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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

ANDERS! IN WELCHER WELT? – LESEN.

Und wieder liegt eine ereignisreiche (Spiel-)Zeit hinter uns. Auch in diesem Jahr stapelten sich die Bücher, Stücke, Libretti, Noten, Aufsätze, Zeitschriften und Zeitungen, die Liste unserer Lesezeichen im Browser wurde länger, Briefe, Postkarten, Postings … Das Lesen ist des Dramaturgen, ja was eigentlich? Die Grundlage des Berufes, ja. Aber Lesen kann und ist so viel mehr. Es ist das Eröffnen von Welten. Anderer Welten. Neuerer. Besserer. Manchmal auch Schlechterer. Das Eröffnen von Utopin. Dystopien. Ähnlich, aber doch ganz anders als das Theater, lädt das Lesen ein, neue Denk- und Spielräume zu betrachten, zu durchschreiten, zu beobachten, vielleicht sogar zu verändern.

Lesen verbindet, es verbindet uns als Gesellschaft, es gibt Anlass zum Diskurs, zur Diskussion, zum gemeinsamen Reden, Streiten, Lachen oder vielleicht auch Weinen. Und so habe ich auch in diesem Jahr meine Kolleginnen und Kollegen gefragt, was sich so auf ihrem Bücherstapel sammelt.

Den Anfang macht Chefdramaturg Horst Busch:

LUSTPRINZIP

Roman von Rebekka Kricheldorf

Als Theatergänger*in kennt man Sie. In Saarbrücken konnte man von ihr u.a. »Werwolf« oder »Der große Gatsby« auf der Bühne erleben. 2021 hat Rebekka Kricheldorf ihren ersten Roman geschrieben. Wer ihn noch nicht gelesen hat, kann sich auf eine rasante Reise in das Berlin der Neunziger Jahre freuen. Wahrhaftig, klug und wie immer witzig geschrieben. So lassen sich die Abgründe des Lebens ertragen.

Schauspieler Sébastien Jacobi meint zum Spielzeitmotto:

ANDERS – IN WELCHER WELT?

Wie Walter Benjamin richtig bemerkt: Um unser jetziges Jahrhundert zu verstehen, müssen wir das Vorherige genauer betrachten… Tauchen wir also in die 70er, 80er, 90er des letzten Jahrhunderts ein:

Und so empfiehlt er …

Ingrid Caven, Ein Gespräch mit Ute Cohen
»Chaos? Hinhören Singen«

Wer sich in unserer entzauberten Welt noch für die Poesie des Drecks interessiert – hier zu finden: in den Gedankenwelten der als Ingrid Schmidt in Saarbrücken geborenen großartigen Ingrid Caven. 

Der Empfehlung Horst Buschs schließt er sich ebenfalls an:

Rebekka Kricheldorf: »LUSTPRINZIP«

Auch dies für Alle, die einer Zeit der Verausgabung in Sehnsucht, des Exzesses und des glamourösen Scheiterns hinterher trauern. Beatgeneration goes 90er, als Berlin noch damit prahlte »arm aber sexy« zu sein. 

Von Rebekka Kricheldorf, die nicht nur schon einmal die Poetik Dozentur in Saarbrücken inne hatte, sondern auch die Autorin der am Saarländischen Staatstheater aufgeführten Stücke  »Werwolf« (2018/19) und »Der Große Gatsby« (2021/22) ist, hat ihren ersten Roman geschrieben. 

… zum Abtauchen in die philosophische Welt der 90er Jahre empfiehlt er …

Byung-Chul Han
»Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie«

Wer das Thema der postfaktischen Informationsgesellschaft und dem Verlust des Pathos der Wahrheit auf hohem philosophischen Niveau, aber dennoch lesbar, vertiefen möchte- dem sei Byung-Chul Han empfohlen!

Ballettdramaturg und Compagnie-Manager Klaus Kieser empfiehlt in ungewissen Zeiten ein Plädoyer eben genau dafür:

Anne Dufourmantelle: »Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse«

Nicht mehr ganz neu, doch in unserer bewegten Gegenwart nach wie vor lesenswert. 2011 im französischen Original und 2018 auf deutsch erschienen, verbindet die Autorin »auf vornehmste Art philosophisches Denken mit gesellschaftlicher Realität« (Süddeutsche Zeitung).

Luca Pauer, Leiterin des Jungen Staatstheaters und der Theaterpädagogin sowie Leiterin der sparte4, ergeht es so, wie vielen von uns, wenn der Bücherstapel wächst und wächst, die Zeit aber leider nicht mehr wird:

Meine Sommerlektüre ist »Stillleben« von Antonia Baum. Ehrlich gesagt liegt es schon seit Oktober 2021 auf meinem Schreibtisch. Es war die Initialzündung für unser neues Projekt »Oh Mama!« in der sparte4. Rebekka David wird Regie führen und ich freue mich sehr auf die Zusammenarbeit, auf Interviews, die wir mit Menschen aus Saarbrücken dafür führen werden und neue Perspektiven auf dieses Thema.

Maria Zakharine ist Souffleuse im Schauspiel, das Leben gehört auch für Sie zum Arbeitsalltag. Aber nicht nur. Ihr Literaturtipp ist ein richtiger Klassiker:

»Doktor Shiwago«, Teil 13 (1956) von Boris Pasternak ist eines der großartigsten Werke aus der russischen Literatur; ich interpretiere es natürlich in Bezug auf unser Spielzeitmotto und nicht zuletzt bewundere ich, wie aktuell dieser Roman heute immer noch ist.

Hier ist das wohl eindrücklichste Zitat daraus:

»Das größte Unglück, die Wurzel alles späteren Übels war der Verlust des Glaubens an den Wert der eigenen Meinung. Man ging davon aus, daß die Zeit, in der man den Eingebungen des sittlichen Gespürs folgte, vorüber sei, daß man jetzt mit der Stimme der Allgemeinheit zu singen und nach fremden, allen aufgezwungenen Vorstellungen zu leben habe. In wachsendem Maße begann die Herrschaft der Phrase, anfangs der monarchistischen, später der revolutionären Phrase. Diese Verirrung der Gesellschaft war allumfassend und ansteckend. Alles geriet unter ihren Einfluß. Auch unser Hauswesen hielt dem Verhängnis nicht stand. Es geriet ins Wanken. Statt der natürlichen Lebendigkeit, die stets bei uns geherrscht hatte, drang ein Teilchen der idiotischen Deklamiersucht auch in unsere Gespräche, es war ein zur Schau gestelltes, obligatorisches Herumklügeln über obligatorische Welthemmen…«

Claudia Reisinger ist Leiterin des Künstlerischen Betriebsbüros und Disponentin Schauspiel. Auf ihrem Bücherstapel liegen diesen Sommer drei Werke ganz weit oben:

»Die Geschichtensammlerin« von Jessica Kasper Kramer:

Ein Mädchen erhebt ihre Stimme, um die zu retten, die man zum Schweigen bringen will … Ein mitreißender und zugleich poetischer Roman für alle Leser von »Die Bücherdiebin« und »Der Schatten des Windes«.

