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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

Das Pferd neu aufgezäumt

Ralph Bentzkys »Im weißen Rössl« im Spannungsfeld von Postkartenidyll und Wahrheitswunsch.

Am vergangenen Samstag, den 5. Dezember wäre Ralph Benatzkys »Im weißen Rössl« in der Regie von Michael Schachermaier über die Bühne des Saarländischen Staatstheaters galoppiert. Die Premiere ist vorerst verschoben (gewiss nicht aufgehoben!); Zeit für einen kleinen Diskurs in die Welt der vermeintlichen Banalität.

Simon Staiger, Christof Messner und Marie Smolka.

Die Operette gilt gemeinhin als »leichte Muse« – ihr Ruf eilt ihr oftmals voraus, jedoch in wenig ruhmreicher Weise: zu leicht, zu albern, zu kitschig und oberflächlich, eine Ausgeburt der fluffig-süßen Banalität. Seriosität und Gehalt sind Begriffe, die man insbesondere im deutschsprachigen Raum eher nicht mit der Operette in Verbindung bringt.

Auch in der Wissenschaft wurde die Operette respektive das Unterhaltungstheater über Jahre hinweg wie die ulkige Stiefmutter behandelt, die kaum eine nennenswerte Aussage zum Weltgeschehen trifft, sondern eher walzerbeschwipst dümmlich um die Ecke grinst. Ein Irrtum, ein historisches wie ästhetisches Missverständnis.

Doch woher kommt die Annahme, dass im Lachen nur Oberflächlichkeit und Belanglosigkeit stecke, dass im Heiteren keine Wahrheit, kein Ernst zu finden sei? Die Kategorisierung in »E-« (wie Ernst) und »U-Musik« (wie Unterhaltung) mag nun vorrangig ein Phänomen des deutschsprachigen Rezeptionsraumes zu sein, in welchem die »U-Musik« naturgemäß höchstens der kommerzielle, aber nur in Ausnahmefällen der ideelle und inhaltliche Sieger ist.

Carmen Seibel, Markus Jaursch, Algirdas Drevinskas, Simon Staiger, Marie Smolka, Stefan Röttig und Angelos Samartzis.

»Operette« bedeutet wörtlich übersetzt »kleine Oper«, der Ursprung des Wortes leitet sich aus dem Italienischen ab. Die Quellenlage zur Entstehung des Begriffs und der Gattung ist diffus, das erste Mal taucht die Bezeichnung »Operette« im 17. Jahrhundert auf, vom ausgehenden 19. bis zum Ende der 1930er Jahre durchlief die Gattung einen erheblichen Bedeutungswandel.

So beschrieb die Operette im 18. Jahrhundert oftmals Werke, die allein aufgrund ihres geringeren Umfangs als »kleine Opern« bezeichnet wurden, beispielsweise Einakter oder Opern, die »nur« eine reine Komödienhandlung hatten im Unterschied beispielsweise zu Opera seria oder Tragédie Lyrique.

Auch wurden Werke als Operette bezeichnet, die keine Gesangsvirtuosen erforderten, sondern von gesanglich talentierten Schauspielern interpretiert werden konnten. Auch die Struktur der Operette war oftmals einfacher gehalten, sodass beispielsweise die Gesangstexte der Vaudeville-Komödien der Pariser Jahrmarktstheater je nach Kontext ausgetauscht und nur die bekannten Melodien beibehalten wurden.

Insbesondere im deutschsprachigen Raum setzte sich die Bezeichnung Operette als Sammelbegriff für allerlei Opern durch, um eine Abgrenzung zur italienischen und französischen Oper zu schaffen, die ihrerseits oftmals als wesentlich anspruchsvoller und dadurch höhergestellt waren. Ein Umstand, der sich bereits aus der Sprache heraus ergab, galt das Deutsche doch im Gegensatz zum Französischen, die internationale Sprache der Aristokratie, als weniger wertvoll. Darüber hinaus hatten deutschsprachige Opern oftmals komödienhafte Tendenzen mit gesellschaftlich niedrigstehenden Figuren, also per se schon einen wenig repräsentativen Charakter.

Christof Messner, Angelos Samartzis und Marie Smolka.

Erst zum Ende des 19. Jahrhunderts konnte sich die Operette als »bürgerlich deutsche Oper« emanzipieren und etablieren. Ausgehend von Wien trugen die Werke u. a.  von Johann Strauss (Sohn) und Carl Millöcker wesentlich zu der Entwicklung der Wiener Operette bei, die als Gegenentwurf zur Pariser Operette von Jacques Offenbach Anerkennung und Legitimation fand. Darüber hinaus wurde die Operette zur geistigen Galionsfigur der privatwirtschaftlichen Theater und Wandertruppen, die sich gegenüber der subventionierten Hoftheater und ihrer repräsentativen, wenn nicht gar elitären Hochkultur der Oper behaupten wollten.

Vor dem Hintergrund dieses sehr kurzen historischen Umrisses der Entstehungsgeschichte einer künstlerischen Gattungsform, in denen die verschiedenen soziokulturellen wie historischen Umständen nur punktuell Erwähnung fanden, lässt sich bereits ein Muster der Rezeption erkennen. So war – und mutmaßlich ist es nach wie vor – oftmals der als »leicht« definierte, humoristische, komödienhafte Charakter der Operette, der ihr eine gewisse Einfalt attestiert und ihr damit einen hohen künstlerischen wie ideellen Wert abspricht. Ausgehend von dieser Betrachtungsweise mag nun der Eindruck entstehen, als ließe sich der Wert respektive die Qualität eines Werks an den Parametern Kompliziertheit, Seriosität und Ernsthaftigkeit messen. Aspekte, die eine gewichtige Rolle spielen in der Rezeption des vermeintlich leichten Unterhaltungstheaters.

Marie Smolka mit Tuba. Vielen Dank an die Firma Freebell Instrumentenbau GmbH aus Saarbrücken, die uns die Tuba kostenfrei für die Produktion zur Verfügung stellt.

