»Es affiziert mich Alles, was in der Welt vorgeht: Politik, Literatur, Menschen – über Alles denke ich in meiner Weise nach; was sich dann durch Musik Luft machen, einen Ausweg suchen will.« Diese Worte Robert Schumanns, der mit wachem Geist die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfolgte, haben bis ins Heute nichts an ihrer Wirkkraft verloren. Verweisen sie doch auf das große Potenzial der Musik und die damit verbundene Wirkungsfähigkeit, durch ihre Performanz und das musikalische Erleben zur Verarbeitung und Spiegelung außermusikalischer Eindrücke und Prozesse beizutragen.
Dabei charakterisiert sich dieses Potenzial jedoch nicht nur als Kür, sondern auch als Pflicht, in dessen Bezugsrahmen sich auch eine Spaltung vollziehen kann: Nämlich die Trennung zwischen dem Anspruch der Musik als autonome Kunst und der Gefahr ihrer Instrumentalisierung zur gesellschaftlichen und staatlichen Repräsentation und Machtkonsolidierung bzw. Machterosion bis hin zum Missbrauch durch totalitäre Systeme. Auch der Künstler oder die Künstlerin muss sich immer wieder der Frage nach ihrer eigenen Autonomie angesichts sozialer und politischer Konstellationen stellen; ein Umstand, der nur allzu oft mit äußeren Erwartungen, der Romantisierung des politischen (Wider-)Stands und der Rezeption dessen kollidiert. Vor diesem Hintergrund charakterisiert sich die Musik als das, was sie ist: Ein Spannungs- und Inspirationsfeld zwischen Emotion und Ratio, zwischen Autonomie und (Sach-)Zwang, deren Betrachtung interdisziplinäre, intersektionale Perspektiven erfordert. Dabei lässt sich der Mehrdimensionalität der Musik als historischem wie ästhetischem Phänomen nur Rechnung tragen, wenn man die vielfältigen Dynamiken von gesellschaftlichen und politischen Wandlungsprozessen, die von Musik eingeleitet oder begleitet werden, berücksichtigt. Dort ist die entscheidende Frage nicht, ob Musik politisch ist, sondern wie und mit welchen Mitteln sie als Instrument zur Konsolidierung oder auch zu Destabilisierung von Staats- und Gesellschaftsformen eingesetzt worden ist. Und wird. Einhergehend mit den Fragen nach dem durchaus ambivalenten Abhängigkeitsverhältnis von Politik und Musik, drängen sich weitere auf … Wie frei ist die Kunst? Bedeutet Freiheit = neutral? Und behelfen wir der Kunst mit dem Anspruch, sie stehe über allem, wirklich zu einer Autonomie? Um welchen Preis? Ist die Musik also ein kunstvolles Spiel mit Tönen, Klängen, Harmonien, Rhythmen? Drückt sie immer etwas aus? Beschreibt sie einen Gegenstand, einen Sachverhalt, ein Gefühl? Dient sie gar einem Zweck? Ja. Und Nein. Welche politischen Dimensionen die Musik erfüllt, ist abhängig von den jeweiligen zeitgenössischen Verhältnissen und Visionen. Und der Streit über die Autonomie der Musik ist wohl so alt wie die Kunstform selbst, zu dem die Komponisten verschiedener Jahrhunderte ihren Beitrag beisteuerten, ob sie wollten oder nicht. Das Publikum übrigens genauso. Ob es will oder nicht.
Im 5. Sinfoniekonzert stehen zwei Komponisten auf dem Programm, deren Werden und Wirken als Kunstschaffende in besonderem Maße von der ambivalenten Abhängigkeit von Politik und Kunst geprägt war. 1946 wurde Pēteris Vasks in der lettischen Kleinstadt Alzpute als Sohn eines Pfarrers geboren – zu einer Zeit, in der das Land im Zuge des Zweiten Weltkriegs als Lettische Sozialistische Sowjetrepublik der Sowjetunion angegliedert worden war. Die Eindrücke seiner Kindheit wurden vom staatlichen Terror des sowjetischen Zentralregimes bestimmt: Massendeportationen und Zwangsumsiedlungen auf der einen Seite, gelenkter Zuzug von Menschen aus anderen Reginen der UDSSR auf der anderen Seite. Die Regierung der Sowjetunion verfolgte eine massive Politik der »Russifizierung« des Baltikums.