»Das Gefährlichste, was man in unserem Land tun konnte, war: zu schreiben.«
Ileana sammelt Geschichten. Manche sind Märchen, andere handeln von der Vergangenheit, und die gefährlichsten erzählen die Wahrheit. Wie die Gedichte von Ileanas Onkel Andrei. Doch die Wahrheit kann tödlich sein im kommunistischen Rumänien des Jahres 1989, wo Lebensmittel, Strom oder warmes Wasser knapp sind und die Menschen in ständiger Angst leben. Als Andrei verschwindet, ist die ganze Familie in Gefahr. Ileanas Geschichtensammlung wird von ihrem Vater vernichtet, sie selbst zu den Großeltern aufs Land geschickt. Doch die Securitate folgt ihr bis in die Wälder der Karpaten. Nun braucht Ileana eine Geschichte, die Mörder aufhalten kann …

»Wo man im Meer nicht mehr stehen kann«  von Fabio Genovesi

Der 6jährige Fabio hat es nicht leicht: Seine »10 Großväter«, die vielen unverheirateten Brüder seines Opas, reißen sich nur darum, ihn zu den kuriosesten Unternehmungen mitzunehmen. Erst in der Schule merkt Fabio, dass man als Kind auch mit Gleichaltrige spielen kann – doch da ist seine Rolle als Außenseiter schon vorprogrammiert. Die Kindheit am (und über weite Teile auch im) Meer ist für den Jungen ein ebenso großes Abenteuer wie die Entdeckung des Lesens und Schreibens. Und als sein Vater nach einem tragischen Unfall regungslos im Krankenhaus liegt, sind es die selbst verfassten Texte des inzwischen 12jährigen, die bei seinem Vater eine Reaktion auslösen. »Wo man im Meer nicht mehr stehen kann« ist eine virtuos erzählte Familiengeschichte voller liebenswert-schrulliger Figuren und sommerlicher Italien-Atmosphäre. Mit seinen autobiografischen Zügen ist der Roman gleichzeitig eine Liebeserklärung an die (wortwörtlich lebensrettende) Kraft des Schreibens und der Fantasie.

Vielleicht nicht so unbedingt ein Sommer-Lesebuch….. aber soo schön:

»Marianengraben«  von  Jasmin Schreiber

»Ein Buch, das Geborgenheit bietet und Hoffnung schenkt« meint Yasmina Banaszczuk.

Paula braucht nicht viel zum Leben: ihre Wohnung, ein bisschen Geld für Essen und ihren kleinen Bruder Tim, den sie mehr liebt als alles auf der Welt. Doch dann geschieht ein schrecklicher Unfall, der sie in eine tiefe Depression stürzt. Erst die Begegnung mit Helmut, einem schrulligen alten Herrn, erweckt wieder Lebenswillen in ihr. Und schließlich begibt Paula sich zusammen mit Helmut auf eine abenteuerliche Reise, die sie beide zu sich selbst zurückbringt – auf die eine oder andere Weise

Und im Hinblick auf die Lesungen in der kommenden Spielzeit:

Dörte Hansen und Christian Berkel …

Bei Ballettdirektor Stijn Celis geht es diesen Sommer etwas punkiger zu mit »Helene Hegemann über Patti Smith, Christoph Schlingensief, Anarchie und Tradition«:

Der Funke, der die Gegenwart abfackelt.

Helene Hegemann trifft Patti Smith zum ersten Mal in einer Mehrzweckhalle in Wien, die als Probebühne für Christoph Schlingensiefs »Area 7« dient. Eine Begegnung, die der damals Dreizehnjährigen im weitesten Sinne das Leben rettet.

Gabriele Kops ist Verwaltungsangestellte am Saarländischen Staatstheater. Zwei ihrer Herzensbücher handeln von Freundschaft, Lebenslinien, skurillen Träumen und Geheimnissen:

Ich habe in letzter Zeit ein wunderschönes Buch gelesen.
Es ist schon alt aber immer aktuell:

»Gegenüber« von Erika Pluhar

Es handelt von der ungewöhnlichen Freundschaft zweier Frauen, von Lebenslinien und der Einsamkeit im Alter.

Einsamkeit in Zeiten von Corona sicherlich ein großes Thema.
Ich schätze den Schreibstil und die liebevolle Sprache von Erika Pluhar.

Einer meiner Lieblingsautoren ist Haruki Murakami.
Ein Buch von ihm:
»Tanz mit dem Schafsmann«

Die Bücher des japanischen Autors lesen sich immer wie skurrile Träume. Die Handlung: eine verführerische Geschichte in einem geheimnisvollen Hotel.
Mehr wird nicht verraten.

Christoph Foss, Leiter der Dekorationsabteilung am Saarländischen Staatstheater, empfiehlt eine literarische Reise an die Küste Kolumbiens:

»Kogi ― Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert« von Lucas Buchholz

Botschaften aus dem Herzen der Welt
Fast 6.000 m ragen die Berge der Sierra Nevada de Santa Marta empor, direkt an der Küste Kolumbiens. Hier leben die Kogi, heutige Vertreter einer über 4000 Jahre alten Hochkultur. Nach Jahrhunderten der Abgeschiedenheit, wenden sie sich jetzt mit ihrem Wissen an die Menschheit. Ihre Worte können unsere moderne Gesellschaft inspirieren. Und sie können uns bei vielen unserer Herausforderungen unterstützen: den ökologischen, gesellschaftlichen und individuellen – und zwar auf verblüffende Weise!

Christiane Ast ist Souffleuse im Schauspiel und empfiehlt drei ganz unterschiedliche Literatur-Welten:

»Monschau«
Roman von Steffen Kopetzky

Ein Buch über den Ausbruch einer Pockenepidemie in den 60ger Jahren in Deutschland/ Monschau/ Eifel.

Es handelt sich um eine wahre Begebenheit: die ersten Symptome/ Krankheitsausbrüche, deren Vertuschung durch die Kommunalpolitik; die engagierte Arbeit einiger Mediziner und der ehrenamtliche Einsatz von Teilen der Bevölkerung, allerdings in Romanform. Es ist überhaupt nicht trocken zu lesen, sondern ich konnte das Buch, einmal angefangen, nicht mehr weglegen.

»Abschied vom Frieden«
Roman von F.C. Weißkopf

Das letzte Jahr vor dem ersten Weltkrieg: der Protagonist lebt in Prag, damals noch K&K, erlebt, erleidet die Liebesgeschichte seines Lebens, und ringsum dräut sich das Gewitter zusammen, das schließlich in das Attentat von Sarajevo mündet.

Damit endet die persönliche Geschichte der Liaison des Protagonisten mit seiner jungen Geliebten sowie die friedliche Koexistenz des Vielvölkerreiches Österreich/ Ungarn. 

»Die kleine Stadt«
Roman von Heinrich Mann

Schon aussortiert, genau wie das vorhergehende Buch, ist dieser Roman wieder auf mich zugekommen. Nun lese ich ihn, bin also mittendrin, und weiß nur, dass ich schon Heinrich Mann’s 

»Die Jagd nach Liebe« sowie »Professor Unrat“« (Vorlage für den Film »Der blaue Engel« mit Marlene Dietrich) verschlungen habe.

In eine italienische Kleinstadt bricht die »große Welt« ein, es erscheint eine Theatertruppe. Und ihre Protagonisten, im doppelten Sinne, bringen die Provinzhonoratioren sowie die Kleinstadtbevölkerung in Unruhe. Der »junge Held«, von den Frauen begehrt, die »junge Liebende«, ein chaotisch anmutendes, gar nicht angesagtem weiblichen Erscheinungbild entsprechendes Wesen, emanzipiert und damit die Männer überfordernd oder provozierend oder begeisternd.