Obgleich namhafte Philosophen wie Theodor W. Adorno der Operette eine »reale Basis«, also einen direkten Bezug zur Lebensrealität zusprachen, mag es verwundern, dass dieser Gattung des Fin de siècle vielfach abgesprochen wurde, mit eben jener zeitgenössischen »Wirklichkeit« in Bezug zu stehen, ja sogar ein primäres Medium ästhetischer Lebens-Themen der Jahrhundertwende zu sein.

Die Operette ist trotz oder gerade wegen ihrer Komödie aus dem Gedanken heraus entstanden, die jeweilige vorherrschende soziale Ordnung, politische Zustände, ja sogar Geschlechterrollen und (urbane) Lebensmodelle als Ausdruck eines Lebensgefühls neu zu chiffrieren. Angesichts ihrer kurzen Lebensdauer von den 1850er bis in die 1930er Jahre drängt sich oftmals der Verdacht auf, die Operette sei tot, eine museale Gattung, die lediglich zum Schunkeln, nicht zum Denken anrege.

Ein Umstand, der auch die Rezeptionshaltung gegenüber Ralph Benatzkys »Im weißen Rössl« maßgeblich beeinflusste. Ein Urgestein deutsch-österreichischer Betulichkeit, jedes Lied ein ohrenwürmender Hit, der Himmel ist blau, die Liebe das Wunderbarste, ein bisschen Ulk hier und ein bisschen preußische Piefken versus schnodderiger Österreicher da. Fertig ist der (Kassen-)Schlager. Spätestens seit Peter Alexander 1960 als Oberkellner Leopold der kriegsgebeutelten Nation das zerbombte Heimatgefühl zurück in die Flimmerkisten des Wohnzimmers brachte, schien das Pferd vor allem eines: totgeritten.

Stefan Röttig, Algirdas Drevinskas, Bernd Geiling, Marie Smolka, Simon Staiger, Markus Jaursch, Carmen Seibel.

Die einst parodistisch-kabarettistischen Ideale der Uraufführungszeit (1930) verklärten sich durch den Schleier der (ernstgemeinten!) Postkartenidylle, wo jedes Wort die Wahrheit war oder zumindest den schier existenziellen Wunsch implizierte, dass es doch bloß die Wahrheit sei. Der Himmel blau, die Liebe das Wunderbarste, ein bisschen Necken hier, ein bisschen Busseln da und am Ende: Das Glück vor der Tür, die Sorgen vergessen. »Rössl« an, Welt aus.

1994 war es dann, als das »Rössl« in der Berliner Bar jeder Vernunft neu aufgezäumt wurde. Mit den Geschwistern Pfister, Max Raabe, Otto Sander, Gerd Wameling, Walter Schmidinger und Meret Becker in den Hauptrollen wurde es von den Motten seiner Rezeptionsgeschichte befreit und vom Musikantenstadtl zurück auf die Bühne geholt. Und plötzlich war sie wieder da, die schrill-schräge Ironie, die Ohrfeigen verteilende Parodie, ja sogar der Kitsch, der ganz ohne verlogene Operetten-Seligkeit des deutschen Nachkriegsfilms auskam. Und das nicht hinter staubigen roten Vorhängen mit viel Glitzer, sondern direkt neben Love Parade, Christopher Street Day und MTV. Die Unterhaltung hatte ihre Legitimation zurück. Ja, in Berlin am Wolfgangsee, da konnte man gut lustig sein, weil hier niemand die Wahrheit im weißen Rössl suchte, sondern das augenzwinkernde Offensichtliche der Lüge durschaute.

Christof Messner und Marie Smolka.

Dabei wurde das Stück weder für den elitären Theateradel dekonstruiert noch für die breite Masse fei heimatlich aufgehübscht, vielmehr aus dem Geist des Kabaretts auf nahezu Rudimentäres reduziert, sowohl musikalisch als auch ästhetisch. Mit Erfolg. Aus ehemals drei Bühnen, die das Stück 1993 spielten, wurden 1995 42. Offensichtlich hatte sich wohl endlich eine neue Vision im Umgang mit dem vermeintlichen Spießbürgertum offenbart. Die Operette war Back im Business.

Vor dem Hintergrund dieser beispielhaften »Rehabilitation« ließe sich folgende Schlussfolgerung verbunden mit Aufforderung formulieren: Im Moment der Betrachtung, der Interpretation und Rezeption entfaltet die Operette ihr immanentes Potenzial von Lebendigkeit, Aktualität und Brisanz. Obgleich sie nur allzu gern und immer wieder hinter vermeintlicher Zahmheit und Oberflächlichkeit versteckt wird, so fordert doch gerade die Operette den Rezipienten heraus, einen Blick hinter das vermeintlich Offensichtliche zu werfen. »[…], dass sich die Gesellschaft nicht allein operettenhaft betrug, sondern auch das operettenhafte Treiben durchschaute, ohne es aufzuheben«, (der Offenbach-Biograf Siegfried Kracauer) darin mag die Krux der Operette liegen und die große Herausforderung ihrer Rezeption im 21. Jahrhundert sein.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

Fotos © Martin Kaufhold.

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Hinter dem Vorhang Theaterblog

Besser als absagen!

Das 14. Festival Primeurs flüchtet in diesem Jahr wegen der Corona-Pandemie in den digitalen Raum und sucht andere Wege der Präsentation frankophoner Gegenwartsdramatik.

Das 14. Festival Primeurs – in diesem Jahr digital aus der Alten Feuerwache.

Nach vielen Gesprächen mit den Kooperationspartnern »Le Carreau«, SR2 Kultur und dem Institut Français, aber auch intern zwischen der Festivalbeauftragten Bettina Schuster-Gäb, der Schauspielleitung und der Generalintendanz haben wir uns dazu entschlossen, das 14. Festival Primeurs nicht abzusagen, sondern im digitalen Raum stattfinden zu lassen.

Kultur »On Air«.

In diesem Jahr also keine Festival-Atmosphäre, keine persönlichen Begegnungen mit den Autorinnen und Autoren aus Frankreich, Kanada oder der französischsprechenden Schweiz.

