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AUF EIN WORT: SEBASTIAN HANNAK

Sebastian Hannak gehört zu den profiliertesten deutschen Bühnenbildnern seiner Generation. Nach dem Studium im Fach Bühnen- und Kostümbild an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, zu dem ein Aufenthalt bei David Hockney gehörte, hat er an zahlreichen Theatern im In- und Ausland gearbeitet. Für seine Raumbühne »Heterotopia« im Opernhaus von Halle erhielt er 2017 den Theaterpreis »Der Faust«. Er kreiert gleichermaßen für Oper, Schauspiel und Ballett. Am Saarländischen Staatstheater hat er bislang mehrere Male gearbeitet: Er schuf das Bühnenbild für Bertolt Brechts »Leben des Galilei« (2015), für Richard Straussʼ Oper »Salome« (2018) und im Ballett für Stijn Celisʼ Choreographien »Shunkin« (2018), »Prometheus« (2019), »Sound & Vision« (2020), »Winterreise« (2021) und »Der Nussknacker« (2021). In Kürze hat Giacomo Puccinis Oper »Turandot« in Jakob Peters-Messer Inszenierung Premiere – und Sebastian Hannak gestaltet wieder die Bühne. Kompaniemanager Saarländisches Staatsballett und Dramaturg Klaus Kieser traf ihn zum Gespräch.

Bühnenbildner Sebastian Hannak

K.K.: Du arbeitest gleichermaßen für Ballett, Oper und Schauspiel.Wie unterscheidet sich die Arbeit für die drei Sparten?

S.H.: Ein grundsätzlicher Unterschied rührt aus den verschiedenen Erzählstrukturen her. Im Ballett erzählt man eine Geschichte mit tanzenden Körpern, daraus ergibt sich bildnerisch erst mal eine große Freiheit. Hier kann man Räume musikalisch und choreographisch erfinden. In der Oper sind die Räume zunächst von der Handlung vorgegeben, da es schon eine fertige musikalische Erzählabfolge gibt. Der Raum verhält sich also strukturell zu dem, was das Libretto und die Musik vorgibt.

Richard Strauss‘ »Salome« 2018 am SST: Michael Baba (Herodes), Pauliina Linnosaari (Salome), Judith Braun (Herodias) | Foto: Martin Kaufhold

Man kann sich im Ballett also auf andere Dinge konzentrieren. Wenn man zum Beispiel die Geschichte in eine eigene Örtlichkeit verlegt, wie etwa in »Prometheus«: Stijn Celis und ich nahmen uns die Freiheit zu sagen, dass wir bildnerisch eine Geschichte vom Dunkel zum Licht erzählen. Auch im Schauspiel steht zuerst der vorhandene Plot, etwa eine unmögliche Liebe, eine Revolution oder ein Mord, weniger eine abstrakte Entwicklung. Auch im Musiktheater wäre die Herangehensweise wie bei »Prometheus« eine Randerscheinung, da weniger Uraufführungen produziert werden als Repertoirevorstellungen. Im Ballett kann man gemeinsam andere Narrationen aufmachen, die man von einer Art Nullpunkt aus kreiert.

Saarländisches Staatsballett in »Prometheus« | Foto: Bettina Stöß

K.K.: Wie war das im Fall des Balletts »Der Nussknacker«?

Hatten wir bei »Prometheus« die Möglichkeit, von einer Idee auszugehen, war es im »Nussknacker« schon mal eine definierte Örtlichkeit, das Wohnzimmer der Familie Stahlbaum. Aber innerhalb des »Nussknackers« gibt es eine Reise in eine Phantasiewelt. Hier haben wir eine sichtbare Verwandlung des Raums als Mittel gewählt, die das Publikum auf diese Reise mitnimmt, auf eine Veränderung der herkömmlichen Realität.

»Der Nussknacker«: Montana Dalton, Nicola Strada und Ensemble | Foto: Ursula Kaufmann

Mir gefällt es, wenn Verwandlungen visuell nachvollziehbar sind: Am Anfang sieht man ein großbürgerliches Wohnzimmer, das sich zu einer abstrakten Welt weitet, die erkennbar mit dem Ausgangspunkt zu tun hat und doch deutlich eine Phantasiereise ist. Solche Momente finde ich toll, weil man das Publikum aus den Augen der Protagonisten heraus an dieser Verwandlung teilhaben lassen kann. Ich sehe Marie und wie sich aus ihrer kindlichen Phantasie heraus etwas verändert. Und dank der Unterstützung durch eine großartige Musik entfaltet das eine ganz eigene Wirkung, fast als wäre es das normalste der Welt, dass sich Wände bewegen und neue Räume entstehen.

»Sound & Vision«: Alexander Andison, Micaela Serrano Romano, Shawn Throop | Foto: Bettina Stöß

K.K.: Und dann gibt es bei der Arbeit fürs Ballett doch wohl auch ganz praktische Erfordernisse?

S.H.: Ja. Das Bühnenbild für ein Ballett ist immer Gefäß für die Tänzer, die die Choreographie zum Leben erwecken – und der Tanzboden ist dabei das A und O des Ganzen. Er muss weich genug sein, nicht wellig, nicht zu klebrig, nicht zu rutschig. Der Raum muss an bestimmten Stellen Auftrittsmöglichkeiten haben, und in allen Räumen muss natürlich immer Platz für den Tanz sein.