Sommerzeit ist aber gewiss nicht nur Lesezeit. Und so gibt es gleich zwei musikalische Tipps:

Alexander Reschke, Betriebsdirektor und Chefdisponent, hat es diesen Sommer zurück in die 80er geholt – if I only could be running up that hill …

Dank Netflix und der 4. Staffel von »Stranger things« ist der Song »Running up that hill« von Kate Bush aus dem Jahr 1985 aktuell wieder überall zu hören.

Mein Tip für diesen Sommer das dazugehörige Album »Hounds of Love« das im September 1985 erschienen ist.
Keine Musik für den Sofortverzehr und den Nebenbeigenuss.
Wer die Möglichkeit hat, sollte auf jeden Fall die Vinyl Version der CD oder Streaming Fassung vorziehen.
Mein Highlight neben der schon erwähnten Single »Running up that hill«und der zweiten Auskopplung »Cloudbusting« von der man sich auch das Video ansehen sollte, ist der vorletzte Song der B-Seite »Hello Earth«.

Auch Theaterpädagogin Anna Arnould-Chilloux hat einen Hörgenuss als Tipp:

Ich hätte ein Konzert, das ich sehr fesselnd und verzaubernd finde. 
Um Leichtigkeit bei warmem Wetter zu finden: Ein Konzert von Hania Ranihttps://youtu.be/sp3B97N67Cw

Zurück zur Literatur folgt nun wieder ein zeitloser Klassiker, dieses Mal von Maxine Theobald, die in dieser Spielzeit ihr FSJ-Kultur in der Dramaturgie des Saarländischen Staatstheaters absolvierte:

Jane Austen – Emma

»Emma« ist ein Roman der bekannten Schrifstellerin Jane Austen, welcher 1815 erstmals erschienen ist. Das Buch handelt von einer wohlhabenden, hübschen und intelligenten jungen Frau, namens Emma Woodhouse, die – und da ist sie sich der festen Überzeugung – sehr gut abschätzen kann, wer mit wem den Bund der Ehe eingehen sollte. Statt sich um ihr eigenes Liebesleben zu kümmern, versucht sie, ihre Freundin Harriet Smith bestmöglich zu verheiraten, doch dies lässt Missverständnisse und Liebeskummer aufkommen. Aber wer weiß… vielleicht findet Emma am Ende doch noch ihr Glück.

Ihre zweite Empfehlung hat auch Musikdramaturgin Anna Maria Jurisch während einer Zugfahrt verschlungen. Es geht um »Alte Sorten« von Ewald Arenz. Maxine Theobald schreibt dazu:

»Alte Sorten« – ein Roman von Ewald Arenz – handelt von zwei Frauen, Sally und Liss, die unterschiedlicher gar nicht sein könnten, aber ähnliche Vergangenheiten teilen. Die junge Sally  – gerade in ihrer Abiturphase – entflieht ihrem alltäglichen Leben, das aus Vorurteilen, Erwartungen, Pflichten und Erwachsenen besteht, und möchte ihre Ruhe haben. Auf dem Land begegnet sie Liss, einer starken, aber sehr verschlossenen Frau, die auf einem Bauernhof lebt. Sofort merkt Sally, dass Liss nicht wie andere Erwachsene ist. Sie übernachtet bei Liss, doch aus Stunden wurden Tage und aus Tage wurden Wochen. Für Sally ist Liss ein großes Geheimnis, denn ihr wird klar, dass sie das Haus nicht immer alleine bewohnt hat und ihr vieles verschweigt. Während sie zusammen die Hofarbeit erledigen und über die alten Birnensorten in Liss Garten reden, deren intensiven Geschmack Sally so gerne mag, erfahren die beiden gegenseitig von ihren Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden.

Anna Maria Jurisch findet außerdem:

»Alte Sorten« ist ein Buch, das ich zufällig für meine letzte längere Zugreise gekauft und in einem Rutsch durchgelesen habe. Sehr klar, sehr bewegend, sehr poetisch und ein kleines bisschen die Sehnsucht nach endlosen (Spät-) Sommertagen befeuernd. Wer Gartenarbeit liebt, wird das Buch wahrscheinlich schätzen!

Aber auch andere Welten, in die es sich einzutauchen lohnt, kann Anna Maria Jurisch empfehlen:

Judith N. Shklar, »Über Ungerechtigkeit«

Keine klassische Sommerlektüre, aber wahnsinnig spannend, augenöffnend – Was bedeutet Schicksal und was bedeutet Veränderlichkeit? Wie viel Einfluss haben unsere Entscheidungen auf das, was in unseren Leben passiert? Eine faszinierende Betrachtung, die unsere fragile Gegenwart rahmt – auch wenn das Buch bereits aus den 1920er Jahren stammt.

Joan Didion, »Das Jahr magischen Denkens«

Die Kraft der Sehnsucht und die Kraft von Hoffnung – Joan Didions Essays sind immer lesenswert, aber dieses Buch ist kein Reisebericht, keine gesellschaftspolitische Analyse, sondern eine sehr intime Betrachtung von Zusammensein, Familien und Lebensperspektiven. Keine leichte Kost, aber inspirierend.

Gewandmeisterin Martina Lauer empfiehlt für einen wunderschönen Lese-Sommer die Begegnung mit dem Wasser:

Delia Owens‘ »Der Gesang der Flusskrebse«

… und:

Benjamin Myers‘ »Offene See«

In Valda Wilsons Buchempfehlung geht es um die wohl grundsätzlichsten Welten, nämlich die von Gut und Böse:

Einfach nur ein sehr persönlicher Tipp:

Neil Gaiman, »Good Omens« (»Ein gutes Omen«). Am besten auf Englisch lesen!

Schauspieler Bernd Geiling hat gleich zwei Leseempfehlungen:

Richard Powers »Die Wurzeln des Lebens«

Die Zerstörung der Natur und damit der Lebensgrundlagen der Menschen auf diesem Planeten schreitet unaufhaltsam voran.
Eine Gruppe ganz unterschiedlicher Individuen findet zusammen und beschließt zu handeln, aktiv zu werden, geht in den Widerstand.

Und zahlt einen hohen Preis…

… und:

Hanya Yanagihara  »Ein wenig Leben«

Selten hat mich ein Buch beim Lesen so erschüttert wie dieses.
Die Geschichte einer Gruppe von vier Männern, die in lebenslanger Freundschaft und Liebe miteinander verbunden sind, obwohl einer von ihnen, getrieben von seinen inneren Dämonen, sich immer wieder in Dunkelheit, Schmerz und Selbstzerstörung begibt.

Verena Bukal ist Schauspielerin und liest ihre Bücher gerne an ganz unterschiedlichen Orten. Und empfiehlt deswegen:

Park4night 

Eine App, um überall Campingplätze oder (kostenlose) Stellplätze zu finden. Preise, Informationen und Fotos inbegriffen. Sie ist gratis, außer man bucht die Pro-Version 😉 Viel Spaß damit!

Judith Fecher arbeitet in der Ausstattungsabteilung und mag es gerne spannend. Also hat sie zwei Empfehlungen für Fans des Nervenkitzels:

Ich lese am liebsten Psycho-Thriller, aber mich nervt an manchen Autoren, dass sie anscheinend der Meinung sind, je brutaler und ekliger der Mord (bzw die detaillierte Beschreibung davon), desto spannender wird das Buch. Meistens ist dem nicht so und deshalb liebe ich Bücher, die eher die psychologischen Aspekte in den Fokus nehmen und dadurch eine bedrohliche Spannung aufbauen.