Keine Zuschauer in der Alten Feuerwache, keine Nachgespräche, kein Austausch nach den Vorstellungen über das gerade Gesehene, Gehörte und Erlebte. Keine Diskussionen über die Inhalte, die Formen der neusten Stücke aus dem frankophonen Sprachraum. Kein Grenzverkehr, kein direkter Austausch mit den Nachbarn und Kollegen*innen aus Frankreich. Keine Möglichkeit für unser Publikum oder für die Studierenden der Universität und Hochschulen Theater zu erleben.

Doch wenn zurzeit Theater nicht möglich ist, so wollten wir doch die Auseinandersetzung mit den Texten nicht aufgeben. Also, wie die ausgesuchten Stücke präsentieren? Wie mit der Tradition der szenischen Lesungen umgehen? Schnell war klar, dass das Live-Hörspiel von SR2 Kultur auch in diesem Jahr aus der Alten Feuerwache gesendet werden kann.

Die Präsentation des Textes »Feuersturm« von David Paquet war gerettet und konnte am Freitag, den 27. November 2020, übertragen und in die Mediathek eingestellt werden.

Aber wie mit den weiteren Texten umgehen? Wissend, dass eine Aufzeichnung einer szenischen Lesung etwas ganz anderes ist als eine Live-Präsentation vor einem gespannten Theaterpublikum, traten wir die Flucht nach vorne an und planten Videoaufzeichnungen der Lesungen. Alles schien uns besser als absagen!

Der Text »Versagen« von Blandine Bonelli in einer Übersetzung von Corinna Popp sollte als erstes von vier Stücken, für die das Staatstheater Verantwortung übernommen hatte, vorgestellt werden.

Dabei hatten unsere Schauspieldirektorin Bettina Bruinier und der Videokünstler Grigory Shklyar die Idee, für die vielen Spielorte des Stückes „Versagen“ nicht nur den vorgesehenen Drehort Alte Feuerwache, sondern auch die Büros und Gänge des Saarländischen Staatstheaters zu nutzen. Das Experiment begann.

Eva Kammigan im Sucher des Camcorders.

Nach den ersten Leseproben am Tisch, um den Text zu analysieren und auf erste Sprechhaltungen zu überprüfen, begannen am Freitag, den 20. November, die »Dreharbeiten«. Zwischen Studentenproduktion, denn ich fühle mich an die Anfänge meines Studiums der Theater-, Film und Fernsehwissenschaften erinnert, und Experimentalfilm, schmissen sich Bettina Bruinier als Regisseurin und Grigory Shklyar als Video-Regisseur und Kameramann in das Abenteuer einer kurzfristigen und improvisierten Video-Aufzeichnung in den Büros oder auf den Gängen des Saarländischen Staatstheaters.

Nathalie Klimpel als Kamera-Assistentin mit Filmklappe.

Dabei machten alle fast alles: Aus der Regieassistentin Nathalie Klimpel wurde mal flugs die Kameraassistentin, aus der Ausstattungsassistentin die »Production Designerin« und aus mir, dem Dramaturgen, der »Casting-Direktor« oder einfach nur ein Statist auf dem Set.

Silvio Kretschmer als Damien im Sucher des Camcorders.

Was für mich ein Experiment oder ein Abenteuer war, war für unsere Schauspielerinnen und Schauspielern nur eine andere Profession. Denn sie alle haben schon Filmerfahrungen gemacht haben. Sei es nun Silvio Kretschmer, den man beispielsweise am Samstag, den 21. November auf 3sat in der Filmkomödie »Amen Saleikum – Fröhliche Weihnachten« in der Regie von Katalin Gödrös erleben konnte, oder Jan Hutter, der vor seinem Engagement am Saarländischen Staatstheater in diversen Film- und Fernsehproduktionen wie »Soko Kitzbühel« (ORF / ZDF), in der Fernsehserie »Braut wider Willen« (ARD) oder in dem Fernsehfilm »Die Toten Von Salzburg« (ORF/ZDF) zu sehen war. Aber auch Anne Rieckhof, die seit 2017/18 zum Schauspiel-Ensemble gehört, spielte schon in unterschiedlichen Filmproduktionen und auch die neu-engagierte Eva Kammigan konnte man schon in Film- und TV-Produktionen wie zuletzt im »Tatort Saarbrücken« erleben.

Jan Hutter als David in einer Nahaufnahme.

Jetzt galt es, in wenigen Probentagen eine szenische Lesung zu erarbeiten und vor zwei Video-Kameras zu agieren. Denn auch in diesem Jahr sollte das Improvisatorische der Textpräsentation den Reiz ausmachen. Schließlich geht es beim »Festival Primeurs« nicht um mustergültige Inszenierungen, sondern um einen ersten Versuch der Theatralisierung der Texte und ihre Bekanntmachung in der deutschen Theaterlandschaft.

Anne Rieckhof als Farida.

Doch die Arbeit an einem Text für einen Theaterabend ist grundverschieden von der Erarbeitung einer Videofilm-Realisation. Statt vor einem Live-Publikum mussten nun die Schauspieler*innen entweder in den leeren Saal der Alten Feuerwache oder in die »toten Augen« der Kameras ihre kleinen Film-Takes spielen. Kamera-Acting statt Theaterproben.

Das Büro der Schauspieldirektion wird zur Filmkulisse mit Silvio Kretschmer als Damien und Eva Kammigan als Jugendamtsleiterin.

Umso mehr kann man gespannt sein auf die Umsetzung und die Schnittkünste des Videokünstlers Grigory Shyklar. Übrigens auch er ist kein Unbekannter in Saarbrücken, denn schließlich war er nicht nur Regieassistent und Regisseur am Saarländischen Staatstheater, sondern unterrichtete auch an der Kunsthochschule Saarbrücken.

Gregory Shklyar an der Kamera.

Zum Glück sind die Wege im Saarland kurz und so gilt mein Dank nicht nur allen Beteiligten der Produktion, wie der Technik AFW, der Requisite, der Kostüm-, Ton- und Beleuchtungsabteilung sowie allen vor und hinter der Kamera, sondern auch der HBK für die freundliche Nachbarschaftshilfe.