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Auf ein Wort Theaterblog

DAS UNVERSÖHNLICHE VERSÖHNEN

In diesem Duett (oder Duell), das mit Sprache, Schweigen und allen verfügbaren Registern der Dramatik liebäugelt, erspielt sich der Spieler seine Lebenszeit, setzt sich mit dem Tod auf schier unerschöpfliche und humorvolle Weise auseinander; sie ringen miteinander, trösten und missverstehen sich wie zwei Vertraute. Leben und Tod – hinunter gebrochen auf die Theatersituation. Und wir, das Publikum, sind mit gemeint, tanzen den Totentanz mit. Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb im Gespräch mit dem Autor Björn SC Deigner – über Kunst, das Politische und den Tod.

Bettina Schuster-Gäb: Was macht einen guten Stoff aus?

Björn SC Deigner: Das ist eine große Frage. Ich kann sie auch insofern schlecht beantworten, weil meine Stücke sehr verschieden sind. Vielleicht so: ich glaube an das Politische im Schreiben. Ich glaube an die Musikalität von Sprache, an die verführerische Abgründigkeit von Figuren auf der Bühne und das politische Moment, wenn sich Menschen zu einer Gruppe versammeln, die sich Publikum nennt. Und bei »Spieler und Tod« war es auch die Lust am Spiel. Das Vertrauen darauf, dass ein großes Thema ganz klein angepackt werden kann. Dass uns zwei Schauspieler auf der Bühne dazu verführen können, doch einem Schrecken in den Schlund zu schauen, auch wenn man herzlich gelacht hat dabei. Ich glaube mittlerweile, dass man als Kunstschaffender es auf eine gewisse Weise nicht vermag, mit der Welt in einen Gleichklang zu kommen – irgendetwas fehlt immer oder ist gerade zu viel. Das interessiert mich an der Welt: das Unversöhnliche zu versöhnen und das Versöhnte wieder zu bezweifeln.

B. S.-G.: Der Tod – ein großes Thema. Wie und warum hast du dich ihm angenähert?

B.D.: Jeder Mensch, der sich mit Kunst beschäftigt, hat es mit dem Tod zu tun. Als Sujet eines Bildes wie bei Dürer; oder als auslösender Konflikt eines Stückes bei Schiller oder Shakespeare zum Beispiel. Wenn man durch die Künste geht, bemerkt man, wie präsent der Tod als Topos immer war – auch unabhängig von kirchlicher Prägung. Insofern ist es vielleicht eher fraglich, wie wenig der Tod, auch im gesellschaftlichen Miteinander, vorkommt (auch wenn es sich durch die Pandemie gerade anders gestaltet). Das professionalisierte Abschieben des Vorganges des Sterbens in Institutionen wie Hospize oder Altersheime wurde durch die Corona-Krise aufgerissen; ich denke aber, durch die systemischen Stellschrauben, die unser Zusammenleben fixieren, wird auch das bald wieder vergessen sein. Wir leben – noch – unter dem Leitsatz von Wachstum, Erweitern und Vergrößern. Da hat Verlust, Scheitern, Tod wenig Platz. Das war die Hintergrundstrahlung für die Idee, ein Stück über den und mit dem Tod zu schreiben. Um dann leicht zu werden: ein Abend, an dem wir dem Tod ins Gesicht lachen. Dass er uns trotzdem einholt, dass wissen wir ja ohnehin…

»Spieler und Tod«: Weitere Vorstellungstermine: 22.1., 29.1., 6.2., 18.2., sparte4 © Martin Kaufhold

B. S.-G.: Ist der Spieler ein guter Mensch?

B.D.: Was ist ein guter Mensch – oder noch schlimmer: was gar ein schlechter? Ich glaube, die Literatur ist ein Ort, wo alle Menschen gebraucht werden. Wir wollen sie dann lieben oder hassen, leiden mit ihnen oder wir lehnen sie ab. Aber wir verhalten uns doch zu ihnen. Ob sie dafür gute oder schlechte Menschen sind, ist beinahe zweitrangig, es zählt eher der Graubereich dazwischen. Eine gute Figur wäre der »Spieler«, wenn sie es schaffen würde, dass wir uns von ihr abgrenzen, darum über sie lächeln, zugleich aber wieder zu ihr finden dürfen und plötzlich getroffen sind davon, wie auch diese Figur verzweifelt sein kann, kindlich, voller Angst. Dann wäre vielleicht der »Spieler« nicht unbedingt ein guter Mensch, aber immerhin eine gute Figur.

B. S.-G.: Und die Figur des Todes?

B.D.: Der Tod, so wie er in meinem Stück vorkommt, hat mich aus zwei Gründen sehr gereizt: zum einen ist er ein recht schweigsamer Spielpartner. Das ist szenisch interessant, weil in jeder Szene ein grundsätzliches Missverhältnis zwischen den beiden Figuren besteht, zumal der »Spieler« sehr viel spricht. Dieses Missverhältnis ist grundlegende Bedingung für Humor, glaube ich. Und zugleich bildet es eine Grundspannung, mit der jede Szene umgehen kann. Zum anderen ist der Tod – auch auf unserer Bühne – immer nur eine kulturelle Repräsentation. Was könnte mehr Theater sein! Der Tod ist immer schon inszeniert und hat sich – oder wurde – über die Jahrtausende immer anders in Szene gesetzt. Das war mir wichtig für die Figur des Todes, die älter als das Christentum ist: sie fragt nicht nach Schuld, sie erlöst nicht, sie kann auch nicht drohen. Sie kommt einfach und macht keinen Unterschied.