»Klima« von David Klass
Ein selbsternannter Umwelt-Terrorist sprengt Ziele in die Luft, die die Umwelt zerstören und nimmt dabei auch den Tod von Unschuldigen in Kauf.
Das Buch ist sehr spannend geschrieben und man bekommt einen Einblick in die Psyche des Täters, der als liebender Familienvater und Umweltaktivist beschrieben wird. Man ertappt sich beim Lesen dabei, mit dem Terroristen zu sympathisieren und stellt sich zwangsläufig die Frage, wie weit man gehen darf, um ein höheres Ziel zu erreichen
.

»Todesmarsch« von Stephen King
1979 veröffentlicht unter dem Pseudonym Richard Bachmann

Früher war ich ein begeisterter Stephen-King-Leser. Er hat wirklich tolle spannende Bücher geschrieben. Aber dieses ist ein bisschen anders: subtiler, psychologischer, sein bestes Buch meiner Meinung nach.
Ja, der alte Schinken ist schon über 40 Jahre alt, aber die Geschichte absolut lesenswert.

In einem Amerika der Zukunft unter einer herrschenden Militärdiktatur brechen jedes Jahr 100 Jugendliche zu einem makabren „Todesmarsch“ auf, einem Wettbewerb, den 99 von ihnen nicht überleben werden. Dem Sieger winkt lebenslanger Luxus. Der Marsch geht so lange, bis nur noch ein Läufer übrig ist. Wer zu langsam ist oder sich nicht an die Regeln hält, wird erschossen.  Der Leser wird förmlich hineingezogen in diese düstere Geschichte, in die Psyche der jungen Läufer, in Freundschaften die entstehen, obgleich im Angersicht des Todes, in ihre Hoffnungen und Verzweiflung.
Es gibt noch ein Buch von »Richard Bachmann«, kurz danach geschrieben. Es heißt »Menschenjagd« und greift ein ähnliches Thema auf, was aber meiner Meinung nach die Qualität und die Spannung von „Todesmarsch“ nicht mehr erreicht.

Auch Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb findet man nicht selten mit einem Buch in der Hand. Für den diesjährigen Lese-Sommer empfiehlt sie:

»RADIKALE ZÄRTLICHKEIT« von Seyda Kurt

Der politische Aspekt von Beziehung, Liebesbeziehung oder Beziehung, die einen intimen Austausch beinhaltet, habe ich nicht immer vor Augen. Schon gar nicht, wenn ich diese Beziehung Jahrzehnte kenne. Dass diese über den rein privaten Wert auch einen gesellschaftskonstituierenden hat, ist ein Gedanke, den man gar nicht oft genug ins Bewußtsein holen kann. Und wenn das so geschmeidig gelingt wie im Fall von Şeyda Kurt, ist das eine schöne Reise, die einen wieder eine utopische Kraft spüren lässt. Es hat auch nicht unwesentlich mit der Arbeit an BERENIKE von Jean Racine zutun…

… und:

WIE SPÄTER IHRE KINDER von Nicolas Mathieu

Dieser Autor kann nahbare Figuren beschreiben, deren Leben holzschnittartig erfasst werden und so reich wirken, im skizzierten. Die gesamte Stadt hat man vor Augen, die Hitze im Körper, plötzlich. Dann diese Jugend, diese Begegnungssehnsucht, dieses Abhängen, dieses Perspektivensuchen. Ganz sinnlicher Sozialrealismus. Und wer es nicht schafft, dem wird es nächste Spielzeit auch auf der Bühne der Alten Feuerwache erzählt (Psst!: Premiere ist am 23.3.23)!

Sänger Algirdas Drevinskas mag es humoristisch und empfiehlt:

»Abraham kann nichts dafür« von Ephraim Kishon

… eine Satire witziger als die andere. Viel Spaß beim Lachen!


Dem Lesetipp von Schauspieler Fabian Gröver kann sich eigentlich keiner entziehen:

»Eine kurze Geschichte der Menschheit« von Yuval Noah Harari

Warum ich das Buch empfehle?

Wir Homo sapiens blicken auf ein lange (Erfolgs-)geschichte zurück,
die uns sowohl an die Spitze der Nahrungskette als auch in die gottgleiche Position versetzt hat,
über Wohl und Wehe dieses Planeten entscheiden zu können/zu müssen.
Aber sind wir überhaupt clever genug, das nicht zu verbocken?
»Dieses Buch lässt Hirne wachsen.«, schreibt der Kritiker des Magazins »ZEIT Wissen«.

Insofern sollte jeder Homo sapiens es gelesen haben.

Martin Hennecke, Schlagwerker im Orchester des Saarländischen Staatstheaters, hat einen klangvollen Tipp in eigener Sache:

 »In welcher Welt leben wir gerade, und was können wir daraus machen?«

Das ist eine Frage, die meine Kollegen von Percussion Under Construction und mich während des ersten Lockdowns der Pandemie sehr beschäftigt hat. Was passiert gerade? Können wir diese Zwangspause irgendwie sinnvoll nutzen? Können wir uns künstlerisch mit der Situation auseinandersetzen und verschiedene Perspektiven einnehmen und beleuchten? Kann daraus möglicherweise ein positives Narrativ entstehen? Können wir – untereinander als Ensemble und auch mit unseren Freund*innen aus der ganzen Welt – trotz Isolation zusammen musizieren? Herausgekommen ist unser erstes Album »Locked Down?«, welches mittlerweile in vier Kategorien für den Opus Klassik nominiert ist, und auch im Post- (oder Zwischen-?) Coronasommer nichts von seiner Magie eingebüßt hat.

Orchestermanager Alfred Korn kann gleichermaßen privat wie beruflich eine besondere Empfehlung aussprechen für alle Schostakowitsch-Interessierten und die, die es noch werden wollen:

»Dmitri Schostakowitsch. Briefe an Iwan Sollertinski« herausgegeben von Dmitri Sollertinski und Ljudmila Kownazkaja. Aus dem Russischen von Ursula Keller.

In diesem Zusammenhang empfehle ich wärmstes Schostakowitsch-Aufnahmen mit Michail und / oder Vladimir Jurowski. Zu den Referenzaufnahme zählen sicherlich die unter der Leitung von Gennadi Roshdestwenskij…

Auch Meike Koch, Theaterpädagogin Musiktheater und Konzert & Koordinatorin Theater und Schule, hat einen einen Tipp für alle, die ihren musikalischen Horizont erweitern möchten:

Podcast »Klassik für Klugscheißer« von BR Klassik: Zugegeben, ein provokanter Titel, aber jede Woche wieder sauber recherchiert und unterhaltsam präsentiert. Laury und Ulli informieren uns mit ihrer lockeren und lustigen Art über klassische Musikgeschichte. Sollte man betrunken komponieren? Wie macht man am besten Schluss (musikalisch gesehen, natürlich)? Und welche Strukturen verhindern Diversität in den Orchestern?
Regelmäßig begrüßen die beiden spannende Gäste und erstellen zu jeder Podcast-Folge eine passende Playlist mit Musiktiteln. Eine absolute Hörempfehlung, auch für alle, die noch keine Klassik-Klugscheißer sind, sondern es noch werden wollen.