Horst Busch,
Chefdramaturg

Fotos: Horst Busch.

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Hinter dem Vorhang Theaterblog

#alarmstuferot #ohnekUNStwirdsstill

Am 1. November – Allerheiligen – fiel (erneut) der vorerst letzte Vorhang. Verdis »Il Trovatore« erklang im Großes Haus, ehe sich wieder eine zunehmend bedrückende Stille breitmachte. In ganz Deutschland.

#SangundKlanglos, #ohnekUNStwirdsstill und #AlarmstufeRot kursieren seitdem durch das Internet und die sozialen Medien und sind Zeichen einer Solidaritätsbewegung von Kunst- und Kulturschaffenden, die deutlich machen wollen, wie prekär die Lage ist. Wie fühlt es sich, seinem Beruf, um nicht gar zu sagen, seiner Berufung, nicht mehr nachgehen zu können, nachgehen zu dürfen? Der innere Kampf zwischen Vernunft und Verzweiflung, die Pandemie einzudämmen, aber sichtbar, hörbar und wirksam zu bleiben? Die Debatte um die Kunst ist längst entbrannt.

Mitglieder unseres Hauses wollen tätig werden, laut sein in der Stille. Ihre Gedanken halten sie fest in Form von kurzen Texten, Fotos oder Videos… Einen Teil davon können Sie hier nun sehen.

Sopranistin Valda Wilson.

»Hältst du es aus, mich nicht mehr zu hören?« Klara, cabaret artist, Koeln.

The question is intended rhetorically… but for me it hits a very sensitive nerve.  I doubt that I am alone in this…  It is a nerve we performers are happy to ignore as far as possible.

Aber ich glaube die Angst, gerade von vielen Kollegen, inklusive von mir selbst, ist, dass die Antwort vielleicht »Ja, ich halte es aus« sein könnte.

Sind wir bereit diese Frage zu stellen?  Aber WIRKLICH zu stellen?

Ich komme aus einem Land wo für die meisten Menschen, der Antwort wär »Ja.  Das halte ich seit schon laenger aus.  Wer seid ihr ueberhaupt?« Valda Wilson, Australierin, Opernsängerin, Mensch.

Regieassistent Gaetano Franzese.

So schwer es für den Einzelnen zu ertragen sein mag, die Schließung der Theater in diesem Land als Beschränkung und Beschädigung der eigenen Person als Künstler zu empfinden , umso schwerer wiegt die Tatsache, dass nicht nur das Individuum, sondern eine ganze Gesellschaft in ihrem Kern dadurch schwer beschädigt wird. Bernd Geiling, Schauspieler

Violonist Danny Gu.

GEWALT DER STILLE von Werner Bergengrün
Wir sind so sehr verraten,
von jedem Trost entblößt,
in all den wirren Taten
ist nichts, das uns erlöst.
Wir sind des Fingerzeigens,
der plumpen Worte satt,
wir woll’n den Klang des Schweigens,
das uns erschaffen hat.
Gewalt und Gier und Wille
der Lärmenden zerschellt.
O komm, Gewalt der Stille,
und wandle du die Welt.
Juliane Lang, Schauspielerin

Souffleuse Jutta Staiger.

Bei allem Verständnis für die Entscheidung, das Bewegungsmuster jedes Bürgers zwecks Gesunderhaltung des Einzelnen einschränken zu müssen, sollte neben der Religions- und Versammlungsfreiheit (s. dazu die geplante Querdenkerdemo in Leipzig mit zu erwartenden 20.000 Teilnehmern!) ebenso der Kunstfreiheit genüge getan und jedem die Wahl gelassen werden, lieber das Theater als Ort der kultivierten politischen sowie gesellschaftlichen Auseinandersetzung aufzusuchen, als zum selben Zweck mit dem Bummelzug nach Leipzig zu fahren, um dort an einer potentiell hochinfektiösen und vermutlich unkultivierteren (wir warten auf die Fernsehbilder) Massenveranstaltung teilzunehmen. Fabian Gröver, Schauspieler

Künstlerischer Leiter der Beleuchtungsabteilung Karl Wiedemann.

Eine kleine (wahre) Geschichte: Der letzte Abend vor dem Lockdown. Ein letzter Besuch mit natürlich(!) Maske und Sicherheitsabstand in der Stammkneipe. Dort eine Begegnung mit einer französischen Schauspielerin und ihrer Truppe. Sie hätte Mitte Dezember Premiere mit einem freien Projekt. Sie dürfen weiter proben, aber was, wenn sie auch im Dezember nicht spielen dürfen? Dann droht Verschuldung und die Kollegin wird nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen soll. Ich erzähle von unserer Aktion, zeige Bilder. Bei dem Bild der Puppe ein kleiner Aufschrei: »Diese Puppe habe ich gebaut! Vor Jahren…« Ich sage begeistert: »Wie schön! Deine Puppe spielt aktuell in unserem Stück >Eine kurze Chronik des künftigen Chinas< mit! Wir haben sie in den Untiefen des Theaterfundus gefunden.« Ich würde ihr so gerne eine Karte für die Premiere schenken, damit sie ihre Puppe und unseren sehr aktuelle, dystopischen Theaterabend sehen kann. Die Premiere wäre heute. Sie wird (erstmal) nicht stattfinden. Verena Bukal, Schauspielerin

Barbara Brückner (Opernchor) und Marco Seydel (Bühnentechnik).

Unsere Kunst ist für viele Menschen gerade jetzt, Medizin für die Seele.
Der Mensch ist mehr als sein Körper und gerade die Musik kann Trost in dieser Zeit geben.
Das zu verbieten, Aufnahmen sind mit einem life gespielten Konzert leider nicht zu vergleichen, ist ein Angriff auf die Gesundheit.
Die Depressionen nehmen zu dieser Jahreszeit wieder enorm zu und für viele Menschen, die darunter leiden, ist gerade der Besuch von Konzerten und auch von Museen ein Lichtblick.
Kunst ist nicht verzichtbares Beiwerk, sondern macht den Menschen aus.