B. S.-G.: Wie weltlich ist also der Tod?

B.D.: Das Nicht-Einverstanden-Sein mit der Welt, weil ein Mensch gehen musste, den man bei sich haben wollte: das ist eine Erfahrung, die vermutlich jeder Mensch schon einmal machen musste, oder die einem unweigerlich noch bevorsteht. Ich glaube, dass darin ganz fundamental eine politische Kraft liegt. Die Verhältnisse, wie sie scheinen, nicht zu akzeptieren, ist auch ein politisches Potential. Im alltäglichen Leben geht ein Bewusstsein dafür, dass Welt auch ganz anders sein könnte, ja immer verloren. Einschnitte wie der Tod, die in ihrer Andersartigkeit keine Rücksicht nehmen (ob es uns gerade passt zum Beispiel), zeigen uns auf, dass wir konfrontiert werden mit Welt und uns darin entweder abfinden müssen oder aufbegehren dagegen. Das empfinde ich sehr politisch. Abseits davon ist vor allem das Sterben politisch und zwar ganz profan: wer kann es sich leisten, wie zu sterben? Bei den Liebsten zuhause, mit einer privaten Pflegekraft – oder im Mehrzimmerbett, verpflegt und gesäubert durch wechselnde Schichten überarbeiteter Pflegekräfte.

Der Tod selbst – zumindest wir er uns im Stück erscheint –, macht keine Unterschiede. Und darin ist er wohl seltsam unpolitisch. Und das kann man ihm neiden: Menschen brauchen schließlich Politik, um sich über Fragen einig zu werden, auf die es kaum eine Antwort gibt. Der Tod scheint von diesen Fragen unberührt.

Björn SC Deigner, geboren 1983 in Heidelberg, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Deigner ist Autor für Theater und Hörspiel, sowie Sounddesigner und Komponist an verschiedenen deutschen Stadttheatern (u. a. Thalia Theater Hamburg). Seine Texte wurden eingeladen zu den Autorentheatertagen 2018 am Deutschen Theater Berlin sowie 2019 zum Heidelberger Stückemarkt.

Das Interview führte Bettina Schuster-Gäb, Schauspieldramaturgin mit Sonderprojekt Festivalleitung und Programmdramaturgie »Festival Primeurs« & »Primeurs PLUS«

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I act, i dance

»iMove« – das Jugendtanzensemble im Saarländischen Staatstheater

Die jungen Nachwuchstänzer*innen des Jugendtanzensembles iMove,welche von der Tanzpädagogin Claudia Meystre trainiert werden, sind in dieser Spielzeit gleich bei zwei Produktionen dabei. Sie treten sowohl im März nächsten Jahres bei ihrer eigenen Produktion »Was uns bewegt« auf, sind aber auch derzeit bei der Oper »Alcina« auf der Bühne im Großen Haus zu sehen.

iMove | Foto: Astrid Karger

Die iMover*innen lieben es zu performen, auf der Bühne zu stehen, aber vor allem zu tanzen:

»Tanzen ist ein unfassbares Gefühl. Man kann damit so viel ausdrücken, vermitteln und sich seine eigene kleine Welt errichten«. Die junge iMoverin Giulia Ferraro erzählt von ihrer Leidenschaft zu tanzen und äußert sich über die von Regisseur Alessandro Talevi inszenierte Oper »Alcina«.

in der Mitte: Valda Wilson (Alcina); iMove | Foto: Astrid Karger

M.T.: Giulia, was heißt es für dich zu tanzen? Was bedeutet es dir und wieso ist Tanzen deine Leidenschaft?

G.F.: Es ist ein unfassbares Gefühl, das ich nur schwer in Worte fassen kann. Man kann durch Tanzen so viel ausdrücken und vermitteln. Ich kann mir meine eigene kleine Welt errichten und einfach loslassen – ich bin frei. Die Möglichkeiten sind grenzenlos, es gibt kein richtig oder falsch. Tanzen verbindet die Menschen, obwohl sie alle unterschiedliche Persönlichkeiten und Geschichten in sich tragen. Das ist total schön und faszinierend.

Valda Wilson (Alcina); iMove | Foto: Astrid Karger

M.T.: Hast du schon einmal auf einer Bühne performt vor so viel Publikum, wie es jetzt bei der Oper der Fall ist

G.F.: Ja. Ich tanze jetzt seit einem Jahr bei iMove und seither sind wir schon mehrmals aufgetreten, beispielsweise in der Völklinger Hütte im September. Davor habe ich drei Jahre lang Hip-Hop getanzt und oft bei Auftritten oder Meisterschafte mitgewirkt.

iMove | Foto: Astrid Karger

M.T.: Wie ist das Gefühl für dich, auf der Bühne vor so vielen Menschen zu stehen und zu performen?

G.F.: Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, auf der Bühne zu stehen und für Publikum zu tanzen. Wenige Sekunden bevor die Musik erklingt, steigt in mir das Adrenalin und es ist, als würden sich alle Tanzschritte und -bewegungen in meinem Körper stauen. Wenn es dann endlich losgeht, sprudelt das alles einfach raus und ich tanze ohne groß nachzudenken. Ich muss sagen, das ist sehr befreiend.

