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Hinter dem Vorhang Theaterblog

Tuschestriche, die Gruppen- und Einzeldynamiken festhalten

Im Wintersemester 2021/22 erarbeiteten fünf Studierende aus den Bereichen Kommunikationsdesign und freie Kunst der HBKsaar originalgrafischen Plakate zum Stück »Jedermann. Bliesgau/Monsieur Tout Le Monde«, das vom 4. – 19. Juni im Europäischen Kulturpark Bliesbruck-Reinheim gezeigt wird. Das Seminar fand unter Leitung von Dirk Rausch und Eva Walker statt. In loser Reihenfolge stellen die jungen Plakatkünstler sich und ihre Entwürfe an Hand eines Fragebogens, den Produktions- Dramaturgin Simone Kranz entwarf, vor. Hier die Antworten von Meret Sophie Preiß. Alle Entwürfe kann man bis zum Spielzeitende im Mittelfoyer des Staatstheaters sehen. Außerdem gibt es am 4. Juni um 19 Uhr eine Vernissage mit den Exponaten im Raum auf der Grenze im Europäischen Kulturpark.

Stellen Sie sich kurz vor.

Mein Name ist Meret Sophie Preiß, ich bin 2001 in Saarbrücken geboren und studiere seit dem WS 2019/20 an der HBKsaar Freie Kunst bei Prof. Katharina Hinsberg. Mein Hauptschwerpunkt liegt bei der Zeichnung, ich bin allerdings auch sehr interessiert an Text(-arbeit), was mich dazu gebracht hat, Ende 2020 ein zweites Studium an der Universität des Saarlandes zu beginnen, wo ich nun Kunst- und Bildwissenschaft im Hauptfach und Germanistik im Nebenfach studiere. Mein späterer Berufswunsch liegt definitiv im Kulturbereich – das Arbeiten als Freie Künstlerin möchte ich gerne kombinieren mit Kuratieren oder (kultur-) journalistischer Arbeit.

Was hat Sie an der Aufgabenstellung gereizt, für ein Theaterstück ein Plakat zu entwerfen?

Da ich selbst seit Jahren eine enge Verbindung zum Theater habe, Freude am Texte lesen und Interesse am Drucken, hat mich die Aussicht auf eine Kooperation mit dem Saarländischen Staatstheater, direkt angesprochen. Zwar hatte ich zuvor noch keine Erfahrung mit dem Entwerfen von Plakaten, wollte mich aber gerne der Herausforderung stellen.

Wie sind Sie auf die Idee zu ihrem Entwurf gekommen?

Nachdem ich am Anfang sehr unschlüssig war, wie ich an den Entwurf herangehen wollte, viel mit der Symbolik von Sand (Anm.: Sand ist Bestandteil des Bühnenbildes) herumprobiert hatte, aber zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis kam, machte mich Dirk Rausch auf die inhaltliche Parallele zu meiner aktuellen persönlichen künstlerischen Arbeit aufmerksam, bei der ich mit Tuschestrichen Gruppen- und Einzeldynamiken festhalte. Das einzelne Individuum verschwindet in der Homogenität der Masse; ein langer Schatten, der sich den einzelnen Gestalten anhängt, deutet auf eine sich außerhalb des Bildrandes befindende Lichtquelle hin, der sich die Menschen annähern, vielleicht aber auch davon fortbewegen. Damit war das Motiv gefunden, der darauffolgende Prozess beschäftigte sich dann mit der letztendlichen Anordnung der Schattenmenschen und des Designs.

Was war für Sie die besondere Herausforderung bei der Aufgabenstellung?

Besondere Herausforderung war für mich das Digitalisieren des Plakatentwurfs und das Arbeiten mit Schrift, da beides Bereiche sind, denen ich mich zuvor noch nicht unbedingt gewidmet hatte. Meine künstlerische Arbeit bewegt sich vor allem im analogen Bereich, weswegen ich mir hier und da Unterstützung meiner Kommiliton*innen aus dem Kommunikationsdesign holen musste, um meinen Entwurf umzusetzen.

Wollen Sie sonst noch etwas zum Projekt anmerken?

Alles in allem war es ein umfassend spannendes Projekt, da es sehr vielseitig war. Zum einen der Austausch mit dem Theater, wo wir beispielsweise via Zoom mit der Dramaturgin und der Bühnenbildnerin über die Ideen und geplanten Umsetzungen des Stückes redeten; einen Einblick in den Probenalltag erhielten oder eben Zuspruch und weitestgehend freie Hand über die Plakatentwürfe von Seiten der PR-Abteilung des Staatstheaters erhielten. Zum anderen aber auch die Arbeit in den Druckwerkstätten der HBKsaar, das Verwerfen und Erneuern von Entwürfen, die Umsetzung der Entwürfe mit zwei verschiedenen Drucktechniken (Siebdruck und Hochdruck) und die Begleitung durch Dirk und Eva, die wöchentlich mit uns an dem Projekt arbeiteten, sind Dinge, die ich aus dem Kurs bzw. der Kooperation mitnehmen konnte.

Weitere Informationen rund um Stück »Jedermann. Bliesgau/Monsieur Tout Le Monde« gibt es hier.

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Auf ein Wort Theaterblog

iMove – Das Jugendtanzensemble stellt sich vor

Ist es nicht schön zu tanzen? –  und dann auch noch im Theater? Das Jugendtanzensemble iMove, welches 2009 gegründet wurde, besteht aus vielen tanzbegeisterten Jugendlichen, die regelmäßig im Staatstheater trainieren und auftreten. Bereits in der Vergangenheit haben die Tänzer*innen von iMove ihr Talent und ihre Leidenschaft zum Tanzen auf den Bühnen des Saarländischen Staatstheaters unter Beweis stellen können und Hunderte von Zuschauer*innen begeistert – oft sogar zu Tränen gerührt.

 Claudia Meystre, die Trainerin von iMove, erzählt in dem folgenden Interview mehr über die Gruppe, die Tänzer*innen und sich und berichtet über vergangene sowie zukünftige Projekte.

M.T.: Wann hast du angefangen das Jugendtanzensemble iMove hier am Theater zu trainieren?

C.M.: Seit September 2018 trainiere ich die Gruppe. In dieser Zeit habe ich einen Anruf von Klaus Kieser, dem Colmpanymanager des Saarländischen Staatsballetts und Dramaturg, erhalten, der mich gefragt hat, ob ich Interesse daran hätte, iMove zu übernehmen. Damals hatte die Gruppe kein regelmäßiges Training, wodurch sie auseinandergefallen ist. Das Theater brauchte einen neuen Trainer oder Trainerin, um iMove wieder aufzubauen und die Gruppe nochmal neu zusammenzubringen.

