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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

Das Pferd neu aufgezäumt

Ralph Bentzkys »Im weißen Rössl« im Spannungsfeld von Postkartenidyll und Wahrheitswunsch.

Am vergangenen Samstag, den 5. Dezember wäre Ralph Benatzkys »Im weißen Rössl« in der Regie von Michael Schachermaier über die Bühne des Saarländischen Staatstheaters galoppiert. Die Premiere ist vorerst verschoben (gewiss nicht aufgehoben!); Zeit für einen kleinen Diskurs in die Welt der vermeintlichen Banalität.

Simon Staiger, Christof Messner und Marie Smolka.

Die Operette gilt gemeinhin als »leichte Muse« – ihr Ruf eilt ihr oftmals voraus, jedoch in wenig ruhmreicher Weise: zu leicht, zu albern, zu kitschig und oberflächlich, eine Ausgeburt der fluffig-süßen Banalität. Seriosität und Gehalt sind Begriffe, die man insbesondere im deutschsprachigen Raum eher nicht mit der Operette in Verbindung bringt.

Auch in der Wissenschaft wurde die Operette respektive das Unterhaltungstheater über Jahre hinweg wie die ulkige Stiefmutter behandelt, die kaum eine nennenswerte Aussage zum Weltgeschehen trifft, sondern eher walzerbeschwipst dümmlich um die Ecke grinst. Ein Irrtum, ein historisches wie ästhetisches Missverständnis.

Doch woher kommt die Annahme, dass im Lachen nur Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit stecke, dass im Heiteren keine Wahrheit, kein Ernst zu finden sei? Die Kategorisierung in »E-« (wie Ernst) und »U-Musik« (wie Unterhaltung) mag nun vorrangig ein Phänomen des deutschsprachigen Rezeptionsraumes zu sein, in welchem die »U-Musik« naturgemäß höchstens der kommerzielle, aber nur in Ausnahmefällen der ideelle und inhaltliche Sieger ist.

Carmen Seibel, Markus Jaursch, Algirdas Drevinskas, Simon Staiger, Marie Smolka, Stefan Röttig und Angelos Samartzis.

»Operette« bedeutet wörtlich übersetzt »kleine Oper«, der Ursprung des Wortes leitet sich aus dem Italienischen ab. Die Quellenlage zur Entstehung des Begriffs und der Gattung ist diffus, das erste Mal taucht die Bezeichnung »Operette« im 17. Jahrhundert auf, vom ausgehenden 19. bis zum Ende der 1930er Jahre durchlief die Gattung einen erheblichen Bedeutungswandel.

So beschrieb die Operette im 18. Jahrhundert oftmals Werke, die allein aufgrund ihres geringeren Umfangs als »kleine Opern« bezeichnet wurden, beispielsweise Einakter oder Opern, die »nur« eine reine Komödienhandlung hatten im Unterschied beispielsweise zu Opera seria oder Tragédie Lyrique.

Auch wurden Werke als Operette bezeichnet, die keine Gesangsvirtuosen erforderten, sondern von gesanglich talentierten Schauspielern interpretiert werden konnten. Auch die Struktur der Operette war oftmals einfacher gehalten, sodass beispielsweise die Gesangstexte der Vaudeville-Komödien der Pariser Jahrmarktstheater je nach Kontext ausgetauscht und nur die bekannten Melodien beibehalten wurden.

Insbesondere im deutschsprachigen Raum setzte sich die Bezeichnung Operette als Sammelbegriff für allerlei Opern durch, um eine Abgrenzung zur italienischen und französischen Oper zu schaffen, die ihrerseits oftmals als wesentlich anspruchsvoller und dadurch höhergestellt waren. Ein Umstand, der sich bereits aus der Sprache heraus ergab, galt das Deutsche doch im Gegensatz zum Französischen, die internationale Sprache der Aristokratie, als weniger wertvoll. Darüber hinaus hatten deutschsprachige Opern oftmals komödienhafte Tendenzen mit gesellschaftlich niedrigstehenden Figuren, also per se schon einen wenig repräsentativen Charakter.

Christof Messner, Angelos Samartzis und Marie Smolka.

Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts konnte sich die Operette als »bürgerlich deutsche Oper« emanzipieren und etablieren. Ausgehend von Wien trugen die Werke u. a.  von Johann Strauss (Sohn) und Carl Millöcker wesentlich zu der Entwicklung der Wiener Operette bei, die als Gegenentwurf zur Pariser Operette von Jacques Offenbach Anerkennung und Legitimation fand. Darüber hinaus wurde die Operette zur geistigen Galionsfigur der privatwirtschaftlichen Theater und Wandertruppen, die sich gegenüber der subventionierten Hoftheater und ihrer repräsentativen, wenn nicht gar elitären Hochkultur der Oper behaupten wollten.

Vor dem Hintergrund dieses sehr kurzen historischen Umrisses der Entstehungsgeschichte einer künstlerischen Gattungsform, in denen die verschiedenen soziokulturellen wie historischen Umständen nur punktuell Erwähnung fanden, lässt sich bereits ein Muster der Rezeption erkennen. So war – und mutmaßlich ist es nach wie vor – oftmals der als »leicht« definierte, humoristische, komödienhafte Charakter der Operette, der ihr eine gewisse Einfalt attestiert und ihr damit einen hohen künstlerischen wie ideellen Wert abspricht. Ausgehend von dieser Betrachtungsweise mag nun der Eindruck entstehen, als ließe sich der Wert respektive die Qualität eines Werks an den Parametern Kompliziertheit, Seriosität und Ernsthaftigkeit messen. Aspekte, die eine gewichtige Rolle spielen in der Rezeption des vermeintlich leichten Unterhaltungstheaters.