Foto: Astrid Karger

M.T.: Auch in der Oper »Alcina« steht iMove nun auf der Bühne und tanzt vor vielen theaterbegeisterten Menschen. Dabei stehen der Klimawandel und die Umweltzerstörung im Vordergrund und die Tänzer*innen müssen das zum Ausdruck bringen. Wie stehst du zu diesem Thema und wie ist es für dich, jetzt nicht »nur« tänzerisch, sondern auch schauspielerisch zu agieren?

G.F.: Ich finde es total toll und spannend, als Tänzerin und Statistin Teil einer solchen Produktion zu sein. Der Klimawandel ist ein sehr präsentes Thema und deshalb finde ich es großartig, bei dieser Oper mitmachen zu können. Es ist an der Zeit, die Menschen wachzurütteln, denn es geht um unsere Zukunft und wir alle sind für sie verantwortlich. Ich bin der Meinung, dass wir alle etwas ändern müssen und deshalb kann ich mich auch gut in meine Rolle hineinversetzen und hoffe, dass wir authentisch auftreten und das Publikum damit erreichen können.

Foto: Astrid Karger

Das Gespräch führte Maxine Theobald, die gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr Kultur in der Dramaturgie des Saarländischen Staatstheaters absolviert.

Neugierig geworden? Hier gibt es eine Übersicht und Karten für »Alcina«. Du möchtest auch Hinter die Kulissen des Saarländischen Staatstheaters blicken oder gar Teil des Theaters werden? Hier gibt es einen Überblick über unsere partizipativen und pädagogischen Angebote.

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Bon anniversaire, »Festival Primeurs«!

Das „Festival für frankophone Gegenwartdramatik – Primeurs“ feiert in diesem Jahr seinen 15. Geburtstag. Vier Partner hoben es im November 2007 gemeinsam aus der Taufe: das Saarländische Staatstheater, das Institut Français, der Saarländische Rundfunk und das Carreau in Forbach. Ursula Thinnes, damals Chefdramaturgin des Saarländischen Staatstheaters und heute Schauspieldirektorin des Staatstheaters Braunschweig, war Mitinitiatorin des Festivals und hat die ersten zehn Ausgaben begleitet. Im Gespräch mit Astrid Karger erinnert sie sich an die Geburtsstunde und die Sternstunden dieses außergewöhnlichen Festivals.

15 Jahre »Festival Primeurs« – ein Rückblick

A.K.: Wann und wie entstand die Idee zum »Festival für frankophone Gegenwartsdramatik – Primeurs«?

U. T.: Kurz nach dem Start der Intendanz von Dagmar Schlingmann am Saarländischen Staatstheater 2006 kamen Anette Kührmeyer vom Saarländischen Rundfunk und die damalige Leiterin des Institut Français, Isabelle Berthet, auf uns zu mit der Idee eines gemeinsamen Projekts. Beide wollten, so direkt an der französischen Grenze, frankophoner Literatur eine Bühne bieten.
Dagmar Schlingmann und ich waren als Kooperationspartner naturgemäß an Dramatik interessiert, Anette Kührmeyer als Hörspielchefin ebenso – außerdem war für sie wohl reizvoll, dass wir dem Hörspiel in der Alten Feuerwachen mitten in der Stadt Sichtbarkeit verleihen konnten. Klar war ganz schnell, in den ersten Minuten, dass wir unbedingt etwas zusammen machen wollten. Wir hatten alle kein Geld für Zusatzprojekte, konnten aber jeweils unsere besonderen Stärken, Netzwerke und verschiedenen Infrastrukturen nutzen. Durch das Institut Français war es uns zum Beispiel möglich, Autor*innen nach Saarbrücken einzuladen, wir als Staatstheater hatten die Bühne und das Ensemble.

Am Anfang stand der Kooperationswille

A.K.: Gab es einen bestimmten Anlass, einen Auslöser, beispielsweise ein in Deutschland unbekanntes Stück, das man vorstellen wollte?

U.T.: So konkret gingen wir erst einmal gar nicht vor. Der Auslöser war wirklich der Kooperationswille. Drei Institutionen direkt an der Grenze – daraus sollte sich ein Festival entwickeln lassen. Und wir wollten einen weiteren Partner einladen: Das Carreau, als erstes Theater hinter der Grenze (aus Saarbrücker Perspektive). Glücklicherweise war dessen damaliger Direktor, Frédéric Simon, sofort von der Idee begeistert.

A.K.: Was waren die ersten Schritte zur Gründung des Festivals?

U.T.: Solange ich an der Durchführung dieses Festivals beteiligt war – und das waren immerhin zehn Ausgaben –, hat es nie einen Kooperationsvertrag gegeben. Es galt das gegebene Wort. Ich liebe solche Verabredungen. Das erfordert Offenheit und Verbindlichkeit in der Kommunikation. Wir wollten frankophone, nicht nur französische Autor*innen vorstellen, in szenischen Lesungen und Werkstattinszenierungen, in einem Rahmen, der Spaß macht, der zum Feiern einlädt.
Und wir wollten nicht nur Stücke kennen lernen, sondern auch die Autor*innen einladen. Damit hatten wir die Struktur. Dadurch, dass der Sendeplatz des SR-Hörspiels – immer donnerstags, 20.04 Uhr – feststand, war auch eine bestimmte Aufteilung naheliegend. Donnerstags Hörspiel und Eröffnung, freitags die ersten Werkstattinszenierungen, samstags die lange Nacht mit der abschließenden Preisverleihung. Das war so in etwa der Kern des Festivals über viele Jahre.