M.T.: Erzähl mehr über dich und deinen Beruf.

C.M.: Mit sechs Jahren habe ich begonnen zu tanzen. Ich war zu diesem Zeitpunkt im Kinderballett und habe in meiner Freizeit immer sehr gerne und sehr viel getanzt. Nach dem Abitur bin ich nach Braunschweig gegangen. Dort habe ich bei »T.A.N.Z.-Braunschweig!« – einer Modernen Tanzschule – ein Vorbereitungsjahr absolviert. Während dieser Zeit habe ich mich an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden beworben und wurde nach zwei Vortanzen für den Studiengang Diplom Tanzpädagogik angenommen.
Das Studium dauert vier Jahre und beinhaltet einerseits eine fundierte Tanzausbildung, andererseits natürlich den Bereich Pädagogik, wozu auch sehr viel Theorie gehört sowie Choreographie. Nachdem ich mein Studium abgeschlossen habe, bin ich dann 2008 ins Saarland gezogen und unterrichte seitdem Tanz an diversen Tanzschulen und an Institutionen wie dem Saarländischen Staatstheater.
Des Weiteren bin ich Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik Saar im Bereich Rhythmik, Bewegung und Tanz für Schulmusiker*innen und führe viele Schulprojekte durch. Außerdem habe ich schon bei vielen Fortbildungen als Dozentin gearbeitet. Unterrichten tue ich vor allem modernen, zeitgenössischen Tanz und Ballett bzw. auch Kinderballett.

M.T.: Wer sind eigentlich die Tänzer*innen bei iMove? In welchem Alter sind sie?

C.M.: Die Tänzer*innen bei iMove sind Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 24 Jahren. Sie sind Schüler*innen, Studierende, Auszubildende etc., die Spaß daran haben, im Team zu tanzen und ihrem Hobby, ihrer Leidenschaft zum Tanz bei iMove nachzugehen.

M.T.: Gibt es irgendwelche Kriterien, um überhaupt bei iMove mitmachen zu können?  Brauch man bereits Tanzerfahrung oder gibt es eine bestimmte Altersbeschränkung?

C.M.: Die Altersgrenze liegt bei 14-21 Jahren. Manche Tänzer*innen bei iMove sind zur Zeit älter als 21. Das liegt daran, dass diese Tänzer*innen schon wirklich sehr lange ein Teil der Gruppe sind und ich wollte ihnen – gerade auch durch die lange Auszeit aufgrund der Pandemie – die Möglichkeit geben, in dieser Spielzeit nochmal dabei zu sein. Eine tänzerische Voraussetzung gibt es nicht und ich mache auch keine Vortanzen.
Natürlich sollte man die Lust am Tanzen und die Leidenschaft dafür mitbringen und es ist schon von Vorteil, wenn man eine rhythmische bzw. tänzerische Erfahrung mitbringt. Manche im Team haben z.B. schon rhythmische Sportgymnastik, Hip-Hop oder Ballett betrieben.
Unsere Choreographien sind relativ anspruchsvoll und dann kommt man dadurch auch schneller rein, aber ich setzte das nicht voraus, nein. Für jeden steht das Training offen und man kann das gerne ausprobieren. Ich habe schon oft mit Anfängern gearbeitet und versuche jede*n einzuarbeiten und miteinzubringen.

M.T.: Hat die Gruppe regelmäßige Trainingszeiten und wo trainiert iMove? Könntest du kurz erzählen, wie so ein Training abläuft und was das für ein Tanzstil ist?

C.M.: iMove trainiert in der Regel immer montags von 17:00-18:30 Uhr oder von 17:00-19:00 Uhr. Die Probenzeiten können aber variieren, vor allem wenn iMove an einer Produktion arbeitet. Wir trainieren dann auch mehrmals in der Woche und häufig drei Stunden am Stück, also das ist dann auch sehr viel intensiver. Die Tanzgruppe und ich choreographieren auch meist eher modernen Tanz. Je nachdem, welcher Tanzstil in den Produktionen gefragt ist, arbeiten wir auch mit anderen Elementen z.B. im Bereich Hip-Hop oder Ballett.
Ich arbeite aber auch viel mit Partnerringen, Flowwork, Improvisation und das Selbstgestalten von Choreos durch die Tänzer*innen. Montags trainieren wir in der Regel im großen oder auch kleinen Ballettsaal des Großen Hauses im Staatstheater.

M.T.: Die Projekte von iMove sind immer Theaterproduktionen, richtig? Man lernt dadurch auch sicherlich sehr viel über das Wesen des Theaters kennen? Die iMover*innen stehen viel auf der Bühne des Theaters und bekommen so auch einen Eindruck, wie es dort und hinter den Kulissen abläuft. Dieses Theatergeschehen selbst mitzuerleben ist bestimmt sehr aufregend und für viele eine tolle Erfahrung.

C.M.: Die Projekte des Jugendtanzensembles sind hauptsächlich Theaterproduktionen. Dazu gehören zum einen unser eigenes Stück, das wir alle zwei Jahre in der Alten Feuerwache beim Tanzfestival Saar vorstellen, zum anderen aber auch andere Projekte, die Teil von Theaterstücken sind, wie jetzt in dieser Spielzeit bei der Oper »Alcina« im Großen Haus. Auch in der sparte4 haben wir schon etwas gezeigt. Dadurch lernt man das Theater natürlich in all seinen Facetten kennen und bekommt Einblicke in alle Spielstätten – von der kleinen bis zur großen Bühne, wie auch dahinter.
iMove arbeitet aber auch an Projekten außerhalb des Theaters, wie in wenigen Monaten am Pfingstsonntag in der Johanniskirche bei der Nacht der Kirchen. Wir haben aber auch schonmal eine Modenschau am Theater am Ring in Saarlouis anlässlich des 60. Jubiläums choreographiert.

M.T.: Bei welchen Produktionen hat iMove in der Vergangenheit mitgewirkt und was waren das für Projekte? War die Gruppe dann Teil einer größeren Theaterproduktion oder waren das sogar eigene Projekte von iMove?