Vasks musste mit ansehen, wie Unschuldige aus ihren Häusern vertrieben und in sibirische Straflager verschleppt wurden. Stalins Tod 1956 sollte keineswegs so etwas wie Wiedergutmachung bedeuten – den Überlebenden des politischen Terrors wurde das strikte Verbot ausgesprochen, über das erlebte Unrecht zu reden. Schon früh sollte die Musik ein Weg Vasks sein, seinen erschütternd prägenden Erlebnissen einen künstlerischen Ausdruck zu verleihen. Auch das Leben Schostakowitschs war geprägt von den Eindrücken des sowjetischen Terrorregimes. Ein Umstand, der sich in besonderer Weise auf die Betrachtung seiner Musik auswirkte. Vor dem Hintergrund der omnipräsenten existenziellen wie künstlerischen Gefahr, denen Schostakowitsch als Mensch und Musiker ausgesetzt war, ist die Rezeption seiner Musik nahezu ideologisch überfrachtet. Es scheint fast zur Gewohnheit geworden sein, in jedem seiner Töne nach Hinweisen auf eine Art der Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten seiner Zeit zu suchen. Kein Wunder, überlebte Schostakowitsch doch nicht nur zwei Weltkriege, sondern auch eine Diktatur, in der der Künstler den massiven Schikanen der Kulturbehörden ausgesetzt war und seine Genese als Komponist mit dem Aufstieg des totalitären Stalin-Regimes zusammenfiel. Propaganda und Sozialismus auf der einen Seite, Verbote und Verfolge auf der anderen bestimmten den Alltag. Und damit die Musik.
Denn die Musik ist Alltag. Sie ist artifiziell, sie ist hypothetisch, sie ist intellektuell, sie ist sinnlich, sie ist politisch oder gar polemisch. Sie spiegelt die Gesellschaft, genau so wie sie sie formt. Sie kann Identität stiften, genauso wie sie Identität abbilden kann. Und Identität ist immer politisch.
Nun ist angesichts des immer komplexer werdenden Weltgeschehens, einer Nachrichten- und Weltenlage, die mehr einer Dystopie denn Utopie gleicht, dieser Wunsch nach Eskapismus, der mit dem Bedürfnis der vermeintlich unpolitischen Freiheit der Kunst einhergeht, nur allzu verständlich. Doch ist es nicht eine der großen Qualitäten, der Musik, dass sie mit den Originären Mitteln der Kunst einen politischen Diskurs erzählt und damit sinnlich wirken lässt?
Wer also jederzeit und immer von der (politischen) Freiheit der Musik ausgeht, setzt damit aufs Spiel, dass es sie irgendwann nicht mehr geben kann. Die Freiheit. Der beraubt die Kunst nicht mehr nur ihrer Dimension und Relevanz, sondern auch ihrer Widerstandsfähigkeit.
Frederike Krüger, Dramaturgin für Musiktheater und Konzert
Weitere Informationen sowie Karten für das 5. Sinfoniekonzert finden Sie hier.
Als Informationsquelle für diesen Beitrag diente der Sammelband »Musik – Macht – Staat. Kulturelle, soziale und politische Wandlungsprozesse in der Moderne«, herausgegeben von Sabine Mecking und Yvonne Wasserloos. Erschienen bei V & R unipress, Düsseldorf 2012.
IN GESELLSCHAFT – Das Spielzeitmotto 2021/2022 des Saarländischen Staatstheaters.
Zum zweiten Mal feierte das Saarländische Staatstheater sein traditionelles Theaterfest nicht in und vor den Spielstätten Großes Haus, Alte Feuerwache und sparte4, sondern war zu Gast im Weltkulturgut Völklinger Hütte. Auf einem Parcours kreuz und quer durch das weitläufige Areal konnte man passend zum neuen Spielzeit-Motto IN GESELLSCHAFT! die Künstlerinnen und Künstler wieder unmittelbar erleben. Publikum und Akteure live vereint an einem Ort. Dementsprechend war für viele nach einer langen Zeit des coronabedingten gesellschaftlichen Rückzugs oder der häuslichen Isolation die Freude auf ein gemeinschaftliches Erlebnis groß.
Geimpft, getestet oder genesen. Die »3 Gs« machen es möglich und bestimmen die neue gesellschaftliche Realität.
So konnten auch die Tänzerinnen und Tänzer des Staatsballetts endlich wieder ohne Abstand agieren und zeigen, was es heißt, sich gemeinsam zu bewegen, zu tanzen – sich als Kollektiv zu verstehen und als (Tanz-)Companie, die unmittelbare Bedeutung von körperlicher Nähe und Distanz zu untersuchen und erlebbar zu machen.