A.K.: Wie kam es zum Namen »Primeurs«? Und zum erklärenden Untertitel »frankophone Gegenwartsdramatik«? Gab es Alternativen?

U.T.: Das Theater hat ja eine enge Disposition, Freiräume sind schwer zu finden. Wir schauten einfach, wo wir überhaupt eine Lücke finden konnten. Außerdem wollten wir einen gewissen Abstand zu den anderen Saarbrücker Festivals, so sind wir im November gelandet. Tatsächlich hat das Festival ein paar Mal direkt am Beaujolais-Primeurs-Wochenende stattgefunden. Bei der Namensfindung wollten wir herausstellen, dass es sich um wirkliche Premieren handelt. Die Stücke sind sehr oft im Auftrag des Festivals übersetzt worden, sodass die Saarbrücker Zuschauer*innen die ersten waren, die die Texte in deutscher Sprache kennen lernen konnten.

Feuerprobe statt »Wasserglas-Lesung«

A.K.: Ein besonders reizvolles Element der Primeurs-Lesungen ist, dass es sich nicht eigentlich um Lesungen handelt, sondern um kleine Inszenierungen, für die Schauspiel und Bühnenbild das Beste aus den gegebenen Beschränkungen herausholen. Wie hat sich dieses Format entwickelt?

U.T.: Mir war es ein Anliegen, die Stücke als Texte für das Theater zu präsentieren. Das Publikum sollte einen Eindruck von der Bühnenwirksamkeit bekommen. Das ist durch bloßes Zuhören nicht bei jedem Text möglich. Das ist gar nicht unumstritten. Es gibt Festivals, die neue Texte als einfache »Wasserglas-Lesung« präsentieren, um die Autor*innen ins Zentrum zu stellen. Ich bin allerdings der Meinung, dass eine gute szenische Einrichtung den Autor*innen nur nutzen kann.

A.K.: Wie finden Sie interessante Stücke, was sind Ihre Kriterien?

U.T.: Das Schöne an der Stückfindung war immer der gemeinsame Austausch mit den Partner*innen. Wir dachten unterschiedlich, hatten unterschiedliche Standpunkte und kulturelle Erfahrungen. Das war ungemein bereichernd. Der Luxus bei der Auswahl war, dass wir die Texte nicht auf Repertoiretauglichkeit abklopfen mussten. Gerade ein breites Panorama war uns wichtig. Kleine, experimentelle Texte kamen für uns genauso infrage wie große literarische Herausforderungen. Uns interessierten formale Experimente, schräge Stimmen, neue Dramaturgien.

A.K.: Welche Erinnerungen haben Sie an die erste Festival-Ausgabe 2007?

U.T.: Das war rauschhaft. Wir hatten unglaublich geackert, um alles zu realisieren – ohne großen Festivalstab. Es knirschte noch ganz gewaltig in den Abläufen, da haben wir uns in den Folgejahren weiterentwickelt. Aber die Party war groß.

Frankophone Dramatik im Wandel

A.K.: Können Sie eine inhaltliche Entwicklung, bestimmte Tendenzen erkennen? Gibt es etwas, das französisch-sprachige Dramatik grundsätzlich von deutschen Theaterstücken unterscheidet?

U.T.: Wir waren bei der Auswahl risikobereit. Das hat sich absolut ausgezahlt und uns von Anfang an ein spannendes Programm beschert. Aber ich glaube, die französische Dramatik hat sich sehr verändert in den vergangenen 15 Jahren. Als wir anfingen, kamen vor allem die formal spannenden Texte mit teils non-linearen Dramaturgien eher aus Québec oder dem frankophonen Afrika. Diese Trennlinien verlaufen längst nicht mehr entlang der Ländergrenzen. Ein performativer Text aus Frankreich? Heute ist das keine Überraschung mehr.

A.K.: Ein Stichwort zu jedem Jahrgang? Eine Erinnerung, etwas Prägendes? Was waren Höhepunkte der vergangenen 14 Primeurs-Jahrgänge? Und wie beurteilen Sie über die Jahre die Resonanz auf das Festival?

U.T.: Oje, das sind zu viele Erinnerungen! Aber die Begegnungen, die wir als Dramaturgie des Staatstheaters mit den Autor*innen hatten, das war großartig. Überhaupt, dass die Autor*innen sich untereinander kennen lernen konnten, dass alle versucht haben, möglichst viel zu sehen, das war unglaublich intensiv.
Vielleicht doch zwei Erinnerungen: Als ich 2012 William Pellier im Anschluss an die szenische Lesung seines Stückes »Wir waren« interviewte, sagte er auf jede Frage erst einmal »Ich weiß nicht, was ich sagen soll« und druckste noch ein bisschen herum. Mich hat das durchaus gestresst. Ich wollte ja keinen Autor in Verlegenheit bringen. Am Ende des Abends gewann er das Festival und sagte nach der Gratulation durch Dagmar Schlingmann »Ich weiß nicht, was ich sagen soll« – nichts weiter.
Zwei Wochen später hat er mir einen ausführlichen und sehr warmherzigen Dankesbrief geschrieben, kurze Zeit darauf einen wunderbaren Text für das Jubiläumsbuch des Saarländischen Staatstheaters, das 2013 unter dem Titel »Grenzenlos« erschien. Das gesprochene Wort war einfach nicht sein Medium.