Aber auch einen Buchtipp hat sie auf Lager:

»Die Erde der Zukunft« von Eric Holthaus

Die Klimakrise ist nur eines von vielen schlimmen Themen, die wir momentan jeden Tag über die Medien aufnehmen und verarbeiten müssen. Wegschauen ist keine Option, Hinschauen aber oft schmerzhaft und verzweifelnd. Wie wäre es aber, einen optimistischen Blick in die Zukunft zu werfen? Eric Holthaus nimmt uns mit in das Jahr 2050 und erklärt, wie wir die Klimakrise verhindern und es uns gelingt, den Kollaps unserer Ökosysteme abzuwenden. Dabei zeigt er uns Szenarien, die Hoffnung machen.

»Es ist eines der schönsten Bücher, das ich je gelesen habe«, mit diesen Worten überreichte mir meine Kollegin Anna Maria Jurisch »Herzzeit«. Ein Buch, was den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan wiedergibt. Und damit ist es ein bewegendes Zeugnis zweier Menschen, die sich liebten und sich gegenseitig verletzten, die einander brauchten und doch miteinander nicht leben konnten. Und was soll ich sagen, meine Kollegin hatte Recht …

In den Spielzeitferien geht es für viele von uns nach Hause. Aber was bedeutet das eigentlich, »Zuhause«? Ein Ort? Ein Mensch? Ein Hund? Was macht uns aus, wo gehören wir hin? »Über eine Sehnsucht und die vielleicht wichtigste Suche unseres Lebens« schreibt Daniel Schreiber in seinem essayistischen Roman:

Wir wünschen Ihnen einen schönen Lese-Sommer, viel Freude beim Entdecken neuer (literarischer) Welten. Vielleicht finden Sie ja in der einen oder anderen ein neues Zuhause. Oder eben die Welt, die Sie gerade brauchen.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

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IN GESELLSCHAFT: LESEN

»Die Bücher sind nicht dazu da, lebensunfähigen Menschen ein wohlfeiles Trug- und Ersatzleben zu liefern. Im Gegenteil, Bücher haben nur einen Wert, wenn sie zum Leben führen und dem Leben dienen und nützen, und jede Lesestunde ist vergeudet, aus der nicht ein Funke von Kraft, eine Ahnung von Verjüngung, ein Hauch neuer Frische sich für den Leser ergibt.« Hermann Hesse

Ich bin Geisteswissenschaftlerin. Bücher, Essays, (Fach-)Zeitschriften, Aufsätze, Hausarbeiten, in meinem Falle auch Klavierauszüge oder Partituren. Schrift und das Lesen selbiger bestimmten meinen (Studien-)Alltag.

Doch irgendwann gingen mir die Lust und die Leichtigkeit des Lesens verloren. Lesen war (wissenschaftliches) Mittel zum Zweck, diente der Beschaffung von Wissen. Die Texte, die ich las, wurden immer komplexer und komplizierter, eine gleichermaßen durchaus spannende wie zermürbende Zeit.

Irgendwann scheute ich das Lesen zur (vermeintlich) reinen Zerstreuung. Standen nicht Brahms, Beethoven oder Bach auf dem Titel, erschien es mir wie ein Verrat an der Zeit, die ich zum Studieren nutzen sollte.

Irgendwann erzählte ich davon einem mir sehr geschätzten Dozenten aus meiner Bayreuther Studienzeit, der einigermaßen erstaunt, wenn nicht gar empört reagierte. Und er sagte etwas, was mir eigentlich hätte klar sein sollen. Dass jedes Buch, möge es auch noch so trivial erscheinen, unseren Horizont erweitere. Ja, so einfach kann es manchmal sein.

Jeder Krimi, jede Biografie, jeder Liebesroman, jede Fantasiegeschichte oder jeder Reisebericht erweitere meinen Blickwinkel. Natürlich, die eine Geschichte vielleicht mehr als die andere, aber selbst wenn ich erkenne, dass ich in einem Buch nichts erkenne, so bin ich damit schon weiter als ohne es gelesen zu haben. Und so läge es an mir, das Buch in meinen Bezugsrahmen zu setzen, Neues zu erkennen, Altes zu bestätigen oder zu widerlegen. Und außerdem, ergänzte er, täte es dem Hirn auch einfach mal gut, keinen Berg zu erklimmen, sondern nur geradeaus zu laufen.

Dieses Gespräch gab mir die Freude am Lesen zurück. Und das (Selbst-)Bewusstsein, dass alles, was ich lese, ob Adorno oder Agathe (Christie) auf dem Umschlag steht, mir eine Welt offenbart, die mir ohne das Lesen verborgen bliebe.

Noch heute bildet das Lesen eine Grundlage meines Berufes, und meines privaten Seins. Und tatsächlich erkenne ich, mit kleinen Abstrichen hie und da, in jeder Lektüre etwas, das sich auf die vielseitigen Aspekte des Theaterschaffens übertragen lassen. Sei es politisch, soziologisch, historisch oder manchmal auch humoristisch.

Lesen verbindet, es verbindet uns als Gesellschaft, es gibt Anlass zum Diskurs, zur Diskussion, zum gemeinsamen Reden, Streiten, Lachen oder vielleicht auch Weinen. Und so habe ich meine Kolleginnen und Kollegen gefragt, was sich so auf ihrem Bücherstapel sammelt.

Den Anfang macht Chefdramaturg Horst Busch:

Zum Ende der Spielzeit werden die Bücherstapel auf meinem Schreibtisch, im Wohnzimmer und neben dem Bett immer höher. Ferienzeit heißt für mich auch Lesezeit und so freue ich mich u.a. auf die Lektüre ABENDFLÜGE der englischen Autorin Helen Macdonald. Schon die erste Erzählung „Nester“sensibilisiert für die gleichermaßen bedrohte wie rettende Verbindung von Mensch und Natur. »Sich an der Komplexität der Dinge zu erfreuen.« – Was für eine wunderbare Einladung!

Aber auch auf das neuste Buch Bernd Stegemanns ..DIE ÖFFENTLICHKEIT UND IHRE FEINDE wurde von mir ganz nach oben auf den Lektürestapel gelegt. Von seinen Reflexionen über Kommunikation, Gesellschaft und Öffentlichkeit verspreche ich mir interessante Anregungen für die kommende Theatersaison mit unserem Spielzeitmotto IN GESELLSCHAFT!

Und natürlich stehen diverse Werke des Autors Friedrich Dürrenmatt auf meiner Leseliste. Als Vertiefung unserer Auseinandersetzung mit seiner tragischen Komödie DER BESUCH DER ALTEN DAME kann ich seine Erzählung MONDFINSTERNIS nur empfehlen.

Für unsere neue Kollegin in der Musikdramaturgie Anna Maria Jurisch geht es im Sommer vom fernen Linz nach Saarbrücken. Zeit zum Abschiednehmen:

Da ich nach 10 Jahren in Österreich nach Deutschland zurückkehre, ist Daniel Wissers Roman »Wir bleiben noch« mein persönlicher Abschied von einem wunderbaren, komplexen Land: Eine Familienerzählung, die auch die Erzählung der Sozialdemokratie in Österreich ist, die auch die Erzählung von der Macht der Boulevardpresse und vom politischen Rechtsruck Österreichs ist. Bei Daniel Wisser dürfte das aber keine trockene Lektüre werden, sondern sehr komisch, einfühlsam und berührend. Sein letzter Roman »Königin der Berge« war eine Achterbahn der Gefühle für mich und ist eines meiner liebsten Bücher.