Marie Smolka mit Tuba. Vielen Dank an die Firma Freebell Instrumentenbau GmbH aus Saarbrücken, die uns die Tuba kostenfrei für die Produktion zur Verfügung stellt.

Obgleich namhafte Philosophen wie Theodor W. Adorno der Operette eine »reale Basis«, also einen direkten Bezug zur Lebensrealität zusprachen, mag es verwundern, dass dieser Gattung des Fin de siècle vielfach abgesprochen wurde, mit eben jener zeitgenössischen »Wirklichkeit« in Bezug zu stehen, ja sogar ein primäres Medium ästhetischer Lebens-Themen der Jahrhundertwende zu sein.

Die Operette ist trotz oder gerade wegen ihrer Komödie aus dem Gedanken heraus entstanden, die jeweilige vorherrschende soziale Ordnung, politische Zustände, ja sogar Geschlechterrollen und (urbane) Lebensmodelle als Ausdruck eines Lebensgefühls neu zu chiffrieren. Angesichts ihrer kurzen Lebensdauer von den 1850er bis in die 1930er Jahre drängt sich oftmals der Verdacht auf, die Operette sei tot, eine museale Gattung, die lediglich zum Schunkeln, nicht zum Denken anrege.

Ein Umstand, der auch die Rezeptionshaltung gegenüber Ralph Benatzkys »Im weißen Rössl« maßgeblich beeinflusste. Ein Urgestein deutsch-österreichischer Betulichkeit, jedes Lied ein ohrenwürmender Hit, der Himmel ist blau, die Liebe das Wunderbarste, ein bisschen Ulk hier und ein bisschen preußische Piefken versus schnodderiger Österreicher da. Fertig ist der (Kassen-)Schlager. Spätestens seit Peter Alexander 1960 als Oberkellner Leopold der kriegsgebeutelten Nation das zerbombte Heimatgefühl zurück in die Flimmerkisten des Wohnzimmers brachte, schien das Pferd vor allem eines: totgeritten.

Stefan Röttig, Algirdas Drevinskas, Bernd Geiling, Marie Smolka, Simon Staiger, Markus Jaursch, Carmen Seibel.

Die einst parodistisch-kabarettistischen Ideale der Uraufführungszeit (1930) verklärten sich durch den Schleier der (ernstgemeinten!) Postkartenidylle, wo jedes Wort die Wahrheit war oder zumindest den schier existenziellen Wunsch implizierte, dass es doch bloß die Wahrheit sei. Der Himmel blau, die Liebe das Wunderbarste, ein bisschen Necken hier, ein bisschen Busseln da und am Ende: Das Glück vor der Tür, die Sorgen vergessen. »Rössl« an, Welt aus.

1994 war es dann, als das »Rössl« in der Berliner Bar jeder Vernunft neu aufgezäumt wurde. Mit den Geschwistern Pfister, Max Raabe, Otto Sander, Gerd Wameling, Walter Schmidinger und Meret Becker in den Hauptrollen wurde es von den Motten seiner Rezeptionsgeschichte befreit und vom Musikantenstadtl zurück auf die Bühne geholt. Und plötzlich war sie wieder da, die schrill-schräge Ironie, die Ohrfeigen verteilende Parodie, ja sogar der Kitsch, der ganz ohne verlogene Operetten-Seligkeit des deutschen Nachkriegsfilms auskam. Und das nicht hinter staubigen roten Vorhängen mit viel Glitzer, sondern direkt neben Love Parade, Christopher Street Day und MTV. Die Unterhaltung hatte ihre Legitimation zurück. Ja, in Berlin am Wolfgangsee, da konnte man gut lustig sein, weil hier niemand die Wahrheit im weißen Rössl suchte, sondern das augenzwinkernde Offensichtliche der Lüge durschaute.

Christof Messner und Marie Smolka.

Dabei wurde das Stück weder für den elitären Theateradel dekonstruiert noch für die breite Masse fei heimatlich aufgehübscht, vielmehr aus dem Geist des Kabaretts auf nahezu Rudimentäres reduziert, sowohl musikalisch als auch ästhetisch. Mit Erfolg. Aus ehemals drei Bühnen, die das Stück 1993 spielten, wurden 1995 42. Offensichtlich hatte sich wohl endlich eine neue Vision im Umgang mit dem vermeintlichen Spießbürgertum offenbart. Die Operette war Back im Business.

Vor dem Hintergrund dieser beispielhaften »Rehabilitation« ließe sich folgende Schlussfolgerung verbunden mit Aufforderung formulieren: Im Moment der Betrachtung, der Interpretation und Rezeption entfaltet die Operette ihr immanentes Potenzial von Lebendigkeit, Aktualität und Brisanz. Obgleich sie nur allzu gern und immer wieder hinter vermeintlicher Zahmheit und Oberflächlichkeit versteckt wird, so fordert doch gerade die Operette den Rezipienten heraus, einen Blick hinter das vermeintlich Offensichtliche zu werfen. »[…], dass sich die Gesellschaft nicht allein operettenhaft betrug, sondern auch das operettenhafte Treiben durchschaute, ohne es aufzuheben«, (der Offenbach-Biograf Siegfried Kracauer) darin mag die Krux der Operette liegen und die große Herausforderung ihrer Rezeption im 21. Jahrhundert sein.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

Fotos © Martin Kaufhold.