Das Festival als Wegbereiter

In der letzten Ausgabe, die ich betreut habe, 2016, gab es eine französische Lesung eines Kinderstücks von Fabrice Melquiot in Forbach, die ich zauberhaft fand. Ich war damals auf der Suche nach einem Klassenzimmerstück für das Schauspiel Frankfurt und initiierte im Anschluss an das Festival die Übersetzung des Stücks. Der Text »Die Zertrennlichen«, ein Stück über Alltagsrassismus, ist mittlerweile an unglaublich vielen deutschsprachigen Theatern gespielt worden und hat 2018 den Deutschen Kindertheaterpreis gewonnen, der von den Übersetzer*innen Frank Weigand und Leyla-Claire Rabih entgegengenommen wurde. Beide sind dem Festival Primeurs ja mehr als verbunden. Leyla hat z.B. im ersten Festival auch ein Stück inszeniert. Es sind Wellen, die durch das Festival ausgelöst werden, manche bleiben klein, andere können wachsen – wie im letztgenannten Beispiel. Das Festival hat einigen Stücken den Weg auf deutschsprachige Bühnen bereitet, davon bin ich überzeugt.

Ursula Thinnes hat in München Theaterwissenschaft, Komparatistik, Germanistik und Geschichte studiert. Nach Stationen in Chicago, Wien, München, Linz war sie Chefdramaturgin am Theater Konstanz und von 2006 bis 2017 am Saarländischen Staatstheater. In dieser Zeit realisierte sie zahlreiche grenzüberschreitenden Projekte und war Mitinitiatorin des »Primeurs Festival für frankophone Gegenwartsdramatik«. 2017-2020 arbeitete sie als Dramaturgin am Schauspiel Frankfurt. Seit Beginn der Spielzeit 2020/21 ist Ursula Thinnes Schauspieldirektorin am Staatstheater Braunschweig.

Astrid Karger
Journalistin & Fotografin

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Auf ein Wort Theaterblog

ÜBERSETZUNG BEDEUTET BEWUSSTSEIN

Über eine grundsätzliche Infragestellung binärer Welten im Stück GABRIEL von George Sand

Schauspieler, Regisseur, Übersetzer: Sébastien Jacobi.

B.S.-G.: Sébastien Jacobi, was ist das Besondere an George Sand, an ihrem Universum?

S.J.: George Sand deckt mit ihrem biographischen Hintergrund und erzählerischen Ausrichtung ein ganzes Jahrhundert ab. Im Stile des 19. Jahrhunderts ist sie philosophische Autorin und mit ihren Erzählungen zugleich eine Sozial-Reformistin. Das ergibt ein ganz eigenes Universum.

B.S.-G.: Was ist das für eine Zeit?

S.J.: Das ist eine Zeit, in der das Individuum, der individuelle Blick populär wird. Dennoch ist er angebunden an ein gesellschaftliches Gesamtgefüge. Ich persönlich habe ein ausgesprochenes Faible für diese Literatur. Bei den großen Autor*innen wie Sand, Proust, Balzac, Dostojewski, Hugo wird das Leben als Roman betrachtet und ist gesellschaftlich relevant auch im Profanen. Auch George Sand spült gewisse Perspektiven einmal durch das Individuum hindurch und erhält sehr subjektive Betrachtungen von Welt, die wiederum auf das Große-Ganze zurückwirken. Ihr geht es nicht um Bebilderung von Zuständen, sondern um den Menschen in seiner sozialen Dimension und seinen sozialen Forderungen.

B.S.-G.:Wenn du von der menschlichen Autorin sprichst, meinst du damit, dass sie individualistisch strebende Menschen beschreibt oder eher einer Art soziale Ausrichtung ihrer Stoffe?

S.J.: Letzteres, genau. Sie beobachtet hart, beschreibend, arbeitet autobiographisch, aber bleibt fiktiv, und fordert reelle gesellschaftliche Veränderungen ein. In GABRIEL ist es ein veränderter Status der Frau. Oder fast noch mehr die gänzliche Abschaffung der geschlechtlichen Kategorie, mit der sie sehr viel Ungleichheit verband. Nie sind ihre Geschichten privat, immer von gesamtgesellschaftlichem Belang.

B.S.-G.: Wie tut sie das?

S.J.: Über eine Art Ideendrama mit philosophischer Argumentation, die man sich als Publikum aber ganz psychologisch und emotional vorstellen muss. Und das ist sehr modern! Es gibt Ähnlichkeiten zu zeitgenössischen Textflächendramen, aber wiederum auch zu shakespearesker Komik oder auch Blutrünstigkeit. Auch eine Tarantino-Note sehe ich in ihr – sie liebt das absurd Dramatische, Mantel-Degen-Geschichten, das Aufs-Ganze-Gehen. Darin ist sie höchst realistisch und filmisch.

B.S.-G.: Du hast nun nicht das gesamte 200-seitige Drama auf die Bühne gebracht, sondern hast dich als Regisseur fokussiert: auf das Dramatische, das Vorantreibende, auf die Grundideen. Welches sind das?

S.J.: Was ich verschlankt habe, um stärker vom Heute zu erzählen, ist ein gewisses gesellschaftliches Machtgefüge, ein religiöses Machttableau. Das Herrschaftsgefüge, benannt mit dem alten Prinzen Jules, fand ich hingegen als Grundaufstellung sehr hilfreich, um den Sprung in die Gegenwart zu schaffen: die Distanz zu einer märchenhaften Handlung mit Schloss und Adel lässt sich ohne Weiteres auch auf den Abgesang des weißen alten Mannes lesen. Ich habe mich in meiner Fassung auf die Entwicklung von Gabriel konzentriert; auf seinen/ihren Bewusstseinsprozess und Anspruch auf Selbst- statt Fremdbestimmung. Sand nannte das »Freiheit«.