Es existiert seit Anbeginn keine menschliche Gemeinschaft ohne Kunst. Günter Schraml, Solo-Klarinettist des Saarländischen Staatsorchesters

Generalintendant Bodo Busse.

© Fotos: Benjamin Jupé.

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Geisterspiel am Saarländischen Staatstheater

Wir sind keine Roboter, wir brauchen Publikum!

Freitag, 6. November 2020. Für heute haben wir die Europäische Erstaufführung des Stückes »Eine kurze Chronik des künftigen Chinas« von Pat To Yan in der Regie von Moritz Schönecker angekündigt. Pünktlich um 19.30 Uhr findet die Vorstellung in der Alten Feuerwache auch statt, aber bis auf Mitarbeiter des Staatstheaters und ein Kamera-Team des SR gibt es keine Zuschauer, obwohl die Premiere seit Wochen ausverkauft war.

Wegen des neuen Lockdowns musste das Kassenpersonal alle Zuschauer wieder ausladen und auf einen späteren noch völlig ungewissen Premierentermin vertrösten. So fand an diesem Freitagabend ein Geisterspiel im doppelten Sinne statt, denn in dem Spiel um Vergangenheit und Zukunft, dem Kampf um Demokratie und künstlicher Intelligenz, melden sich auch Geister zu Wort, nicht wirklich zu Wort, aber sie lassen die Wände wackeln und klagen so ihr Daseins-Recht ein. Es sind die Ahnen, die die Lebenden an ihre Verantwortung für ihr Handeln und somit auch an ihre Schuld an Krieg und Zerstörung, an Flucht und Vertreibung erinnern. Was für ein Sinnbild!

Ensemble im Bühnenraum von Benjamin Schönecker.

Aber »Eine kurze Chronik des künftigen Chinas« ist auch die Geschichte einer Liebe zwischen einem Mann und einer Tänzerin. Doch mit dem gemeinsamen Kind kommen die Fragen an die Zukunft. In welcher Welt wird ihr Sohn leben oder einst gelebt haben? Denn die Zeit ist (in diesem Stück) flüchtig. Dahinter steht die buddhistische Vorstellung vom ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen: Samsara, das »beständige Wandern«.

Auf der Flucht in den Süden (Hongkong) kommt es zu einem Zwischenfall.

So wird in diesem traumhaften Stück die Reise eines jungen Mannes, um den letzten Wunsch seines verstorbenen Vaters zu erfüllen, zur Erkenntnisreise seiner eigenen Geschichte und seines Daseins. Es ist die poetische Zeugenschaft dieses so genannten »Außenstehenden«, der sowohl von dem Kampf um Freiheit und Demokratie gegen die kommunistische Zentralregierung in China erzählt, als auch von den Machenschaften einer Vernetzungsmacht, die sich »Zugang durch biophysische Systeme und Nanotechnologien auch in das Innerste des Menschen« verschafft, wie es die Autoren Paul Nemitz und Matthias Pfeffer in ihrem Buch »Prinzip Mensch« beschreiben.

Das Ensemble als »Roboter« in Kostümen aus Reissäcken entworfen von Veronika Bleffert.

Doch Pat To Yan, dessen Fantasie an der bitteren Wirklichkeit der Regenschirmbewegung in Hongkong geschult ist, hat kein Dokumentarstück geschrieben, sondern vielmehr ein hochpoetisches Traumstück in dem neben Geister auch Roboter und zu Leben erweckte Puppen eine Rolle spielen. Dahinter immer die Fragen nach Anpassung und Widerstand, bzw. wer nutzt welche Möglichkeiten für welche Interessen und wie zynisch und verlogen verhalten sich dabei so manche Heilsversprecher?

So singt ausgerechnet »Das Mitglied der politischen Partei«, denn auch solche Figuren finden sich in dem Stück von Pat To Yan:

»Just look to me, I could save your soul

 …

You wanna feel happy, I’ll make you feel happy

every day after day after day!«

Jan Hutter als »Das Mitglied der politischen Partei« und Gaby Pochert als »Antigone«.

Am Ziel der fantastischen Reise in die eigene Vergangenheit trifft der Sohn scheinbar auf seine Eltern, doch es sind nur Erscheinungen, Schatten eines Theaters, Roboter und Puppen, die sich selbst genug sind und kein Publikum brauchen.

Doch wahre Kunst braucht die Auseinandersetzung und das Theater seit jeher ein Gegenüber, eine demokratische Öffentlichkeit, das Publikum!

Denn Theater ist mehr als eine Freizeitaktivität! Theater ist die spielerische Reflexion von Gesellschaft mit all ihren Problemen! Theater hat einen Bildungsauftrag, reflektiert unsere Geschichte und spielt mit Zukunftsvisionen. Theater kann Mut machen, Dinge zu verändern.

Theater lädt ein, Bezüge zum eigenen Leben herzustellen. Es kann hinter einer scheinbaren Wirklichkeit führen und dem Geheimnisvollen, dem Surrealen sein Recht geben.

Verena Bukal als »Die Katze mit dem Loch« und Silvio Kretschmer als »Der Außenstehende«.

Wie der »Außenstehende« im Stück kann Theater poetische Zeugenschaft ablegen und mit einer Fantasie, die an der Wirklichkeit geschult ist, spielen.

Auch wenn wir versuchen auf digitalem Wege – wie u.a. in diesem BLOG – mit unserem Publikum in Kontakt zu bleiben, kann wahres Theater immer nur live stattfinden!

Horst Busch,
Chefdramaturg

Martin Struppek als »Kakerlake« allein mit ihren Robotern (Ensemble).

LESETIPPS:

Paul Nemitz und Matthias Pfeffer: »Prinzip Mensch. Macht, Freiheit und Demokratie im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz«. Berlin, 2020.

Kai Strittmatter: »Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert«. München, 2018.

Carolin Emcke: »Weil es sagbar ist. Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit«. Frankfurt am Main, 2013.

© Fotos: Martin Kaufhold.