C.M.: Begonnen haben wir mit einer Werkschau in der sparte4 im März 2019 und das hieß »iMove – we move on« . Da ging es einfach darum, die Gruppe nochmal neu zu präsentieren und aufzuzeigen, dass iMove wieder da ist. Das Stück dauerte ca. 30 min.
Dann kam es zu der Modenschau im Theater am Ring Saarlouis. Dort haben wir die 50er/60er Jahre nachgestellt und die Kleidung aus dieser Zeit präsentiert. Das war aber mehr eine tänzerische Modenschau mit einer Liveband aus Saarlouis.
Anschließend waren wir auch beim Theater Überzwerg, wo wir am Theaterfest ein 15-minütiges Stück aufgeführt haben. Im März 2020 hat die Gruppe dann im Rahmen des Tanzfestival Saar ihre erste eigene Produktion von mir vorgestellt. Diese hieß »Zeitwärts«.
Danach kamen leider Corona und der Lockdown. Das Staatstheater hatte dann die Kampagne »Stay at home« aufgerufen und iMove hat dazu ein kleines Video erarbeitet, wo jede*r iMover*in einen eigenen kleinen Tanzabschnitt hatte und am Ende habe ich das dann zu einer Videocollage zusammengeschnitten.
Im September 2021 – nachdem sich die Situation wieder ein wenig auflockerte – konnten wir dann am Theaterfest an der Völklinger Hütte teilnehmen. Im Anschluss folgte die Opernproduktion »Alcina«, die im Dezember 2021 Premiere hatte und unser letztes Stück »InnerMOVEments« im März beim diesjährigen Tanzfestival Saar in der Alten Feuerwache.

M.T.: Und welche Produktionen sind für die Zukunft geplant?

C.M.: In Zukunft geplant sind, wie bereits kurz erwähnt, am Pfingstsonntag ein kleines Stück bei der Nacht der Kirchen in der Johanneskirche Saarbrücken, wo ein Teil der Gruppe in Mitten einer Kunstinstallation tanzen wird und im September der Spielzeit 2022/23 eine weitere Vorstellung von »InnerMOVEments«. Weiteres kann ich noch nicht sagen, denn das steht noch nicht fest, aber beim nächsten Tanzfestival in zwei Jahren werden wir dann nochmal ein eigenes Stück entwickeln.

M.T.: Die letze Produktion von iMove »InnerMOVEments«, die bereits am 13. März 2022 in der Alten Feuerwache des Saarländischen Staatstheaters uraufgeführt wurde, handelt von Gefühl, von Emotionen. Es geht darum, was die Jugendlichen fühlen, was sie von innen heraus bewegt, über was sie im Alltag nachdenken. Das Stück besteht demnach aus vielen verschiedenen Gefühlszuständen – Freude, Angst, Liebe, Einsamkeit, Trauer, Freundschaft, Zufriedenheit, Neid, Wut, Aggression und Hoffnung. Diese vielen Choreographien, das Licht, das Bühnenbild – alles, was zu solch einer Produktion gehört – sind das Ideen von dir, die du bereits vor dem ganzen Entwicklungsprozess erarbeitet hast oder sind die dir auch teilwese spontan in den Sinn gekommen? Wie gehst du bei solch einem großen Projekt als Choreographin vor?

C.M.: Es blieb uns zwischen der Premiere von »Alcina« und dem Tanzfestival nicht mehr viel Zeit, weshalb die Choreographie teilweise aus Bewegungsmaterial bestand, das ich schon aus vorherigen Tanzkombis entnahm, die ich entwickelt habe. Zum Teil habe ich das Material aber auch entsprechend der verschiedenen Emotionen direkt für das Stück erarbeitet.
Mir ist es aber auch  immer sehr wichtig, die Vorschläge der Jugendlichen zu berücksichtigen und mit einzubringen sowie die Stärken jedes Einzelnen herauszufiltern, sodass die Tänzer*innen ihr Talent auch auf der Bühne zeigen. So eine Stückentwicklung ist aber sehr prozessorientiert. Anfangs habe ich immer eine Idee und bringe Material mit. Aber wenn ich merke, das Material funktioniert nicht so gut, dann entwickelt sich das manchmal in eine ganz andere Richtung. Ich muss Dinge streichen, ergänzen, verändern und deshalb setzt sich das alles während des Entwicklungsprozesses immer mehr zusammen – auch dann schlussendlich mit meinen Ideen zum Licht, zum Bühnenbild usw.

M.T.: Wie kam es zu dem Thema dieser Produktion? Wie bist du auf diese Idee gekommen? Was möchten die Tänzer*innen und du mit diesem Stück bewirken?

C.M.: Gerade die Corona-Pandemie und der Klimawandel haben uns sehr mitgenommen und berührt. Aus diesem Grund hatte ich die Idee, das Thema »Was uns bewegt« in Bezug auf diese aktuellen Zustände aufzugreifen. Von Seiten der Tänzer*innen kam da aber immer weniger Interesse, da dieses Thema schon in diversen Bereichen thematisiert wurde.
Wir haben beschlossen, uns dann zusammenzusetzen und einfach mal darüber zu reden, wie es uns untereinander so geht, was uns beschäftigt, was die Jugendlichen im Hinblick auf ihre Zukunft denken und dazu habe ich mir viele Notizen gemacht. Am Schluss haben sich dann bestimmte Grundemotionen herauskristallisiert und auch ich fand das dann viel interessanter, so allgemein in das Themengebiet Emotionen zu gehen.  
In dem Stück geht es weniger darum, etwas aufzuzeigen, sondern dem Publikum einfach diese Emotionen, die unterschiedlichen Gefühle näherzubringen. Ich hatte das Gefühl, dass die Tänzer*innen, aufgrund ihres Ausdrucks an dem Abend, sich alle in diesen Emotionen wiederfinden konnten, weil natürlich auch jeder diese Emotion kennt und diese dann auch hervorgerufen hat.

Das Interview führte Maxine Theobald, die ein FSJ-Kultur in der Dramaturgie des Saarländischen Staatstheaters absolviert und selbst bei iMove tanzt.

Hast Lust bekommen, selbst Teil von iMove zu werden? Dann melde dich bei der Leiterin und Choreographin Claudia Meystre, claudiameystre@gmx.de.

Unser Angebot rund um Theater & Schule findet ihr außerdem hier. Lieber singen oder spielen statt tanzen? Kein Problem, alle unsere Mitmach-Angebote gibt es hier.

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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

Politik und Musik

Über die Unfreiheit der Musik im Unpolitischen

»Es affiziert mich Alles, was in der Welt vorgeht: Politik, Literatur, Menschen – über Alles denke ich in meiner Weise nach; was sich dann durch Musik Luft machen, einen Ausweg suchen will.« Diese Worte Robert Schumanns, der mit wachem Geist die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgte, haben bis ins Heute nichts an ihrer Wirkkraft verloren. Verweisen sie doch auf das große Potenzial der Musik und die damit verbundene Wirkungsfähigkeit, durch ihre Performanz und das musikalische Erleben zur Verarbeitung und Spiegelung außermusikalischer Eindrücke und Prozesse beizutragen.