Dramaturgin Bettina Schuster-Gäb im Gespräch mit Sébastien Jacobi. Foto © Paul Gäb.

B.S.-G.: Macht es einen Unterschied im Übersetzen, wenn du weißt, was du auf der Bühne erzählen willst?

S.J.: Ich mache Regie aus dem Gefühl oder den Erfahrungen eines Schauspielers heraus, gehe sehr von der Logik des Spielers aus – wie ich zu einer Form, zu einer Aussage komme. Ähnlich gehe ich auch die Übersetzung an: Ich habe versucht die Sprache zu erhalten, mich bewusst gegen eine Modernisierung der Sprache entschieden, die Höflichkeitsform »Ihr/Euch« ist zudem genderneutral. Mein Anspruch war stets eine Gesamtübersetzung zu denken – genutzt habe ich die Übersetzungsarbeit am gesamten Stück letztlich, um zu einer Fassung zu gelangen, einen Ausschnitt zu wählen. Was interessiert mich konkret für ein szenisches Erzählen? Welche Situationen, Dialoge und Konflikte sehe ich mit welcher Personnage erzählt? Welche Figuren brauche ich? Wie rhythmisiere ich den Text für ein szenisches Geschehen?

B.S.-G.: Dient die Inszenierung der Sprache oder die Sprache der Inszenierung?

S.J.: Beides. Die »alte«, vielleicht fremdartig formulierende Sprache ist mir ein wichtiges inszenatorisches Mittel: Über Sprache eine gewisse Distanzhaltung beim Publikum zu erzeugen, erleichtert die Draufsicht und schafft Bereitschaft sich der Aktualität auszusetzen. Einen vermeintlichen Schritt weiter weg zu stehen, tut der Kunst also gut. Im Falle von GABRIEL können Genderfragen weitaus allgemeingültiger betrachtet werden. Sand war in der sozialen Debatte sehr weit – so wie ihre Zeit, wodurch sie auch so zeitgemäß wirkt, aber eben mit einer Begrifflichkeit von 1837. Das Aushandeln und Sich-Ausprobieren in diversen Rollen ist Gegenstand von GABRIEL, so auch von Theater an sich – Geschichte wie Form sprechen sich gegen starre Identitäten aus.

B.S.-G.: Die Figur Gabriel, die wir am Ende sehen, fordert ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Veränderbarkeit von Identitätsvorstellungen ein, und zwar unabhängig vom biologischen Geschlecht.

S.J.: Deshalb gehe ich in der Inszenierung auch sehr stark über das Bild der Kunst – Gabriel ist ein/e Künstler/in, die eben diese andere Logik, diese performative Sicht verfolgt. Gesellschaftliche Normen aus einer anderen Position heraus in Frage zu stellen ist ihr Bestreben. Das Stück geht nicht von befreiten Individuen aus, es geht nicht um diese permanente individualistische Selbstbestimmung, sondern um die grundsätzlichere Infragestellung binärer Welten.

Foto © Honkphoto

Sébastien Jacobi erhielt seine Ausbildung als Schauspieler an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/Main. Festengagements führten ihn an das Theater Basel, Theater Dortmund, Schauspiel Köln und an das Schauspiel Frankfurt. Darüber hinaus gastierte er u.a in Mainz, Darmstadt oder Berlin und arbeitete immer wieder auch als Regisseur . So inszenierte er in Den Haag und Stockholm im Auftrag des Schauspiel Frankfurts für das Dramaten sowie am Schauspiel Frankfurt, dem Theater Bielefeld und dem Staatstheater Stuttgart. In Saarbrücken waren bisher seine Bio-Pics »Reise Reiser« über den Sänger Rio Reiser und »Mélodie! Maladie! Mélodrame!« über die Schauspielerin Ingrid Caven zu sehen.

Im Rahmen des Symposiums zu Theaterübersetzung »Primeurs Plus« wird Sébastien Jacobi Impulsgast sein und über sein Verhältnis zu Übersetzung, Sprache und Inszenierungsarbeit sprechen: www.festivalprimeurs.eu/primeurs-plus.

Bettina Schuster-Gäb,
Schauspieldramaturgin und Leitung Festival Primeurs

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Auf ein Wort Theaterblog

Molière in Minecraft spielen

Wilke Weermann über Theater und Computerspiele.

Du schreibst die Stücke, die du inszenierst meist selbst. Wie ist bei dir das Verhältnis von Schreiben und Inszenieren?

Also geschrieben habe ich schon immer. Das Schreiben für das Theater wurde aber erst durch das Regiestudium initiiert.

Zum Probenbeginn gab es keinen fertigen Text, sondern du hast das Stück mit Ensemble und Team gemeinsam entwickelt. Ist das deine übliche Arbeitsweise?

