und jene, die in den Jahren des Krieges ihr Leben für unser Leben und unsere Freiheit gelassen haben, in Ehren und im Gedächtnis behalten …«

Renate Liedtke,
Musikdramaturgin