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Hinter dem Vorhang Theaterblog

Zusammen für den Klimaschutz

In der Kunstszene tut sich etwas: Immer mehr Theaterschaffende engagieren sich für den Umweltschutz. Eindrucksvolles Zeichen dieser Bewegung war das »pastoral project« bei dem sich weltweit Künstlerinnen und Künstler mit Beethovens Komposition im Zeichen des Klimaschutzes auseinandersetzten.  Auch am Saarländischen Staatstheater gibt es seit 2019 eine Arbeitsgruppe Umweltschutz, gegründet von Benjamin Jupé, Solo-Cellist am Staatstheater. Im Folgenden beschreibt er die Arbeit und Ziele der Gruppe.

Arbeitsgruppe Umweltschutz am Saarländischen Staatstheater

Im Januar 2019 haben Kolleginnen und Kollegen am Saarländischen Staatstheater eine Klimaschutz-Arbeitsgruppe gegründet. Es fanden sich schnell Aktive zusammen, denen der Erhalt der Natur eine Herzensangelegenheit ist.

Die Arbeitsgruppe erstellte eine Aufgabenliste. Unser Anliegen die Stelle des Umweltbeauftragten zu schaffen und die Integration des Klimaschutzes in das Leitbild des Theaters wurden durch die Geschäftsführung rasch zugesagt. Umsetzen konnten wir die Umgestaltung einer theaternahen Grünfläche in eine bienenfreundliche Blumenwiese.

Orchestervorstand Martin Hennecke beim Pflanzen der Blumenwiese.

Mit dem NABU, der auch Empfänger unseres Benefizkonzertes 2020 war, ist die Installation von Nistkästen für Vögel geplant. Bei anderen Vorhaben laufen noch Klärungsprozesse, zum Beispiel bei dem Plan, Bienen auf dem Theaterdach zu halten.  Durch Corona vorerst leider ausgebremst wurde die geplante Mülltrennung in Büros, Gängen und Kantine.

Mezzosopranistin Carmen Seibel sammelt Müll ein beim World Cleanup Day.

Neben kleineren Maßnahmen sind größere längerfristig zu planen wie die Behebung der energetischen Defizite des denkmalgeschützten Theaterbaus. Geplant ist die Erstellung einer CO2-Bilanz des Theaters; keine leichte Aufgabe. Angeschafft wurden bereits Bewegungsmelder, um die Dauerbeleuchtung der Flure und Aufenthaltsräume zu beenden sowie die Umstellung auf LED Beleuchtung. Laufende PCs sollten vom Nutzer über die Energie Einstellungen automatisch in den Standby-Modus versetzt werden z.B. ab 3 Min. Pause, da ihr Betrieb den größten Anteil des Stromverbrauchs am Haus ausmacht. Wer hätte das gedacht bei der komplexen Bühnen- und Beleuchtungstechnik eines Theaters!

Mechthild Diepers und Requisiteurin Gaby Stein beim Worldup Cleaning Day.

Das Saarländische Staatsorchester ist vor kurzem Mitglied der Klimaschutzinitiative Orchester des Wandels geworden. Geplant sind weitere Benefizkonzerte und die Thematisierung der Natur im Konzert- und Spielplan. Welche Freude und Lebensqualität aus einer klimafreundlicheren Lebensweise resultieren, kann am Beispiel des Saarländischen Staatstheaters nachvollzogen werden.

Benjamin Jupé,
Solo-Cellist im Saarländischen Staatsorchester Saarbrücken

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Auf ein Wort Theaterblog

Eine neue Freiheit

Am vergangenen Samstag feierte in der Alten Feuerwache die sparte4-Produktion »Bouches Les Rouges – Eine große deutsche romantische Oper« Premiere. Eine Stückentwicklung, ein Gemeinschaftsprojekt aller Beteiligten, egal ob auf oder hinter der Bühne, und ein großes Abenteuer mit jeder Menge Spaß.
Dabei geht es aber nicht nur um den Spaß an der Freude, sondern um das Singen und um das Wandern, um das Schicksal einer Gruppe und um ein bisschen Romantik, um das Frei-Sein und um das Nicht-ins-Büro müssen. Theaterpädagogin Johanna Knauf sprach mit Marius Schötz (Regie und Komposition) und Marthe Meinhold (Text und Dramaturgie) ein paar Tage vor der Premiere.

Regisseur und Komponist Marius Schötz.

J.K.: Du hast ursprünglich klassische Komposition und Gesang studiert. Nach deinem Schauspielregie-Studium hast du dann aber erst einmal nur mit Schauspieler*innen zusammengearbeitet. Wie kam es dazu, dass du jetzt eine Oper inszenierst und entwickelst?

M.S.: Das war eigentlich fast ein Zufall. Unser Bühnenbildner Robin kennt Thorsten Köhler, den Leiter der Sparte4, und Robin hat Thorsten zu der letzten Produktion die wir an der Volksbühne gemacht haben, eingeladen. Thorsten hat das gut gefallen und hat uns daraufhin für die Sparte4 angefragt. Es war also nicht so, dass ich gesagt habe: »Jetzt will ich unbedingt Oper machen«, aber es ist ein schöner Zufall, weil es natürlich so eine Art Heimkommen ist nach der langen Zeit mit den Schauspieler*innen.

J.K.: Was ist anders bei der Arbeit mit Opernsänger*innen im Vergleich zu der Arbeit mit Schauspieler*innen?

M.S.: Ich glaube, dass grundsätzlich erst einmal das Format Stückentwicklung im Schauspiel total etabliert ist. Es ist also total selbstverständlich, sich am Anfang zu treffen, in der Regel nur ein Material mitzubringen – oder sogar das wegzulassen – und dann wirklich erst vor Ort das Stück zu entwickeln.
Dieses Vorgehen hat unter den Sänger*innen teilweise schon ein bisschen für Verunsicherung gesorgt. Für sie ist es ungewohnt, dass man nicht nur die Noten spät bekommt, sondern tatsächlich nicht mal weiß, um was es gehen wird. Schon in den ersten Interviews, die ich vor dem Probenstart mit den Darsteller*innen geführt habe, haben wir daher viel darüber gesprochen, wie das Stück werden könnte.
Bis auf diese Art von Verunsicherung hat sich aber das Stückentwickeln irgendwie ziemlich ähnlich angefühlt. Das heißt die Proben, wenn wir dann miteinander gesprochen haben oder sie etwas improvisiert haben, das war dann eigentlich so wie im Schauspiel auch.