Dabei charakterisiert sich dieses Potenzial jedoch nicht nur als Kür, sondern auch als Pflicht, in dessen Bezugsrahmen sich auch eine Spaltung vollziehen kann: Nämlich die Trennung zwischen dem Anspruch der Musik als autonome Kunst und der Gefahr ihrer Instrumentalisierung zur gesellschaftlichen und staatlichen Repräsentation und Machtkonsolidierung bzw. Machterosion bis hin zum Missbrauch durch totalitäre Systeme.
Auch der Künstler oder die Künstlerin muss sich immer wieder der Frage nach ihrer eigenen Autonomie angesichts sozialer und politischer Konstellationen stellen; ein Umstand, der nur allzu oft mit äußeren Erwartungen, der Romantisierung des politischen (Wider-)Stands und der Rezeption dessen kollidiert.  Vor diesem Hintergrund charakterisiert sich die Musik als das, was sie ist: Ein Spannungs- und Inspirationsfeld zwischen Emotion und Ratio, zwischen Autonomie und (Sach-)Zwang, deren Betrachtung interdisziplinäre, intersektionale Perspektiven erfordert.
Dabei lässt sich der Mehrdimensionalität der Musik als historischem wie ästhetischem Phänomen nur Rechnung tragen, wenn man die vielfältigen Dynamiken von gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozessen, die von Musik eingeleitet oder begleitet werden, berücksichtigt. Dort ist die entscheidende Frage nicht, ob Musik politisch ist, sondern wie und mit welchen Mitteln sie als Instrument zur Konsolidierung oder auch zu Destabilisierung von Staats- und Gesellschaftsformen eingesetzt worden ist. Und wird.
Einhergehend mit den Fragen nach dem durchaus ambivalenten Abhängigkeitsverhältnis von Politik und Musik, drängen sich weitere auf … Wie frei ist die Kunst? Bedeutet Freiheit = neutral? Und behelfen wir der Kunst mit dem Anspruch, sie stehe über allem, wirklich zu einer Autonomie? Um welchen Preis? Ist die Musik also ein kunstvolles Spiel mit Tönen, Klängen, Harmonien, Rhythmen? Drückt sie immer etwas aus? Beschreibt sie einen Gegenstand, einen Sachverhalt, ein Gefühl? Dient sie gar einem Zweck? Ja. Und Nein. Welche politischen Dimensionen die Musik erfüllt, ist abhängig von den jeweiligen zeitgenössischen Verhältnissen und Visionen. Und der Streit über die Autonomie der Musik ist wohl so alt wie die Kunstform selbst, zu dem die Komponisten verschiedener Jahrhunderte ihren Beitrag beisteuerten, ob sie wollten oder nicht. Das Publikum übrigens genauso. Ob es will oder nicht.

Im 5. Sinfoniekonzert stehen zwei Komponisten auf dem Programm, deren Werden und Wirken als Kunstschaffende in besonderem Maße von der ambivalenten Abhängigkeit von Politik und Kunst geprägt war.
1946 wurde Pēteris Vasks in der lettischen Kleinstadt Alzpute als Sohn eines Pfarrers geboren – zu einer Zeit, in der das Land im Zuge des Zweiten Weltkriegs als Lettische Sozialistische Sowjetrepublik der Sowjetunion angegliedert worden war. Die Eindrücke seiner Kindheit wurden vom staatlichen Terror des sowjetischen Zentralregimes bestimmt: Massendeportationen und Zwangsumsiedlungen auf der einen Seite, gelenkter Zuzug von Menschen aus anderen Reginen der UDSSR auf der anderen Seite. Die Regierung der Sowjetunion verfolgte eine massive Politik der »Russifizierung« des Baltikums.

Vasks musste mit ansehen, wie Unschuldige aus ihren Häusern vertrieben und in sibirische Straflager verschleppt wurden. Stalins Tod 1956 sollte keineswegs so etwas wie Wiedergutmachung bedeuten – den Überlebenden des politischen Terrors wurde das strikte Verbot ausgesprochen, über das erlebte Unrecht zu reden. Schon früh sollte die Musik ein Weg Vasks sein, seinen erschütternd prägenden Erlebnissen einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen.
Auch das Leben Schostakowitschs war geprägt von den Eindrücken des sowjetischen Terrorregimes. Ein Umstand, der sich in besonderer Weise auf die Betrachtung seiner Musik auswirkte. Vor dem Hintergrund der omnipräsenten existenziellen wie künstlerischen Gefahr, denen Schostakowitsch als Mensch und Musiker ausgesetzt war, ist die Rezeption seiner Musik nahezu ideologisch überfrachtet. Es scheint fast zur Gewohnheit geworden sein, in jedem seiner Töne nach Hinweisen auf eine Art der Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten seiner Zeit zu suchen. Kein Wunder, überlebte Schostakowitsch doch nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch eine Diktatur, in der der Künstler den massiven Schikanen der Kulturbehörden ausgesetzt war und seine Genese als Komponist mit dem Aufstieg des totalitären Stalin-Regimes zusammenfiel. Propaganda und Sozialismus auf der einen Seite, Verbote und Verfolge auf der anderen bestimmten den Alltag. Und damit die Musik.

Denn die Musik ist Alltag. Sie ist artifiziell, sie ist hypothetisch, sie ist intellektuell, sie ist sinnlich, sie ist politisch oder gar polemisch. Sie spiegelt die Gesellschaft, genau so wie sie sie formt. Sie kann Identität stiften, genauso wie sie Identität abbilden kann. Und Identität ist immer politisch.

Nun ist angesichts des immer komplexer werdenden Weltgeschehens, einer Nachrichten- und Weltenlage, die mehr einer Dystopie denn Utopie gleicht, dieser Wunsch nach Eskapismus, der mit dem Bedürfnis der vermeintlich unpolitischen Freiheit der Kunst einhergeht, nur allzu verständlich. Doch ist es nicht eine der großen Qualitäten, der Musik, dass sie mit den Originären Mitteln der Kunst einen politischen Diskurs erzählt und damit sinnlich wirken lässt?

Wer also jederzeit und immer von der (politischen) Freiheit der Musik ausgeht, setzt damit aufs Spiel, dass es sie irgendwann nicht mehr geben kann. Die Freiheit. Der beraubt die Kunst nicht mehr nur ihrer Dimension und Relevanz, sondern auch ihrer Widerstandsfähigkeit.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

Weitere Informationen sowie Karten für das 5. Sinfoniekonzert finden Sie hier.