Auch das Schauspielensemble stellte sich dem Thema IN GESELLSCHAFT! und lud das Publikum u.a. in Form einer Mitmachaktion zur gesellschaftlichen Postionierung ein bzw. stellte Fragen wie: Ist die Demokratie in Gefahr? Nutzen Sie regelmäßig die öffentlichen Verkehrsmittel? Sollen innerdeutsche Flüge verboten werden? Beteilige ich mich bei der Bundestagswahl? Haben sich die Frauen emanzipiert? …
Theater ist in und aus den Anfängen einer demokratischen Gesellschaft entstanden. Im antiken Griechenland traf sich die Polis im Theater bei einem Fest zum gemeinsamen Austausch und reflektierte spielerisch die gesellschaftlichen Fragen der Zeit. Was ist Recht und was ist gelungende Politik? Welche Verantwortungen ergeben sich aus Macht und Reichtum?
Für mich haben bis heute die gesellschaftlichen Künste wie Theater, Oper und Ballett die Aufgabe, in Form von kleinen oder großen Geschichten Fragen zu stellen und sie emotional erlebbar zu machen.
Was sind heute die Normen und Werte auf die wir uns verständigen wollen? Was ist eine gerechte Gesellschaft und welchen Preis sind wir bereit dafür zu zahlen? Wie gehen wir mit Andersdenkenden um? Was bedeutet uns gesellschaftlicher Zusammenhalt bzw. gesellschaftliche Teilhabe und welche Gesellschaft meinen wir, wenn wir von Gesellschaft sprechen? Eine Zivilgesellschaft? Eine Informations-gesellschaft? Eine bürgerliche Gesellschaft? Eine Kosumgesellschaft? Eine Spaßgesellschaft? Eine Mediengesellschaft? – um nur einige zu nennen. Und welche Rollen spielen in all diesen Gesellschaftsmodellen unsere Emotionen?
Vielleicht ist die Befragung der unterschiedlichsten menschlichen Emotionen wie Freude, Liebe, Angst, Wut, Traurigkeit oder Scham sogar der Kernbereich aller Künste? Was bewegt uns? Was bewegt die anderen und wie erleben wir uns IN GESELLSCHAFT!?
Nach dem großen Theaterfest aller Sparten in der Völklinger Hütte lädt das Saarländische Staatstheater zu seinen Eröffnungspremieren in der Alten Feuerwache (»Gabriel« – Schauspiel von George Sand), dem Großen Haus (»Ariadne auf Naxos« – Oper von Richard Strauss) und der sparte4 (»Augen ohne Gesicht« – Schauspiel von Wilke Weermann), aber auch zu allen folgenden Premieren (wie »Der Besuch der alten Dame« – Schauspiel von Friedrich Dürrenmatt) und den zahlreichen Wiederaufnahmen (wie »Nora_Spielen!«– Schauspiel von Henrik Ibsen oder »Macbeth Underworld« von Pascal Dusapin) ein. Darüberhinaus ist auch wieder ein umfangreiches Konzert-Programm zu erleben.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch und wünschen uns viele anregende Gespräche rund um unser Spielzeit-Motto: IN GESELLSCHAFT!
»Die Bücher sind nicht dazu da, lebensunfähigen Menschen ein wohlfeiles Trug- und Ersatzleben zu liefern. Im Gegenteil, Bücher haben nur einen Wert, wenn sie zum Leben führen und dem Leben dienen und nützen, und jede Lesestunde ist vergeudet, aus der nicht ein Funke von Kraft, eine Ahnung von Verjüngung, ein Hauch neuer Frische sich für den Leser ergibt.« Hermann Hesse
Ich bin Geisteswissenschaftlerin. Bücher, Essays, (Fach-)Zeitschriften, Aufsätze, Hausarbeiten, in meinem Falle auch Klavierauszüge oder Partituren. Schrift und das Lesen selbiger bestimmten meinen (Studien-)Alltag.
Doch irgendwann gingen mir die Lust und die Leichtigkeit des Lesens verloren. Lesen war (wissenschaftliches) Mittel zum Zweck, diente der Beschaffung von Wissen. Die Texte, die ich las, wurden immer komplexer und komplizierter, eine gleichermaßen durchaus spannende wie zermürbende Zeit.
Irgendwann scheute ich das Lesen zur (vermeintlich) reinen Zerstreuung. Standen nicht Brahms, Beethoven oder Bach auf dem Titel, erschien es mir wie ein Verrat an der Zeit, die ich zum Studieren nutzen sollte.