Texterin und Dramaturgin Marthe Meinhold.

M.M.: Mir ist aufgefallen, dass Marius‘ Musik und unsere Texte auf der Bühne ganz anders und superschnell extrem gut funktionieren. Und weil ich bisher kaum etwas mit Oper zu tun hatte, musste mir Marius erstmal erklären, dass das auch daran liegt, dass man Musik auf eine bestimmte Weise komponiert, und dass es zu diesem professionellen Sänger*innensein dazu gehört, dass man damit dann einfach auf die Bühne gehen kann. Das finde ich schon einen wirklich erstaunlichen Unterschied zum Schauspiel. Musik macht einfach etwas anderes mit einer Szene, als wenn man sagt: »Sprich die Szene doch erst einmal«.

M.S.: Das hat auch damit zu tun, dass die Musik sehr anders ist als das, was ich in Stuttgart geschrieben habe. Das war ja ein klassisch-modernes Kompositionsstudium, d.h. ich habe mit erweiterten Spieltechniken gearbeitet, mit bestimmten Harmonien, so erweiterte Spektralklänge und so ein Zeug. Hier hab‘ ich die Musik ja geschrieben, indem ich mehr oder weniger auf meine Erfahrungen anderer Opern zurückgegriffen habe. Ich habe jetzt nicht Opern bewusste gehört und gedacht: »Oh das entspricht dieser Situation, ich nehm‘ mal das Zitat und verweise darauf«. Trotzdem sind das alles Zeichen.
Wenn Markus z.B. singt: »Lasst‘ mich nur alleine sterben jeder Mensch ist frei«, dann ist das so ein bisschen ein »straußartiger« Walzer. Oder es gibt so ein bisschen ein Mozartzitat in Judiths Arie. Oder was sehr nach Schuberts »Die Forelle« klingt ist das Vorspiel von Bettina.  Es ist aber nicht so, dass ich gedacht habe: »Ich will, dass sich alle an die Forelle erinnern«, sondern das kam von selber.
Und durch mein Kompositionsstudium weiß ich natürlich, welche Lage was für eine Körperreaktion auslöst. D.h. an Stellen, in denen man im Schauspiel daran arbeiten würde, um was für eine Körperlichkeit es da geht, ist beim Singen durch die Komposition schon viel gegeben.

M.M.: Die Musik legt einfach schon ein richtiges dramaturgisches Gerüst auf alles drauf.

Markus Jaursch (Bernard) | Foto: Astrid Karger

M.S.: Ja, auch durch die Zeichen. Zum Beispiel ist eine Stelle mit gewissem romantischem Schmelz zu singen – das macht sofort …. das legt so eine leichte Ironie darauf, und gleichzeitig kann man das viel ernster singen, als man das im Schauspiel hätte sagen können. Und so ist letztendlich die szenische Umsetzung im Schauspiel viel mehr in der Probe zu erarbeiten, während hier schon im ersten Schritt des Musikschreibens ganz viel passiert. Das ist für mich ein riesiger Unterschied. Deswegen proben wir auch so extrem kurz. Wir haben heute innerhalb von zwei Stunden wieder fünf Szenen wiederholt, eine davon ist eine Arie. Das würde im Schauspiel bei einer zweiten Wiederholung viel länger dauern, weil man viel mehr kommunizieren muss.
Ein weiterer Unterschied zum Schauspiel ist vielleicht auch noch das für die Sänger*innen neue Maß an Freiheit. Im Musiktheater gibt es normalerweise eine Partitur, dann eine Art und Weise der Interpretation und damit liegt vieles sehr fest. Und in einer Stückentwicklung könnte man halt auch sagen »kannst du diese Stelle in meiner Arie vielleicht noch umschreiben?« – das hat niemand gemacht.
Sondern die Sänger*innen bekommen die Arie und zwei Tage später läuft sie (lacht). Ich glaube, festzustellen, was das überhaupt für eine Art von Freiheit sein kann, ist eine längerfristige Arbeit. Aber ich habe das Gefühl der Geist der Sache ist übergeschwappt, weil die Proben jetzt super entspannt sind, und jetzt viele Angebote von den Sänger*innen kommen. Wo man so merkt: das haben sie verstanden. Und so kommen sie in den Zustand nach dem ich da eigentlich suche in so einer Gruppe.

Judith Braun (Gertrud); Bettina Maria Bauer (Erna); Markus Jaursch (Bernard) | Foto: Astrid Karger

J.K.: Wie kam es dazu, dass du, Marthe, als Ko-Autorin und dramaturgische Mitarbeiterin bei »Bouches les Rouges« involviert bist? Wie habt ihr euch gegenseitig unterstützt?

M.M.: Es war ein relativ pragmatischer Vorgang. Marius und ich haben schon vorher zusammen gearbeitet. Ich habe mich sehr für das Opernprojekte interessiert und so redeten wir darüber, was man da machen könnte. Ich studiere noch, habe gerade Semesterferien und da hat Marius gesagt: »Wollen wir nicht versuchen, dass du da mitkommen kannst? Das wär irgendwie gut, ich könnte das gut gebrauchen.« Man kann einfach über so etwas zu zweit besser nachdenken. Da geht es nicht nur um eine zeitgenössische Wichtigkeit oder so, sondern es gibt einfach so viele verschiedene Aspekte, die es da zu bedenken gibt. Und dann hast du glaube ich gedacht: »Lieber zu zweit als alleine«.