 Als Informationsquelle für diesen Beitrag diente der Sammelband »Musik – Macht – Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne«, herausgegeben von Sabine Mecking und Yvonne Wasserloos. Erschienen bei V & R unipress, Düsseldorf 2012.


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Auf ein Wort Theaterblog

Wer falsch antwortet, wird gefressen

S. Kranz: Du forscht zurzeit am Max Delbrück Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin und am Kölner Institut für Softwaretechnologie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln. Wie kam es dazu?

M. Hennecke: Ich habe mich mit meinem Projekt »The Unanswered Question« für das Austauschprogramm »Kunst trifft Wissenschaft« beworben. Dieses Programm wurde gemeinsam von der Helmholtz Information and Data Science Academy und der Akademie für Theater und Digitalität in dieser Spielzeit erstmalig initiiert. Voraussetzung für die Bewerbung war, dass man eine Forschungseinrichtung der Helmholtz-Gemeinschaft findet, die das Projekt unterstützt und einen Studienaufenthalt ermöglicht. Ich hatte das Glück, dass gleich zwei Einrichtungen mir ihre Unterstützung zugesagt haben und nach einem gemeinsamen Gespräch, haben wir dann beschlossen, uns mit beiden Helmholtz Einrichtungen zu bewerben. Das hat geklappt.

Auszug aus der Partitur von Charles Ives

S. Kranz: Woran forscht ihr genau?

M. Hennecke: Was mich schon länger beschäftigt, ist die Frage, wie man es schaffen kann, das Publikum mehr in die Konzerte oder die Theateraufführungen einzubinden. Jeder, der auf der Bühne agiert, weiß, welchen großen Einfluss das jeweils vor Ort anwesende Publikum auf die Vorstellung oder das Konzert hat. Deswegen habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, Daten der Zuschauer zu erfassen und sie als Teil des Konzertabends zu nutzen. Diese Daten sollen durch Künstliche Intelligenz bearbeitet werden, um daraus einen Orchester-Liveremix zu generieren. Der Titel des Projektes bezieht sich auf das gleichnamige Orchesterwerk »The Unanswered Question« des amerikanischen Komponisten Charles Ives. Ives ließ sich zu diesem Musikstück von dem Gedicht »The Sphinx« des Lyrikers Ralph Waldo Emerson inspirieren. Darin geht es um die Sphinx, die die Stadt Theben belagert. Um an ihr vorbei zu kommen, muss man ein Rätsel lösen. Wer falsch antwortet, wird gefressen. Einzig der thebanische König Ödipus kann ihr entkommen, indem er erkennt, dass der Mensch die Lösung des Rätsels ist. Es geht also um die Frage nach dem menschlichen Sein. Ich fand es spannend, mich dieser Frage mit Hilfe der künstlichen Intelligenz zu nähern und für die Entwicklung eines Prototyps diese Komposition zu nutzen.

S. Kranz: Wie geht ihr das Forschungsvorhaben konkret an?

M. Hennecke: Nach einem ersten Aufenthalt an der Akademie für Theater und Digitalität im Herbst letzten Jahres, bei dem ich an der künstlerischen Umsetzung des Projektes gearbeitet habe, war ich mit dem Schauspieler Raimund Widra am Max Delbrück Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin.

Raimund Widra im MRT des Max Delbrück Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin. Foto Martin Hennecke.

Dort forscht das Ultrahigh Field Facility an MRTs, die 2 ½ mal so stark sind, wie ein normales MRT. Raimund Widra hat sich in diese MRT gelegt und das Gedicht rezitiert und dabei wurde sein Herz aufgenommen. Dabei wurde eine Vielzahl von Daten generiert, die im Projekt als Datenmaterial und Input für die Künstliche Intelligenz dienen sollen. Zurzeit bin ich am Institut für Softwaretechnologie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt. Dort beschäftigen wir uns gerade mit der Erfassung der Zuschauerdaten und der Programmierung der künstlichen Intelligenz, die für das Projekt nötig sind.

S. Kranz: Du sprichst von der Erfassung von Zuschauerdaten, was ja aus Datenschutz-Gründen ein brisantes Thema ist. Was sind das für Daten und wie werden sie erfasst?

M. Hennecke: Also wir sammeln humanoide Daten, welche das ganz konkret sein werden und wie wir das während des Konzertes bewerkstelligen, ist gerade eine unserer Forschungsfragen. In der engeren Auswahl sind drei Möglichkeiten. Da ist erstmal die Aufzeichnung des Pulsschlags der Zuschauer, das kennt man ja von Sport-Apps, es gibt so Armbänder, die den Pulsschlag an das eigene Smartphone weitergegeben. Aus dieser Aufzeichnung kann man dann die Herzfrequenz errechnen. Diese Herangehensweise würde sich gut anbieten, weil die Technik schon vorhanden ist und es relativ einfach zu bewerkstelligen wäre. Die zweite Möglichkeit, mit der wir experimentieren, sind Gesichtserkennungs-Kameras. Auch da gibt es schon Software, die erkennen kann, ob sich jemand freut oder ob jemand traurig ist, aber auch zum Beispiel ob sich jemand bewegt oder gestikuliert, ob er ruhig ist oder unruhig. Die Gesichtserkennung zur Generierung von Daten zu nutzen hätte den Vorteil, dass man keine Leute verkabeln muss, sondern einfach ein paar Kameras hinstellt und das Publikum aufnimmt. Die dritte Möglichkeit, die wir gerade noch untersuchen ist, ob man über Apps einen Fragebogen ans Publikum leitet und aus den unterschiedlichen Antworten Scores, also ein Punktesystem kreiert. Am elegantesten wäre es, da weiß ich aber noch nicht ob wir das hinkriegen, wenn wir jetzt diese drei Möglichkeiten alle gleichzeitig nutzen und miteinander verbinden.

Aufnahmen von Raimund Widras Herz. Foto © M. Hennecke.

S. Kranz: Und diese Daten sollen dann die Komposition von Charles Ives verändern?

M. Hennecke: Ja, bei der Aufführung planen wir, das Publikum in zwei Gruppen zu teilen, sodass zwei Remixe entstehen, die dann nacheinander gespielt werden. So kann man die Veränderung der Komposition besser nachvollziehen.

S. Kranz: Und hast du keine Sorge, dass die Zuschauer nicht bereit sind, ihre Daten zur Verfügung zu stellen?

M. Hennecke: Es wird ja niemand gezwungen, in das Konzert zu gehen. Aber die Datensicherheit muss man natürlich im Blick behalten, das ist klar. Auf der anderen Seite kann das natürlich auch ein schönes Themenfeld eröffnen, diese Techniken gehören ja zu unserem Alltag. Wie steht es mit der Privatsphäre und Überwachung im öffentlichen Raum? Auf was lassen wir uns da ein? Es kann sehr spannend sein, da thematisch drauf einzusteigen.