Der Sommer ist durchaus auch die Zeit des Zugfahrens:

Lorraine Daston ist Direktorin des Max Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und eine wahnsinnig spannende Denkerin. »Against Nature« stellt die Frage, warum wir als Menschen mit solcher Hingabe nach (moralischen) Vorbildern für unser Denken und Handeln in der Natur suchen, warum wir unsere Vorstellungen von Gesellschaft, Anstand und Rationalität einordnen in eine Form der »natürlichen Ordnung«, also zwischen natürlich und unnatürlich entscheiden. Es ist ein kleines, schmales Buch, das wahrscheinlich auf einer langen Zugfahrt seine Chance findet, vermutlich keine ganz leichte Lektüre, aber ein vielleicht toller Denkanstoß.

… und des Reisens:

Für mich ist der Sommer die Zeit für Reiseliteratur, am besten natürlich auch etwas über die Gegend, in die man selbst reist. Nun ist Graham Greene in den 1930er Jahren zu Fuß durch Liberia gereist – das werde ich nicht so schnell nachmachen, aber das Gefühl von Aufbruch und Entdecken eines fremden Landes, das Sich-dem-Unbekannten-Aussetzen ist für unsere Zeit sicher wichtig und inspiriert mich im Moment.

(Graham Greene hat die Reise mit seiner Cousine unternommen, die ihren eigenen Reisebericht darüber veröffentlich hat, aber das Buch ist überall vergriffen, vielleicht finde ich es ja bis zum nächsten Sommer!)

Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb hat empfiehlt:

Iris Wolff, Die Unschärfe der Welt, Klett-Cotta 2020

Diese Sprache bringt eine ungekannte Welt hervor. Wunderlich. Dicht. Eine Autorin mit einem traumsicheren Sprachgefühl, nannte die Kritik Iris Wolff. Eine andere Perspektive auf Gemeinschaft und Welt: Sieben Figuren im Siebenbürgen des vergangenen Jahrhunderts – radikal subjektive Gedankenwelten verweben sich zu einem Sound einer vergangenen deutschen Kultur inmitten des Vielvölkerstaats Rumänien. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020.

»Es gab Sehnsucht nach etwas, das verloren war, Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren.«

Leïla Slimani, Le pays des autres / Das Land der Anderen, Luchterhand Literaturverlag 2021

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/leila-slimanis-stellt-ihren-neuen-roman-in-paris-vor-16676479.html

https://www.perlentaucher.de/buch/leila-slimani/das-land-der-anderen.html

Diese Reise geht in die Zeit der marokkanischen Unabhängigkeit nach Marokko – hier ist einmal die Europäerin in der Fremde. Auf diese Perspektive freue ich mich.

Schauspielerin Verena Bukal schließt sich diesem Tipp an, auch auf ihrer Leseliste steht »Das Land der Anderen«:

Dieses Buch nehme ich mit auf Urlaub. Der neue Roman von Leila Slimani – eine französische Frau folgt ihrem marokkanischen Mann nach Marokko und erlebt »Integration von der anderen Seite«. Es ist als Beginn einer Trilogie gedacht.

Benjamin Jupé, Solo-Cellist des Saarländischen Staatsorchesters, hat einen Tipp für Fans der Barockmusik oder alle, die es werden wollen:

Dieses Buch ist eine super Quelle um ein Verständnis zu entwickeln,  wie vielseitig das Vibrato in der Barockmusik eingesetzt wurde. Gründlich widerlegt das Buch die unter Musikern verbreitete  Annahme,  Vibrato sei eine Erfindung der Romantik.  Original Zitate belegen:  zu jeder Zeit wurde vibriert und über den Vibrato Geschmack gestritten. Eine sehr bereichernde Lektüre!

Unser Studienleiter Martin Straubel empfiehlt hingegen…

Mein Lese-Tip für die Ferien: gar nicht lesen, sondern schreiben. Zum Beispiel mit Hilfe des Adorno Textgenerators.

https://homepage.univie.ac.at/christoph.reuter/reuter/adorno.php

Das macht den Kopf schön frei.

Aus Thorsten Köhlers Büchstapel, Leiter der sparte4 und Schauspieler, stechen zwei Bücher besonders hervor:

Kazuo Ishiguro: »Klara und die Sonne«

In Ishiguros Roman denkt eine Künstliche Intelligenz sehr poetisch über das Leben und die Menschen nach. Klara, entwickelt für Jugendliche, ist eine Art beste Freundin auf dem Weg ins Erwachsenenalter, und eben darin problematisch: denn wie soll ein Spielzeug reagieren, welches Freundschaft und Liebe empfinden kann, wenn man es ablegt, weil man ihm entwachsen ist?

und

Charlie Kaufman: »Ameisig«

Kaufmans AMEISIG füllt die Lücke, die Foster-Wallace hinterlassen hat. Ein epischer Roman für Cineasten, und Filmliebhaber wie -hasser gleichermaßen – abgehoben, unanständig, ätzend und lustig zugleich – wer Kaufmans Filme wie ADAPTION, BEING JOHN MALKOVICH oder ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND liebt, wird seinen Debütroman verschlingen. Deutschlandfunk Kultur: »…von einer kosmischen Chuzpe.«

Auch aus dem Vorzimmer des Generalintendanten kommen Literaturtipps. Sekretärin Christine ter Braak und Ehemann Gerd ter Braak empfehlen Katzen, Geheimnisse und 1 Minute für sich:

»Gespräche mit meiner Katze« von Eduardo Jáuregui

Wer mich kennt, weiß, dass ich ein absolutes Fable für Katzen habe, was natürlich bedeutet, dass ich Euch eine entsprechende Lektüre empfehle. Mir wurde das Buch von einem Menschen geschenkt, der Katzen überhaupt nicht mag. Aber er hat sich überwunden und ein Katzenbuch gekauft, weil er e mir eine Freude machen wollte. Sehr nett. Nicht wundern, die Katze im Buch – SIBILA genannt – kann reden. Aber ehrlich gesagt, habe ich oft das Gefühl, dass meine beiden Katzen auch mit mir reden. Im Buch heißt es, »Es gibt viele Wege zum Glück, aber Katzen kennen die besten Abkürzungen.« Viel Spaß beim Lesen. Christine ter Braak

»Das Erbe« von Ellen Sandberg empfiehlt Gerd ter Braak:

Eine lesenswerte Sommerlektüre: Eine junge Frau aus Berlin erbt überraschend ein Haus in München – ein Vermögen. Aber das Haus birgt ein dunkles Geheimnis: ein spannender Roman um Vertrauen, Gier, Moral und um den eigenen inneren Kompass.

Der Urlaub kann außerdem für bewusste Zeit mit sich selbst verbracht werden, Selbstfürsorge lautet ein Wort der Stunde (oder Minute):

»Eine Minute für mich« von Spencer Johnson

Ein kleines Buch – keine schwere Kost, leicht zu lesen – über den Umgang mit sich selbst und auch mit anderen Menschen. Das Buch hilft, einmal deinen Blickwinkel auf das, was dich ärgert, zu ändern, wodurch vieles leichter wird. Man kommt zu einem Bewusstsein wie, »ich trage die Antwort in mir« oder »der Frieden beginnt bei mir«. Was will man mehr! Christine ter Braak

Schauspielerin Christiane Motter verschlägt es mit Michail Bulgakows »Der Meister und Margarita« literarisch nach Moskau:

Ein aberwitziger Roman, der mich mit seinen drei Strängen über einen Schriftsteller und seine Geliebte, Pontius Pilatus und über das Leben in Moskau in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts in seinen Bann zog.
Verwirrend, satirisch, berührend, zauberhaft, perfekt fürs Abtauchen aus der (Corona-) Realität in eine andere Welt.
Viel Freude beim Wegdriften.