M.S.: Ja, das kommt auch daher, dass ich im Schauspiel einfach schon weiß was ich mache, und mich freue, wenn noch nicht genau feststeht, wohin es diesmal geht. Hier hatte ich das Gefühl, das wird mir zu viel in der Kürze der Zeit. Wenn ich in den ersten zwei Wochen, wo ich ja noch Arien geschrieben habe, auch noch z.B. Text hätte transkribieren und parallel noch überlegen müssen, was in der nächsten Probe entwickelt werden muss … – also ich arbeite und investiere gerne viel, aber das wäre einfach unmöglich gewesen. Und eine*n Gesprächspartner*in ist natürlich auch unersetzbar. Weil ich dann nicht alleine Verantwortung übernehmen muss für, nach meinem Gefühl so viel mehr als im Schauspiel, wo ich immer denke: »Wenn der Text nicht ist, dann schreiben wir den halt noch einen Tag vor der Generalprobe um« oder so. Hier musste ja drei Wochen vor der Premiere – spätestens – alles fertig sein. Obwohl meine Stücke im Schauspiel immer viel länger waren, als die Oper jetzt, kann ich sagen: So intensiv wie hier war es noch nicht. Wenn ich nochmal die Chance bekomme in der Oper zu arbeiten würde ich es trennen: Erst entwickeln, wegfahren und mit Musik wiederkommen und proben. Sonst ist es echt sehr sehr viel. Ohne Marthe wär das nicht gegangen.

Markus Jaursch (Bernard); hinten rechts: Bettina Maria Bauer (Erna) und Judith Braun (Gertrud) | Foto: Astrid Karger



J.K.: Wie ist das mit dem Rest des Regieteams, habt ihr auch mit dem Bühnenbildner und dem Kostümbildner schon vorher mal zusammengenarbeitet? Wie habt ihr zusammengefunden?

M.S.: Wir haben untereinander alle schon miteinander gearbeitet. Schon das allererste Projekt, das ich im Regiestudium gemacht habe, habe ich mit Robin und Florian gemacht. Das war gleich ein Volltreffer mit den Beiden… Wenn man sich wohl fühlt, eine Ästhetik teilt und gleichzeitig auch so unterschiedlich ist, dass es sich lohnt, gemeinsam weiter zu machen. Und seitdem habe ich kein einziges Projekt mehr ohne die beiden gemacht.
Die Oper ist jetzt das erste Projekt, bei dem wir zu Viert zusammenarbeiten, und das hat wirklich ganz toll funktioniert. Wirklich ganz ganz ganz toll, deswegen glaube ich auch, dass die Konstellation durchaus auch… das wir das gerne weitermachen wollen, weil das eine schöne und – trotz allem Stress – super harmonische Zeit war.

M.M.: Total. Es würde einen im Team einfach nie jemand böse angucken, oder einen Vorwurf machen. Es verlassen sich einfach alle darauf, dass alle so viel arbeiten wie sie eben können – und nicht im Sinne von Komplettausbeutung, sondern halt wirklich: wie sie können. Und deswegen ist es auch so super produktiv. Man muss sich nicht beweisen, vertraut sich, es gibt einfach keinen Hintergedanken oder so etwas.

Bettina Maria Bauer (Erna); Stefan Röttig (Hektor); Judith Braun (Gertrud); Markus Jaursch (Bernard) | Foto: Astrid Karger

J.K.: Geht ihr selbst gerne in die Oper? Was wünscht ihr euch für die Zukunft der Sparte Oper / Musiktheater?

M.S.: Während des Kompositionsstudiums war ich bestimmt vier Mal in der Woche in der Oper. Alles was lief, habe ich mir bestimmt fünf bis sechs Mal angeschaut, weil ich einfach so besessen davon war. Aber irgendwann war ich so unglücklich mit dem was auf der Bühne passiert, bei diesen Wiederaufnahmen wo irgendwie die vierzigste Besetzung durchläuft…  Dann bin ich das erste Mal ins Schauspiel gegangen, so mit 25 Jahren, das heißt, das war für mich dann das Neue. Aber ich liebe die Oper auch heute noch – und gerne richtig klassisch inszeniert. (lacht)
Wenn es nur noch das geben würde, was wir jetzt machen, dann gäbe es ja die traditionelle Oper nicht mehr – und das will ich auf keinen Fall. Gleichzeitig habe ich jetzt so viel Spaß mit unserem Projekt, dass ich so etwas gerne weiter verfolgen würde. Dass sich entspannter alte und neue Formen begegnen können, das wär vielleicht ein Wunsch. Ich fänd es toll, wenn sich die traditionelle Oper mehr neuen Strukturen öffnen würde.

M.M.: In allem ja auch, oder? Sowohl was man musikalisch darf, aber auch bezüglich hierarchischer Strukturen im Theater, dem Umgang mit Frauenfiguren, Machozeug, … Also wir haben hier jetzt so etwas nicht erlebt, aber das sind schon Themen, mit denen sich Oper, glaube ich, noch mehr auseinandersetzen muss.
Anders als Marius bin ich aber eigentlich noch nicht sehr opernerfahren. Wenn ich bisher in der Oper war, bin ich danach aber immer – im positiven Sinne – total überwältigt davon.

Markus Jaursch (Bernard); Stefan Röttig (Hektor); Bettina Maria Bauer (Erna); Judith Braun (Gertrud) | Foto: Astrid Karger


J.K.: Wo ihr beide so begeistert von der Oper berichtet: Woran liegt es eurer Vermutung nach, dass durchschnittlich eher ältere als jüngere Menschen in die Oper gehen?

M.S.: Ich muss sagen, wenn ich damals nicht in unseren Schulchor gekommen wäre und dort nicht so intensive Erfahrungen hätte sammeln können, dann würde ich heute wirklich auf keinen Fall hier sitzen. Dann hätte ich nicht einfach eines Tages gedacht: »Oh, Oper ist ja toll«.
Viele sammeln ja ihr Leben lang keine aktive Erfahrung im Bereich Oper, und dann ist es für mich nicht verwunderlich, dass sie damit erst einmal nichts anfangen können. Ich glaube es braucht irgendwelche Anknüpfungs- oder Identifikationsmöglichkeiten.

M.M.: Ja, ich denke auch bei mir war das ein bisschen anders als bei den meisten, da ich in der sehr privilegierten Situation aufgewachsen bin, Zugang zu unterschiedlichster Kultur zu haben, und durch meine Erfahrung mit anderen Künsten auch eher Anknüpfungspunkte hatte.