S. Kranz: Indem man im Anschluss an so einem Konzert darüber spricht?

M. Hennecke: Ja genau oder auch in Folgeprojekten, also wenn andere Komponisten vielleicht mit der Technologie Stücke schreiben, die sich dann genau so einem Thema widmen.

Greenscreen in der Akademie für Theater und Digitalität, Foto © M. Hennecke.

S. Kranz: Und wie sieht das praktisch aus? Nehmen wir mal an, da sitzen hundert Zuschauer, die hören diese Originalkomposition und strahlen alle wie die Honigkuchenpferde, weil es ihnen wahnsinnig gut gefällt und gleichzeitig geht ihr Puls total hoch. Wie verändert das dann die Musik, wird sie schneller, kommt da eine bestimmte Tonalität dazu? Du bist ja wahrscheinlich derjenige, der das festlegen wird.

M. Hennecke: Ich muss die Eckpfeile setzen, aber es ist ein bisschen komplizierter. Denn nicht die unmittelbare Reaktion der Zuschauer steuert den Remix, sondern diese Daten werden dann mit den Daten von Raimund Widras Herz korreliert. Eine Künstliche Intelligenz wird unterschiedlichste Relationen zwischen diesen Daten feststellen, es gibt da sehr viele Möglichkeiten. 

S. Kranz: Aber trotzdem bleibt ja die Frage: Wie verändert sich die Komposition dadurch? Also, schneller, lauter, leiser, andere Tonart, …?

M. Hennecke: Da gibt es unendlich viele Möglichkeiten, man kann auch mit dem Raum spielen, aus den Worten des Schauspielers könnte ein kleines Drumset entstehen und so weiter und so weiter. Mir wäre es allerdings am liebsten, wenn ich das nicht so kleinlich festlegen müsste, sondern ich hoffe, dass wir ein Programm schreiben, das selbst entscheidet. Für eine Relation wie »schnellerer Pulsschlag = schnelleres Tempo« braucht man ja keine Künstliche Intelligenz. Im Idealfall sollte die Künstliche Intelligenz, die wir angelernt haben, selbst entscheiden, was daraus entsteht. Das wäre eigentlich das spannendste Ergebnis des Ganzen, vielleicht sogar eine der Antworten auf »The Unanswered Question«.

Nachsatz: Das Projekt von Martin Hennecke soll als Prototyp in einer Voraufführung im Mai, in der Akademie für Theater und Digitalität gezeigt werden. In Saarbrücken kann man die Aufführung in der kommenden Spielzeit in der Alten Feuerwache erleben.

Das Gespräch entstand in Mitarbeit von Emma Berber.

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Der Dramaturgieschreibtisch Theaterblog

Eine Erfindung des 20. Jahrhunderts

Über zwei Jahrzehnte prägte ein gebürtiger Hallenser die Opernszene Londons in entscheidender Weise. Mit märchenhaft-musikalischen Werken wie »Arianna in Creta«, »Alcina« oder »Ariodante« gelang es ihm, seine kompositorische Vormachtstellung zu halten und seine Konkurrenz ein ums andere Mal in ihre Schranken zu weisen. Die Rede ist von keinem Geringeren als Georg Friedrich Händel, Sohn eines Chirurgen, der bereits im Alter von 14 Jahren seine erste (überlieferte) Komposition fertigstellte und wie kaum ein anderer Form, Inhalt und Ästhetik der frühen Gattung Oper prägen sollte. In vielerlei Hinsicht ist Händel ein Phänomen: Als europäischer Musiker, als höchst produktiver und vielseitiger Komponist, als gewiefter Unternehmer, vor allem aber in seiner Rezeption durch die Nachwelt.

Melissa Zgouridi (Ruggiero); Valda Wilson (Alcina) | Foto: Astrid Karger

»Kein großer Komponist wurde jemals von der Nachwelt so falsch dargestellt wie Händel«, brachte es der englische Händel-Forscher Winton Dean in einem Lexikon-Artikel auf den Punkt. Bereits kurz nach Händels Tod fokussierte sich die Wahrnehmung vornehmlich auf Händels große Oratorien, mit besonderem Augenmerk auf deren christlichen Gehalt (von dem nur allzu gern auf die Persönlichkeit des Komponisten rückgeschlossen wurde) und deren monumentale Chorsätze. Händels 42 Opern wurden dagegen kaum erwähnt geschweige denn geschätzt. Ihre dramaturgische Form galt als zu komplex, der erste Händel-Biograph und Herausgeber der ersten Werkausgabe Friedrich Chrysander sprach sogar von »Arien-Bündeln, durch Rezitiv-Fäden zusammengehalten«.

Erst im 20. Jahrhunderts kam es zu einer Renaissance der Händel’schen Opern, die von den Göttinger Händel Festspielen ausging. Hier brachte der Kunsthistoriker Oskar Hagen am 26. Juni 1920 »Rodelinda« auf die Bühne und löste damit eine Welle von Wiederentdeckungen aus, die zu weiteren Festspielgründungen, aber auch zu regelmäßigen Aufführungen an deutschen Theater- und Opernbühnen führten. Bereits in den 1920er Jahren sollten es progressive Regisseure sein, die sich der geschmähten Dramaturgie Händels Opera seria annahmen. Vor dem Hintergrund dieser Tatsache mag es nur wenig verwundern, dass es mit dem Aufkommen des sogenannten »Regietheaters« eine neuerliche Welle an Händel-Interpretationen gab. Ein Umstand oder gar Privileg (?), welches Händels Werken zuteilwurde und anderen populären Komposten des Barocks wie Vivaldi oder Scarlatti und ihren Opern in diesem Maße nur bedingt vergönnt war.