Für Sopranistin Valda Wilson hält die kommende Spielzeit wieder spannende, aber durchaus streitbare (Frauen-)Figuren bereit. Zeit, sich mit dem Frauenbild in Opern auseinanderzusetzen:

https://www.theguardian.com/music/2016/feb/26/is-opera-the-most-misogynistic-art-form

Schauspielerin Emilie Haus bereichert ab der nächsten Spielzeit unser Schauspielensemble und empfiehlt folgende Werke:

Tieftraurig und amüsant über die Gesundheit und Ängste eines Schauspielers.

oder auch

Ein humorvoller Roman über linksliberale Hausprojekte, Kommunikation und das Ziel einer gerechteren Welt. Beides für mich bewegende Themen.

Betriebsdirektor Alexander Reschke ist Spezialist für CD-Aufnahmen und Opernstimmen. In Vorbereitung für unsere erste Premiere in der Sparte Musiktheater »Ariadne auf Naxos« haben ihn folgende Sängerinnen besonders geprägt:

Die beste Zerbinetta des 20. Jahrhunderts ist für mich Edita Gruberova. 100 Mal hat sie diese Partie gesungen.

Meine Lieblings Ariadne Tomowa Sintow (für mich auch die mit der größten Leidenschaft und Emphase), auch meine erste Live Ariadne 1983 (insgesamt 4 x Live bis 1991).

https://www.orfeo-international.de/pages/cd_c625042i.html

Mit der folgender Aufnahme bin ich aufgewachsen.
Kempe einer wichtigsten Strauss Dirigenten.
Besetzung durchwegs sehr gut und homogen.
Besonders auch hier Ariadne und Zerbinetta.
Aufnahme von 1968.

https://www.gramophone.co.uk/review/r-strauss-ariadne-auf-naxos-2

Schauspieler Fabian Gröver rechnet ab, zumindest beim Lesen Sibylle Bergs:

Eine pointierte, ehrliche, böse und auch verständnisvolle Abrechnung mit einer Gesellschaft, die wir nicht verhindern konnten oder wollten. Ist für Leser*innen verschiedener Generationen geeignet und bietet ein Erregungspotential von Heiterkeit bis Trübsinn.
Die Sprache ist teilweise komplex bis herausfordernd, aber immer eine Freude!  

Der 1. Konzertmeister des Saarländischen Staatsorchesters, Wolfgang Mertes, begibt sich mit Gustav Mahler auf dessen letzte Reise. Wie treffend, dass wir im 7. Sinfoniekonzert Mahlers 7. Sinfonie spielen.

Über die letzte Schiffsreise Gustav Mahlers als dahinsiechender kranker Mann, der sein Leben Revue passieren lässt. 

Auf der Bestseller-Liste des Schauspielers Jan Hutter findet sich der ein oder andere Klassiker:

»Freiheit« von Jonathan Franzen (der langweiligste Klappentext aber das beste Buch).

»Liebe in Zeiten der Cholera« von Gabriel García Márquez (für alle die, die wie ich davor, nicht an die grosse Liebe glauben, aber gerne eines Besser belehrt werden wollen) .

»IT« von Stephen King (ein unverfilmbares Buch, das neben dem Horror der Kleinstadt & des Erwachsenwerdens, locker lässig und ganz nebenbei, ein Buch über Freundschaft ist. Spoiler: Ein Clown kommt auch vor.)

Schauspieldramaturgin Simone Kranz fesselte zuletzt die Biografie Anne Beaumanoirs:

Was bringt einen dazu, sich politisch zu widersetzen und welchen Preis zahlt man dafür? Fasziniert von der Biographie der 1923 in der Bretagne geborenen Anne Beaumanoir, die sowohl während der deutschen Besatzung in der Résistance gekämpft hat, als auch in den fünfziger Jahren in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, erzählt Anne Weber von ihrer Begegnung mit dieser Frau. Wunderbar an diesem Buch ist auch und besonders die Form: Es ist tatsächlich im epischen Versmaß geschrieben, doch nach 2-3 Seiten hat man die Verwunderung darüber vergessen und genießt nur noch die Schönheit und Leichtigkeit der Sprache.

Schauspieler Bernd Geiling empfiehlt eine mörderisch-gute Trilogie:

Der mörderische Hof Heinrichs des Achten aus der Sicht Thomas Cromwells, eines begnadeten politischen Aufsteigers und Intriganten.

Wie der Engländer sagt: »Unputdownable!«

Auch der Bücherstapel Christine Asts, Souffleuse, ist hoch:

Fabio Andina »Tage mit Felice«

Dieses Buch spielt in einem Bergdorf im Tessin, und alles dreht sich um den 92-jährigen Felice und dessen Anbindung an die Dorfgemeinschaft. Er wandert jeden Morgen zu einer Gumpe und springt ins kalte Wasser. Begleitet wird er eine Woche lang vom Autoren/literarischen Ich, der als Kind, in der Stadt aufgewachsen, die Ferien mit seinen Eltern in Felices Dorf zugebracht hatte. Als Schriftsteller zieht er sich nun in diese dörfliche Gemeinschaft zurück, ins ehemalige Ferienhaus seiner Eltern, und wird so zum Nachbarn von Felice.

Nachdem ich »Bouches les Rouges« gesehen habe, griff ich ein zweites Mal zu »Fräulein Nettes kurzer Sommer« von Karen Duv.

Ein entscheidender Sommer im Leben der Anette von Droste-Hülsoff –  Autoren der Romantik (Brüder Grimm, Heinrich Heine) und literarisch- patriotische Studentenkreise bilden den Hintergrund zu einer Emanzipationsgeschichte, die in einen Skandal mündet. 

»Das Leben der Elena Silber« von Alexander Osang

Ein Drei- Generationen-Roman: ich habe mich sehr vertraut gefühlt mit den lakonischen und schmerzhaften Auseinandersetzungen des literarischen Ichs mit seiner Mutter, seinem demenzkranken Vater. Und dann rollt er die Geschichte seiner Großmutter, seiner Mutter und seiner vier Tanten für ein Filmprojekt auf. Der Roman pendelt zunehmend zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Toll!

Gertrud Leutenegger, »Pomona« und »Späte Gäste«

Diese beiden Romane gehören zusammen, der erste 2004 erschienen, der zweite, die Fortsetzung, wurde 2020 herausgegeben.

Wir befinden uns im südöstlichsten Zipfel des Tessins, schon fast in Italien. Die Autorin erzählt ihrer Tochter das Leben ihrer Mutter (Großmutter), der eigenen Kindheit und schiefgelaufenen Ehe. Also quasi als Erklärung dafür, warum ihr Mann (Vater) im Dorf geblieben ist und sie mit ihrer Tochter in die Großstadt (Zürich?) gezogen/ geflohen ist. Im zweiten Band kommt sie zurück ins Dorf, da ihr Exmann gestorben ist. Es ist die poetische Schreibweise der Autorin, ihre Assoziationsketten, ihre fast haptische Beschreibung zweier Dörfer – ich konnte die Naturphänomene riechen, schmecken, spüren.

