Das „Festival für frankophone Gegenwartdramatik – Primeurs“ feiert in diesem Jahr seinen 15. Geburtstag. Vier Partner hoben es im November 2007 gemeinsam aus der Taufe: das Saarländische Staatstheater, das Institut Français, der Saarländische Rundfunk und das Carreau in Forbach. Ursula Thinnes, damals Chefdramaturgin des Saarländischen Staatstheaters und heute Schauspieldirektorin des Staatstheaters Braunschweig, war Mitinitiatorin des Festivals und hat die ersten zehn Ausgaben begleitet. Im Gespräch mit Astrid Karger erinnert sie sich an die Geburtsstunde und die Sternstunden dieses außergewöhnlichen Festivals.
15 Jahre »Festival Primeurs« – ein Rückblick
A.K.: Wann und wie entstand die Idee zum »Festival für frankophone Gegenwartsdramatik – Primeurs«?
U. T.: Kurz nach dem Start der Intendanz von Dagmar Schlingmann am Saarländischen Staatstheater 2006 kamen Anette Kührmeyer vom Saarländischen Rundfunk und die damalige Leiterin des Institut Français, Isabelle Berthet, auf uns zu mit der Idee eines gemeinsamen Projekts. Beide wollten, so direkt an der französischen Grenze, frankophoner Literatur eine Bühne bieten.
Dagmar Schlingmann und ich waren als Kooperationspartner naturgemäß an Dramatik interessiert, Anette Kührmeyer als Hörspielchefin ebenso – außerdem war für sie wohl reizvoll, dass wir dem Hörspiel in der Alten Feuerwachen mitten in der Stadt Sichtbarkeit verleihen konnten. Klar war ganz schnell, in den ersten Minuten, dass wir unbedingt etwas zusammen machen wollten. Wir hatten alle kein Geld für Zusatzprojekte, konnten aber jeweils unsere besonderen Stärken, Netzwerke und verschiedenen Infrastrukturen nutzen. Durch das Institut Français war es uns zum Beispiel möglich, Autor*innen nach Saarbrücken einzuladen, wir als Staatstheater hatten die Bühne und das Ensemble.
Am Anfang stand der Kooperationswille
A.K.: Gab es einen bestimmten Anlass, einen Auslöser, beispielsweise ein in Deutschland unbekanntes Stück, das man vorstellen wollte?
U.T.: So konkret gingen wir erst einmal gar nicht vor. Der Auslöser war wirklich der Kooperationswille. Drei Institutionen direkt an der Grenze – daraus sollte sich ein Festival entwickeln lassen. Und wir wollten einen weiteren Partner einladen: Das Carreau, als erstes Theater hinter der Grenze (aus Saarbrücker Perspektive). Glücklicherweise war dessen damaliger Direktor, Frédéric Simon, sofort von der Idee begeistert.
A.K.: Was waren die ersten Schritte zur Gründung des Festivals?
U.T.: Solange ich an der Durchführung dieses Festivals beteiligt war – und das waren immerhin zehn Ausgaben –, hat es nie einen Kooperationsvertrag gegeben. Es galt das gegebene Wort. Ich liebe solche Verabredungen. Das erfordert Offenheit und Verbindlichkeit in der Kommunikation. Wir wollten frankophone, nicht nur französische Autor*innen vorstellen, in szenischen Lesungen und Werkstattinszenierungen, in einem Rahmen, der Spaß macht, der zum Feiern einlädt.
Und wir wollten nicht nur Stücke kennen lernen, sondern auch die Autor*innen einladen. Damit hatten wir die Struktur. Dadurch, dass der Sendeplatz des SR-Hörspiels – immer donnerstags, 20.04 Uhr – feststand, war auch eine bestimmte Aufteilung naheliegend. Donnerstags Hörspiel und Eröffnung, freitags die ersten Werkstattinszenierungen, samstags die lange Nacht mit der abschließenden Preisverleihung. Das war so in etwa der Kern des Festivals über viele Jahre.
A.K.: Wie kam es zum Namen »Primeurs«? Und zum erklärenden Untertitel »frankophone Gegenwartsdramatik«? Gab es Alternativen?
U.T.: Das Theater hat ja eine enge Disposition, Freiräume sind schwer zu finden. Wir schauten einfach, wo wir überhaupt eine Lücke finden konnten. Außerdem wollten wir einen gewissen Abstand zu den anderen Saarbrücker Festivals, so sind wir im November gelandet. Tatsächlich hat das Festival ein paar Mal direkt am Beaujolais-Primeurs-Wochenende stattgefunden. Bei der Namensfindung wollten wir herausstellen, dass es sich um wirkliche Premieren handelt. Die Stücke sind sehr oft im Auftrag des Festivals übersetzt worden, sodass die Saarbrücker Zuschauer*innen die ersten waren, die die Texte in deutscher Sprache kennen lernen konnten.
Feuerprobe statt »Wasserglas-Lesung«
A.K.: Ein besonders reizvolles Element der Primeurs-Lesungen ist, dass es sich nicht eigentlich um Lesungen handelt, sondern um kleine Inszenierungen, für die Schauspiel und Bühnenbild das Beste aus den gegebenen Beschränkungen herausholen. Wie hat sich dieses Format entwickelt?
U.T.: Mir war es ein Anliegen, die Stücke als Texte für das Theater zu präsentieren. Das Publikum sollte einen Eindruck von der Bühnenwirksamkeit bekommen. Das ist durch bloßes Zuhören nicht bei jedem Text möglich. Das ist gar nicht unumstritten. Es gibt Festivals, die neue Texte als einfache »Wasserglas-Lesung« präsentieren, um die Autor*innen ins Zentrum zu stellen. Ich bin allerdings der Meinung, dass eine gute szenische Einrichtung den Autor*innen nur nutzen kann.