Melissa Zgouridi (Ruggiero); Artavazd Sargsyan (Oronte) | Foto: Astrid Karger

Das Dramma per musica »Alcina« stellt dabei gleich in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit im gesamten (Opern-)Schaffen Händels dar. Zum einen sollte es einer der letzten großen Opernerfolge Händels sein und zum anderen gilt die Oper bis heute als Höhepunkt seines musikalisch-psychologischen Kunst.
In »Alcina« macht Händel weit mehr als eine phantastische Zauberin zur Protagonistin seines Werks, es ist auch weit mehr als die Geschichte eines magisch angereicherten Seitensprungs. Mit seiner Komposition stößt der Tonsetzer zu einer neuen Gefühls- und Ausdrucksästhetik des hervordrängenden bürgerlichen Zeitalters vor. Seine Figuren sind nicht mehr typisierte Schablonen, sondern ausdrucksvolle, realitätsnahe Charaktere, die in ihrem fehlerhaften, sich irrenden und suchenden Verhalten nur allzu menschlich erscheinen. Händels Tendenz zu einer Aufbrechung der Konventionen hin zu einem psychologisch schlüssigen Musikdrama scheint unverkennbar. Und mit diesen mannigfaltigen Deutungsmöglichkeiten zwischen Emotio und Ratio, Vernunft und Unvernunft, Natur und Zivilisation und jeglichen anderen Lebens- und Scheidewegen charakterisiert sich das emanzipatorische Potenzial »Alcinas« als zeitlos.

Melissa Zgouridi (Ruggiero) und Markus Jaursch (Melisso); auf der Projektion: Valda Wilson (Alcina) | Foto: Astrid Karger

Angesichts dieser dramaturgischen Eigenarten wie Herausforderungen, die einem Werk wie Händels »Alcina« immanent sind, der Vielzahl an Codierungen, die einer semantischen Neuübersetzung bedürfen, eine Musikdramaturgie, die mit ihrer Da-Capi-Form konträr zu Schnelllebigkeit und Effizienzsucht unserer Gesellschaft und durch ihr real-zeitliches Innehalten, die Deklination der Gefühlswelt des Menschen nahezu revolutionäres Potenzial im Heute hat.
Ohne Zweifel ist eine der wohl wichtigsten Fragen bei der Inszenierung einer Barockoper, die nach der musikalischen Fassung. Entstanden ist Händels Werk, obgleich er eben jene Konventionen bereits brach, in einem streng codierten Bezugsrahmen aus Gesten, Zeichen, Kostümen und einer konkretisierten Vorstellung vom Verhältnis Sänger – Bühne – Publikum. Ein sehr eng geschnürtes Korsett, welches gleichzeitig hübschen Spitzenbesatz bekommt durch eine Theaterpraxis seiner Zeit, die eben jenen strengen Konventionen konterkariert. Und damit einen Begriff in Frage stellt, mit dem Theaterschaffende insbesondere seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder konfrontiert sind: Werktreue.

Valda Wilson (Alcina); iMove | Foto: Astrid Karger

Die Vorstellung, um nicht zu sagen, die Behauptung und die Erwartung, ein Werk wie Händels habe diese eine musikalische wie inszenatorische Gestalt ist vor allem eines: schlicht falsch. Der Begriff der »Werktreue« und alles, was er vermeintlich einschließt, sei es eine definitiv definierte musikalische Fassung oder eine allgemeingültige ästhetische Aufbereitung, ist ganz und gar eine Erfindung der Theaterrezeption des 20. Jahrhunderts, die sich bis ins Heute zieht.
Dabei lebten insbesondere die Werke des Barocks von der Gelegenheit des Moments, von Improvisation (s. Continuo), von Freiheit und gleichzeitiger Unfreiheit, die unterschiedliche Besetzungen, Aufführungsorte, Publikum etc. erforderten. Nicht selten änderte sich kurzfristig die sängerische Besetzung, sodass die Partie möglicherweise noch nicht vollumfänglich einstudiert war oder schlicht nicht gefiel, sodass eine oder mehrere Arien kurzerhand ausgetauscht wurden durch völlig stückfremde Arien, die aber wiederum der Virtuosität des Sängers zuträglich waren und damit auch der Erwartungshaltung des Publikums.
Der Begriff Werktreue beansprucht außerdem eine genaue Kenntnis des Werkes für sich und damit eine Kenntnis über die (vermeintliche) Intention des Komponisten. Doch wenn allein von Verdis »Don Carlos« mindestens(!) sieben verschiedene Fassungen existieren, die vom Komponisten selbst stammen oder doch von ihm autorisiert wurden, wenn es von Wagners »Tannhäuser« nicht nur »die« Dresdner oder Pariser Fassung gibt, sondern allein in Dresden schon zu Lebzeiten des Komponisten mehrere Varianten zur Aufführung kamen und Wagner zwischen 1845 und 1860 rund 70 Änderungen vorgenommen, den Schluss der Oper nicht weniger als vielmal musikalisch und dramaturgisch wesentlich umgestaltete … Ja, welche Fassung ist denn dann »werktreu«? Puccini starb, noch bevor er die Skizzen zum Finale von »Turandot« auskomponieren und fertigstellen konnte. Und nun? Der berühmte Rattenschwanz an Fragen, den diese Diskussion nach sich zieht und von Kürzungen, Übersetzungen, Übertitelungen (übrigens auch eine Erfindung des 20. Jahrhunderts), Besetzungen (Kastraten? Keine Frauen auf den Bühnen?) ganz zu schweigen… 


Bleibt ein Theaterabend wie dieser mit »Alcina«, was Theater ist: Eine Behauptung, ein Vorschlag, ein Angebot – ohne – und alles andere wäre vermessen – den Ehrgeiz (zeitloser) Gültigkeit.

Markus Jaursch (Melisso) und Melissa Zgouriddi (Ruggiero) | Foto: Astrid Karger

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

Noch zwei Mal haben Sie im Februar die Gelegenheit, Händels gleichermaßen wichtigste wie schönste Oper im Saarländischen Staatstheater zu erleben. Karten und weitere Informationen finden Sie hier.

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Auf ein Wort Theaterblog

DAS UNVERSÖHNLICHE VERSÖHNEN

In diesem Duett (oder Duell), das mit Sprache, Schweigen und allen verfügbaren Registern der Dramatik liebäugelt, erspielt sich der Spieler seine Lebenszeit, setzt sich mit dem Tod auf schier unerschöpfliche und humorvolle Weise auseinander; sie ringen miteinander, trösten und missverstehen sich wie zwei Vertraute. Leben und Tod – hinunter gebrochen auf die Theatersituation. Und wir, das Publikum, sind mit gemeint, tanzen den Totentanz mit. Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb im Gespräch mit dem Autor Björn SC Deigner – über Kunst, das Politische und den Tod.

Bettina Schuster-Gäb: Was macht einen guten Stoff aus?