Sänger Algirdas Drevinskas verbindet mit einem Buch eine ganz besondere Zeit seines Lebens:

Das Buch von Alexandra Wild »Zu Mittag um zwölf war alles erledigt« (edition keiper, Graz 2020) habe von meinen damaligen Unterstützern während meiner Studien an der Kunst Universität Graz bekommen: noch eine traurige österreichisch-slovenische Familiengeschichte die bestätigt, dass die Menschen KEINE Kriege brauchen.

Es geht um die Jahrzehnte lange Suche des (Grabes) vermissten (ermordeten) Vaters am Ende des 2  Weltkrieges.

Schauspielerin Laura Trapp empfiehlt 105 intensive Seiten von Carolin Emcke:

»Was wäre, wenn?«, das frage ich mich oft. Und der Gedanke, im Jenseits gäbe es eine Bibliothek mit all den Leben, die ich hätte führen können, Buch für Buch, ist beängstigend und faszinierend zugleich. Matt Haig schickt seine Protagonistin Nora Seed auf eben genau diese Reise in seinem Roman »Die Mitternachtsbibliothek«.

In den Spielzeitferien geht es für viele von uns nach Hause. Aber was bedeutet das eigentlich, »Zuhause«? Ein Ort? Ein Mensch? Ein Hund? Was macht uns aus, wo gehören wir hin? »Über eine Sehnsucht und die vielleicht wichtigste Suche unseres Lebens« schreibt Daniel Schreiber in seinem essayistischen Roman:

Wir wünschen Ihnen einen schönen Lese-Sommer, viel Freude beim Entdecken neuer (literarischer) Welten. Vielleicht finden Sie ja in der einen oder anderen ein neues Zuhause.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

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Hinter dem Vorhang Theaterblog

Geisterspiel am Saarländischen Staatstheater

Wir sind keine Roboter, wir brauchen Publikum!

Freitag, 6. November 2020. Für heute haben wir die Europäische Erstaufführung des Stückes »Eine kurze Chronik des künftigen Chinas« von Pat To Yan in der Regie von Moritz Schönecker angekündigt. Pünktlich um 19.30 Uhr findet die Vorstellung in der Alten Feuerwache auch statt, aber bis auf Mitarbeiter des Staatstheaters und ein Kamera-Team des SR gibt es keine Zuschauer, obwohl die Premiere seit Wochen ausverkauft war.

Wegen des neuen Lockdowns musste das Kassenpersonal alle Zuschauer wieder ausladen und auf einen späteren noch völlig ungewissen Premierentermin vertrösten. So fand an diesem Freitagabend ein Geisterspiel im doppelten Sinne statt, denn in dem Spiel um Vergangenheit und Zukunft, dem Kampf um Demokratie und künstlicher Intelligenz, melden sich auch Geister zu Wort, nicht wirklich zu Wort, aber sie lassen die Wände wackeln und klagen so ihr Daseins-Recht ein. Es sind die Ahnen, die die Lebenden an ihre Verantwortung für ihr Handeln und somit auch an ihre Schuld an Krieg und Zerstörung, an Flucht und Vertreibung erinnern. Was für ein Sinnbild!

Ensemble im Bühnenraum von Benjamin Schönecker.

Aber »Eine kurze Chronik des künftigen Chinas« ist auch die Geschichte einer Liebe zwischen einem Mann und einer Tänzerin. Doch mit dem gemeinsamen Kind kommen die Fragen an die Zukunft. In welcher Welt wird ihr Sohn leben oder einst gelebt haben? Denn die Zeit ist (in diesem Stück) flüchtig. Dahinter steht die buddhistische Vorstellung vom ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen: Samsara, das »beständige Wandern«.

Auf der Flucht in den Süden (Hongkong) kommt es zu einem Zwischenfall.

So wird in diesem traumhaften Stück die Reise eines jungen Mannes, um den letzten Wunsch seines verstorbenen Vaters zu erfüllen, zur Erkenntnisreise seiner eigenen Geschichte und seines Daseins. Es ist die poetische Zeugenschaft dieses so genannten »Außenstehenden«, der sowohl von dem Kampf um Freiheit und Demokratie gegen die kommunistische Zentralregierung in China erzählt, als auch von den Machenschaften einer Vernetzungsmacht, die sich »Zugang durch biophysische Systeme und Nanotechnologien auch in das Innerste des Menschen« verschafft, wie es die Autoren Paul Nemitz und Matthias Pfeffer in ihrem Buch »Prinzip Mensch« beschreiben.

Das Ensemble als »Roboter« in Kostümen aus Reissäcken entworfen von Veronika Bleffert.

Doch Pat To Yan, dessen Fantasie an der bitteren Wirklichkeit der Regenschirmbewegung in Hongkong geschult ist, hat kein Dokumentarstück geschrieben, sondern vielmehr ein hochpoetisches Traumstück in dem neben Geister auch Roboter und zu Leben erweckte Puppen eine Rolle spielen. Dahinter immer die Fragen nach Anpassung und Widerstand, bzw. wer nutzt welche Möglichkeiten für welche Interessen und wie zynisch und verlogen verhalten sich dabei so manche Heilsversprecher?

So singt ausgerechnet »Das Mitglied der politischen Partei«, denn auch solche Figuren finden sich in dem Stück von Pat To Yan:

»Just look to me, I could save your soul

 …

You wanna feel happy, I’ll make you feel happy

every day after day after day!«

Jan Hutter als »Das Mitglied der politischen Partei« und Gaby Pochert als »Antigone«.

Am Ziel der fantastischen Reise in die eigene Vergangenheit trifft der Sohn scheinbar auf seine Eltern, doch es sind nur Erscheinungen, Schatten eines Theaters, Roboter und Puppen, die sich selbst genug sind und kein Publikum brauchen.

Doch wahre Kunst braucht die Auseinandersetzung und das Theater seit jeher ein Gegenüber, eine demokratische Öffentlichkeit, das Publikum!

Denn Theater ist mehr als eine Freizeitaktivität! Theater ist die spielerische Reflexion von Gesellschaft mit all ihren Problemen! Theater hat einen Bildungsauftrag, reflektiert unsere Geschichte und spielt mit Zukunftsvisionen. Theater kann Mut machen, Dinge zu verändern.

Theater lädt ein, Bezüge zum eigenen Leben herzustellen. Es kann hinter einer scheinbaren Wirklichkeit führen und dem Geheimnisvollen, dem Surrealen sein Recht geben.

Verena Bukal als »Die Katze mit dem Loch« und Silvio Kretschmer als »Der Außenstehende«.

Wie der »Außenstehende« im Stück kann Theater poetische Zeugenschaft ablegen und mit einer Fantasie, die an der Wirklichkeit geschult ist, spielen.

Auch wenn wir versuchen auf digitalem Wege – wie u.a. in diesem BLOG – mit unserem Publikum in Kontakt zu bleiben, kann wahres Theater immer nur live stattfinden!

Horst Busch,
Chefdramaturg

Martin Struppek als »Kakerlake« allein mit ihren Robotern (Ensemble).

LESETIPPS:

Paul Nemitz und Matthias Pfeffer: »Prinzip Mensch. Macht, Freiheit und Demokratie im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz«. Berlin, 2020.

Kai Strittmatter: »Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert«. München, 2018.

Carolin Emcke: »Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit«. Frankfurt am Main, 2013.

© Fotos: Martin Kaufhold.