Irgendwann erzählte ich davon einem mir sehr geschätzten Dozenten aus meiner Bayreuther Studienzeit, der einigermaßen erstaunt, wenn nicht gar empört reagierte. Und er sagte etwas, was mir eigentlich hätte klar sein sollen. Dass jedes Buch, möge es auch noch so trivial erscheinen, unseren Horizont erweitere. Ja, so einfach kann es manchmal sein.
Jeder Krimi, jede Biografie, jeder Liebesroman, jede Fantasiegeschichte oder jeder Reisebericht erweitere meinen Blickwinkel. Natürlich, die eine Geschichte vielleicht mehr als die andere, aber selbst wenn ich erkenne, dass ich in einem Buch nichts erkenne, so bin ich damit schon weiter als ohne es gelesen zu haben. Und so läge es an mir, das Buch in meinen Bezugsrahmen zu setzen, Neues zu erkennen, Altes zu bestätigen oder zu widerlegen. Und außerdem, ergänzte er, täte es dem Hirn auch einfach mal gut, keinen Berg zu erklimmen, sondern nur geradeaus zu laufen.
Dieses Gespräch gab mir die Freude am Lesen zurück. Und das (Selbst-)Bewusstsein, dass alles, was ich lese, ob Adorno oder Agathe (Christie) auf dem Umschlag steht, mir eine Welt offenbart, die mir ohne das Lesen verborgen bliebe.
Noch heute bildet das Lesen eine Grundlage meines Berufes, und meines privaten Seins. Und tatsächlich erkenne ich, mit kleinen Abstrichen hie und da, in jeder Lektüre etwas, das sich auf die vielseitigen Aspekte des Theaterschaffens übertragen lassen. Sei es politisch, soziologisch, historisch oder manchmal auch humoristisch.
Lesen verbindet, es verbindet uns als Gesellschaft, es gibt Anlass zum Diskurs, zur Diskussion, zum gemeinsamen Reden, Streiten, Lachen oder vielleicht auch Weinen. Und so habe ich meine Kolleginnen und Kollegen gefragt, was sich so auf ihrem Bücherstapel sammelt.
Den Anfang macht Chefdramaturg Horst Busch:
Zum Ende der Spielzeit werden die Bücherstapel auf meinem Schreibtisch, im Wohnzimmer und neben dem Bett immer höher. Ferienzeit heißt für mich auch Lesezeit und so freue ich mich u.a. auf die Lektüre ABENDFLÜGE der englischen Autorin Helen Macdonald. Schon die erste Erzählung „Nester“sensibilisiert für die gleichermaßen bedrohte wie rettende Verbindung von Mensch und Natur. »Sich an der Komplexität der Dinge zu erfreuen.« – Was für eine wunderbare Einladung!
Aber auch auf das neuste Buch Bernd Stegemanns ..DIE ÖFFENTLICHKEIT UND IHRE FEINDE wurde von mir ganz nach oben auf den Lektürestapel gelegt. Von seinen Reflexionen über Kommunikation, Gesellschaft und Öffentlichkeit verspreche ich mir interessante Anregungen für die kommende Theatersaison mit unserem Spielzeitmotto IN GESELLSCHAFT!
Und natürlich stehen diverse Werke des Autors Friedrich Dürrenmatt auf meiner Leseliste. Als Vertiefung unserer Auseinandersetzung mit seiner tragischen Komödie DER BESUCH DER ALTEN DAME kann ich seine Erzählung MONDFINSTERNIS nur empfehlen.
Für unsere neue Kollegin in der Musikdramaturgie Anna Maria Jurisch geht es im Sommer vom fernen Linz nach Saarbrücken. Zeit zum Abschiednehmen:
Da ich nach 10 Jahren in Österreich nach Deutschland zurückkehre, ist Daniel Wissers Roman »Wir bleiben noch« mein persönlicher Abschied von einem wunderbaren, komplexen Land: Eine Familienerzählung, die auch die Erzählung der Sozialdemokratie in Österreich ist, die auch die Erzählung von der Macht der Boulevardpresse und vom politischen Rechtsruck Österreichs ist. Bei Daniel Wisser dürfte das aber keine trockene Lektüre werden, sondern sehr komisch, einfühlsam und berührend. Sein letzter Roman »Königin der Berge« war eine Achterbahn der Gefühle für mich und ist eines meiner liebsten Bücher.