Björn SC Deigner: Das ist eine große Frage. Ich kann sie auch insofern schlecht beantworten, weil meine Stücke sehr verschieden sind. Vielleicht so: ich glaube an das Politische im Schreiben. Ich glaube an die Musikalität von Sprache, an die verführerische Abgründigkeit von Figuren auf der Bühne und das politische Moment, wenn sich Menschen zu einer Gruppe versammeln, die sich Publikum nennt. Und bei »Spieler und Tod« war es auch die Lust am Spiel. Das Vertrauen darauf, dass ein großes Thema ganz klein angepackt werden kann. Dass uns zwei Schauspieler auf der Bühne dazu verführen können, doch einem Schrecken in den Schlund zu schauen, auch wenn man herzlich gelacht hat dabei. Ich glaube mittlerweile, dass man als Kunstschaffender es auf eine gewisse Weise nicht vermag, mit der Welt in einen Gleichklang zu kommen – irgendetwas fehlt immer oder ist gerade zu viel. Das interessiert mich an der Welt: das Unversöhnliche zu versöhnen und das Versöhnte wieder zu bezweifeln.

B. S.-G.: Der Tod – ein großes Thema. Wie und warum hast du dich ihm angenähert?

B.D.: Jeder Mensch, der sich mit Kunst beschäftigt, hat es mit dem Tod zu tun. Als Sujet eines Bildes wie bei Dürer; oder als auslösender Konflikt eines Stückes bei Schiller oder Shakespeare zum Beispiel. Wenn man durch die Künste geht, bemerkt man, wie präsent der Tod als Topos immer war – auch unabhängig von kirchlicher Prägung. Insofern ist es vielleicht eher fraglich, wie wenig der Tod, auch im gesellschaftlichen Miteinander, vorkommt (auch wenn es sich durch die Pandemie gerade anders gestaltet). Das professionalisierte Abschieben des Vorganges des Sterbens in Institutionen wie Hospize oder Altersheime wurde durch die Corona-Krise aufgerissen; ich denke aber, durch die systemischen Stellschrauben, die unser Zusammenleben fixieren, wird auch das bald wieder vergessen sein. Wir leben – noch – unter dem Leitsatz von Wachstum, Erweitern und Vergrößern. Da hat Verlust, Scheitern, Tod wenig Platz. Das war die Hintergrundstrahlung für die Idee, ein Stück über den und mit dem Tod zu schreiben. Um dann leicht zu werden: ein Abend, an dem wir dem Tod ins Gesicht lachen. Dass er uns trotzdem einholt, dass wissen wir ja ohnehin…

»Spieler und Tod«: Weitere Vorstellungstermine: 22.1., 29.1., 6.2., 18.2., sparte4 © Martin Kaufhold

B. S.-G.: Ist der Spieler ein guter Mensch?

B.D.: Was ist ein guter Mensch – oder noch schlimmer: was gar ein schlechter? Ich glaube, die Literatur ist ein Ort, wo alle Menschen gebraucht werden. Wir wollen sie dann lieben oder hassen, leiden mit ihnen oder wir lehnen sie ab. Aber wir verhalten uns doch zu ihnen. Ob sie dafür gute oder schlechte Menschen sind, ist beinahe zweitrangig, es zählt eher der Graubereich dazwischen. Eine gute Figur wäre der »Spieler«, wenn sie es schaffen würde, dass wir uns von ihr abgrenzen, darum über sie lächeln, zugleich aber wieder zu ihr finden dürfen und plötzlich getroffen sind davon, wie auch diese Figur verzweifelt sein kann, kindlich, voller Angst. Dann wäre vielleicht der »Spieler« nicht unbedingt ein guter Mensch, aber immerhin eine gute Figur.

B. S.-G.: Und die Figur des Todes?

B.D.: Der Tod, so wie er in meinem Stück vorkommt, hat mich aus zwei Gründen sehr gereizt: zum einen ist er ein recht schweigsamer Spielpartner. Das ist szenisch interessant, weil in jeder Szene ein grundsätzliches Missverhältnis zwischen den beiden Figuren besteht, zumal der »Spieler« sehr viel spricht. Dieses Missverhältnis ist grundlegende Bedingung für Humor, glaube ich. Und zugleich bildet es eine Grundspannung, mit der jede Szene umgehen kann. Zum anderen ist der Tod – auch auf unserer Bühne – immer nur eine kulturelle Repräsentation. Was könnte mehr Theater sein! Der Tod ist immer schon inszeniert und hat sich – oder wurde – über die Jahrtausende immer anders in Szene gesetzt. Das war mir wichtig für die Figur des Todes, die älter als das Christentum ist: sie fragt nicht nach Schuld, sie erlöst nicht, sie kann auch nicht drohen. Sie kommt einfach und macht keinen Unterschied.

B. S.-G.: Wie weltlich ist also der Tod?

B.D.: Das Nicht-Einverstanden-Sein mit der Welt, weil ein Mensch gehen musste, den man bei sich haben wollte: das ist eine Erfahrung, die vermutlich jeder Mensch schon einmal machen musste, oder die einem unweigerlich noch bevorsteht. Ich glaube, dass darin ganz fundamental eine politische Kraft liegt. Die Verhältnisse, wie sie scheinen, nicht zu akzeptieren, ist auch ein politisches Potential. Im alltäglichen Leben geht ein Bewusstsein dafür, dass Welt auch ganz anders sein könnte, ja immer verloren. Einschnitte wie der Tod, die in ihrer Andersartigkeit keine Rücksicht nehmen (ob es uns gerade passt zum Beispiel), zeigen uns auf, dass wir konfrontiert werden mit Welt und uns darin entweder abfinden müssen oder aufbegehren dagegen. Das empfinde ich sehr politisch. Abseits davon ist vor allem das Sterben politisch und zwar ganz profan: wer kann es sich leisten, wie zu sterben? Bei den Liebsten zuhause, mit einer privaten Pflegekraft – oder im Mehrzimmerbett, verpflegt und gesäubert durch wechselnde Schichten überarbeiteter Pflegekräfte.

Der Tod selbst – zumindest wir er uns im Stück erscheint –, macht keine Unterschiede. Und darin ist er wohl seltsam unpolitisch. Und das kann man ihm neiden: Menschen brauchen schließlich Politik, um sich über Fragen einig zu werden, auf die es kaum eine Antwort gibt. Der Tod scheint von diesen Fragen unberührt.

Björn SC Deigner, geboren 1983 in Heidelberg, studierte Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen. Deigner ist Autor für Theater und Hörspiel, sowie Sounddesigner und Komponist an verschiedenen deutschen Stadttheatern (u. a. Thalia Theater Hamburg). Seine Texte wurden eingeladen zu den Autorentheatertagen 2018 am Deutschen Theater Berlin sowie 2019 zum Heidelberger Stückemarkt.

Das Interview führte Bettina Schuster-Gäb, Schauspieldramaturgin mit Sonderprojekt Festivalleitung und Programmdramaturgie »Festival Primeurs« & »Primeurs PLUS«