A.K.: Wie finden Sie interessante Stücke, was sind Ihre Kriterien?
U.T.: Das Schöne an der Stückfindung war immer der gemeinsame Austausch mit den Partner*innen. Wir dachten unterschiedlich, hatten unterschiedliche Standpunkte und kulturelle Erfahrungen. Das war ungemein bereichernd. Der Luxus bei der Auswahl war, dass wir die Texte nicht auf Repertoiretauglichkeit abklopfen mussten. Gerade ein breites Panorama war uns wichtig. Kleine, experimentelle Texte kamen für uns genauso infrage wie große literarische Herausforderungen. Uns interessierten formale Experimente, schräge Stimmen, neue Dramaturgien.
A.K.: Welche Erinnerungen haben Sie an die erste Festival-Ausgabe 2007?
U.T.: Das war rauschhaft. Wir hatten unglaublich geackert, um alles zu realisieren – ohne großen Festivalstab. Es knirschte noch ganz gewaltig in den Abläufen, da haben wir uns in den Folgejahren weiterentwickelt. Aber die Party war groß.
Frankophone Dramatik im Wandel
A.K.: Können Sie eine inhaltliche Entwicklung, bestimmte Tendenzen erkennen? Gibt es etwas, das französisch-sprachige Dramatik grundsätzlich von deutschen Theaterstücken unterscheidet?
U.T.: Wir waren bei der Auswahl risikobereit. Das hat sich absolut ausgezahlt und uns von Anfang an ein spannendes Programm beschert. Aber ich glaube, die französische Dramatik hat sich sehr verändert in den vergangenen 15 Jahren. Als wir anfingen, kamen vor allem die formal spannenden Texte mit teils non-linearen Dramaturgien eher aus Québec oder dem frankophonen Afrika. Diese Trennlinien verlaufen längst nicht mehr entlang der Ländergrenzen. Ein performativer Text aus Frankreich? Heute ist das keine Überraschung mehr.
A.K.: Ein Stichwort zu jedem Jahrgang? Eine Erinnerung, etwas Prägendes? Was waren Höhepunkte der vergangenen 14 Primeurs-Jahrgänge? Und wie beurteilen Sie über die Jahre die Resonanz auf das Festival?
U.T.: Oje, das sind zu viele Erinnerungen! Aber die Begegnungen, die wir als Dramaturgie des Staatstheaters mit den Autor*innen hatten, das war großartig. Überhaupt, dass die Autor*innen sich untereinander kennen lernen konnten, dass alle versucht haben, möglichst viel zu sehen, das war unglaublich intensiv.
Vielleicht doch zwei Erinnerungen: Als ich 2012 William Pellier im Anschluss an die szenische Lesung seines Stückes »Wir waren« interviewte, sagte er auf jede Frage erst einmal »Ich weiß nicht, was ich sagen soll« und druckste noch ein bisschen herum. Mich hat das durchaus gestresst. Ich wollte ja keinen Autor in Verlegenheit bringen. Am Ende des Abends gewann er das Festival und sagte nach der Gratulation durch Dagmar Schlingmann »Ich weiß nicht, was ich sagen soll« – nichts weiter.
Zwei Wochen später hat er mir einen ausführlichen und sehr warmherzigen Dankesbrief geschrieben, kurze Zeit darauf einen wunderbaren Text für das Jubiläumsbuch des Saarländischen Staatstheaters, das 2013 unter dem Titel »Grenzenlos« erschien. Das gesprochene Wort war einfach nicht sein Medium.
Das Festival als Wegbereiter
In der letzten Ausgabe, die ich betreut habe, 2016, gab es eine französische Lesung eines Kinderstücks von Fabrice Melquiot in Forbach, die ich zauberhaft fand. Ich war damals auf der Suche nach einem Klassenzimmerstück für das Schauspiel Frankfurt und initiierte im Anschluss an das Festival die Übersetzung des Stücks. Der Text »Die Zertrennlichen«, ein Stück über Alltagsrassismus, ist mittlerweile an unglaublich vielen deutschsprachigen Theatern gespielt worden und hat 2018 den Deutschen Kindertheaterpreis gewonnen, der von den Übersetzer*innen Frank Weigand und Leyla-Claire Rabih entgegengenommen wurde. Beide sind dem Festival Primeurs ja mehr als verbunden. Leyla hat z.B. im ersten Festival auch ein Stück inszeniert. Es sind Wellen, die durch das Festival ausgelöst werden, manche bleiben klein, andere können wachsen – wie im letztgenannten Beispiel. Das Festival hat einigen Stücken den Weg auf deutschsprachige Bühnen bereitet, davon bin ich überzeugt.
Ursula Thinnes hat in München Theaterwissenschaft, Komparatistik, Germanistik und Geschichte studiert. Nach Stationen in Chicago, Wien, München, Linz war sie Chefdramaturgin am Theater Konstanz und von 2006 bis 2017 am Saarländischen Staatstheater. In dieser Zeit realisierte sie zahlreiche grenzüberschreitenden Projekte und war Mitinitiatorin des »Primeurs Festival für frankophone Gegenwartsdramatik«. 2017-2020 arbeitete sie als Dramaturgin am Schauspiel Frankfurt. Seit Beginn der Spielzeit 2020/21 ist Ursula Thinnes Schauspieldirektorin am Staatstheater Braunschweig.
Astrid Karger
Journalistin & Fotografin