Es gibt auch Stücke, die am Schreibtisch entstehen, z.B. »Hypnos«, das beim Heidelberger Stückemarkt nominiert wurde. Aber im Prinzip will ich bei einer gemeinsamen Arbeit nicht alles vorgeben und kontrollieren, sondern die kreativen Kapazitäten aller nutzen. Bei der Filmvorlage geht es ja um einen Chirurgen, der seiner Tochter die Gesichter anderer Frauen transplantiert und sie total dominiert. Natürlich gibt es eine Verbindung zwischen einem Autor, der den Text für eine Schauspielerin schreibt, und diesem Vater. Das Thema hat sich in meinem Arbeitsprozess seltsam wiederholt. Das wollte ich kreativ nutzen.

Im Sommer 2021 bist du für ein Stipendium am Institut für Digitaldramatik des Mannheimer Nationaltheaters nominiert worden. Gibt es für dich Parallelen zwischen Computerspielen und Theater oder muss man für digitale Formate ganz anders schreiben?

Videospiele und Theater sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich. Beim Videospiel trifft man als Spieler Entscheidungen, die den weiteren Spielverlauf bestimmen, was im Theater eher nicht der Fall ist. Trotzdem ähneln sich beide in der Funktionsweise der Blickführung, die sich z.B. sehr vom Film unterscheidet. Im Film kann man den Blick der Zuschauer lenken, indem man Sachen, die man sehen soll, ins Bild rückt, z.B. durch Großaufnahmen. Bei Videospielen und im Theater hat man diese Möglichkeit nicht, man muss Wege finden, um die Aufmerksamkeit zu leiten. Ich denke, da können Videospiele und Theater viel voneinander lernen.
Ich war mal bei einem Vortrag über das Thema Blickführung von Leuten, die 3D-Filme produziert haben. Die hatten in einer Szene extra eine fliegende Taube eingebaut, weil man dann eher dieser Taube mit den Augen folgt und weiter vorne hinguckt. Solche Effekte sorgen dafür, dass die Leute mitbekommen, was im Spiel gerade wichtig ist. Und um Blickführung geht es auch auf dem Theater.
Wohin leitet ein bestimmtes Licht die Blicke der Zuschauer, welchen Ton setze ich ein, um die Konzentration der Zuschauer auf etwas Bestimmtes zu lenken. Was diese szenischen Vorgänge angeht, sind Videospiele und Theater sehr nah beieinander.
Es gibt Events, die werden im Spiel dadurch ausgelöst, dass man etwa an einen bestimmten Ort geht oder dass eine bestimmte Zeit verstreicht. Also als praktisches Beispiel:  Eine Figur setzt sich an einen Tisch, dadurch fängt die Kellnerin an, auf sie zu zulaufen, um sie dann zu fragen, was sie trinken möchte.
So sind im Grunde auch Theater Szenen organisiert, die ganze Theatermaschine hat solche Abläufe. Wenn die Schauspielerin Anne Rieckhof sich in »Augen ohne Gesicht« (»Daughter`s Cut«) in der Doktorszene nach vorne dreht und anatmet, dann gibt es den Lichtwechsel und den Soundwechsel und dann sagt sie den Satz und auf der emotionalen Ebene ist das dann der Triggerpunkt, an dem die Schauspielerin Emilie Haus darauf reagiert.
Viele Vorgänge im Theater lösen einander auf diese Weise aus, auch in ganz psychologischen Stücken, die sich scheinbar frei entfalten. In meinen Inszenierungen greife ich das oft auf und mache solche formalen Elemente spielerisch sichtbar.

Wenn der Scheinwerfer in deiner Inszenierung z.B. erst auf das Telefon schwenkt, bevor es zu läuten beginnt?

Ja, das ist z.B. so ein Moment, wobei der Scheinwerfer wiederum von dem emotionalen Moment ausgeht, den die Schauspielerin gerade spielt.  

Wenn du über Formate Digitaler Dramatik nachdenkst, würde dir da eher ein Projekt einfallen, das komplett im digitalen Raum stattfindet oder denkst du über Mischformen nach, bei denen immer noch Leute im Zuschauerraum zusammenkommen?

Ich fände es grundsätzlich interessant, beides zu vermischen, also z.B. Molière in Minecraft zu spielen (1). Aber noch spannender finde ich die Herausforderung, Spiel-Konzepte auf Inszenierungen zu übertragen. Da gibt es nämlich sehr interessante Ideen, Ästhetiken und Geschichten.
Also z.B. das Spiel-Moment, dass der/die Spieler*in das Spiel durch Entscheidungen selber eingreift. Und das wirklich als Entscheidungsbaum, wo solche Entscheidungen den Theaterabend total unterschiedlich sein lassen.
Oder man könnte eine Art Fernsteuerungsidee umsetzen. Ein*e Schauspieler*in hat eine Kamera, die eine Third Person-Perspektive einführt, mit der sie sich in einem Siedler artigen Raum bewegt (2). Das sind jetzt Möglichkeiten, die es in Ansätzen schon in Theaterinszenierungen gibt und nur erste Ideen. Aber man kann da sicher noch mehr übertragen und weiterentwickeln, das für eine bestimmte Ästhetik nutzen. Ich habe zumindest Lust darauf.

Das Gespräch wurde von Maxine Theobald transkribiert.  

(1) (Anm.: Minecraft ist ein Sandbox-Computerspiel, bei dem der Spieler Konstruktionen, wie Gebäude oder Schaltkreise aus zumeist würfelförmigen Elementen in einer dreidimensionalen Welt erschafft und sich darin bewegt.)

(2) (Anm.: Die Siedler ist eine Computerspielreihe, bei dem es darum geht durch geschickte Strategien eine Siedlung aufzubauen)