Der Sommer ist durchaus auch die Zeit des Zugfahrens:
Lorraine Daston ist Direktorin des Max Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und eine wahnsinnig spannende Denkerin. »Against Nature« stellt die Frage, warum wir als Menschen mit solcher Hingabe nach (moralischen) Vorbildern für unser Denken und Handeln in der Natur suchen, warum wir unsere Vorstellungen von Gesellschaft, Anstand und Rationalität einordnen in eine Form der »natürlichen Ordnung«, also zwischen natürlich und unnatürlich entscheiden. Es ist ein kleines, schmales Buch, das wahrscheinlich auf einer langen Zugfahrt seine Chance findet, vermutlich keine ganz leichte Lektüre, aber ein vielleicht toller Denkanstoß.
… und des Reisens:
Für mich ist der Sommer die Zeit für Reiseliteratur, am besten natürlich auch etwas über die Gegend, in die man selbst reist. Nun ist Graham Greene in den 1930er Jahren zu Fuß durch Liberia gereist – das werde ich nicht so schnell nachmachen, aber das Gefühl von Aufbruch und Entdecken eines fremden Landes, das Sich-dem-Unbekannten-Aussetzen ist für unsere Zeit sicher wichtig und inspiriert mich im Moment.
(Graham Greene hat die Reise mit seiner Cousine unternommen, die ihren eigenen Reisebericht darüber veröffentlich hat, aber das Buch ist überall vergriffen, vielleicht finde ich es ja bis zum nächsten Sommer!)
Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb hat empfiehlt:
Diese Sprache bringt eine ungekannte Welt hervor. Wunderlich. Dicht. Eine Autorin mit einem traumsicheren Sprachgefühl, nannte die Kritik Iris Wolff. Eine andere Perspektive auf Gemeinschaft und Welt: Sieben Figuren im Siebenbürgen des vergangenen Jahrhunderts – radikal subjektive Gedankenwelten verweben sich zu einem Sound einer vergangenen deutschen Kultur inmitten des Vielvölkerstaats Rumänien. Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2020.
»Es gab Sehnsucht nach etwas, das verloren war, Sehnsucht nach etwas, das sich nicht erfüllt hatte, Sehnsucht danach, etwas zu finden, und manchmal auch danach, etwas zu verlieren.«
Leïla Slimani, Le pays des autres / Das Land der Anderen, Luchterhand Literaturverlag 2021
Diese Reise geht in die Zeit der marokkanischen Unabhängigkeit nach Marokko – hier ist einmal die Europäerin in der Fremde. Auf diese Perspektive freue ich mich.
Schauspielerin Verena Bukal schließt sich diesem Tipp an, auch auf ihrer Leseliste steht »Das Land der Anderen«:
Dieses Buch nehme ich mit auf Urlaub. Der neue Roman von Leila Slimani – eine französische Frau folgt ihrem marokkanischen Mann nach Marokko und erlebt »Integration von der anderen Seite«. Es ist als Beginn einer Trilogie gedacht.
Benjamin Jupé, Solo-Cellist des Saarländischen Staatsorchesters, hat einen Tipp für Fans der Barockmusik oder alle, die es werden wollen:
Dieses Buch ist eine super Quelle um ein Verständnis zu entwickeln, wie vielseitig das Vibrato in der Barockmusik eingesetzt wurde. Gründlich widerlegt das Buch die unter Musikern verbreitete Annahme, Vibrato sei eine Erfindung der Romantik. Original Zitate belegen: zu jeder Zeit wurde vibriert und über den Vibrato Geschmack gestritten. Eine sehr bereichernde Lektüre!
Unser Studienleiter Martin Straubel empfiehlt hingegen…
Mein Lese-Tip für die Ferien: gar nicht lesen, sondern schreiben. Zum Beispiel mit Hilfe des Adorno Textgenerators.
Aus Thorsten Köhlers Büchstapel, Leiter der sparte4 und Schauspieler, stechen zwei Bücher besonders hervor:
Kazuo Ishiguro: »Klara und die Sonne«
In Ishiguros Roman denkt eine Künstliche Intelligenz sehr poetisch über das Leben und die Menschen nach. Klara, entwickelt für Jugendliche, ist eine Art beste Freundin auf dem Weg ins Erwachsenenalter, und eben darin problematisch: denn wie soll ein Spielzeug reagieren, welches Freundschaft und Liebe empfinden kann, wenn man es ablegt, weil man ihm entwachsen ist?
und
Charlie Kaufman: »Ameisig«
Kaufmans AMEISIG füllt die Lücke, die Foster-Wallace hinterlassen hat. Ein epischer Roman für Cineasten, und Filmliebhaber wie -hasser gleichermaßen – abgehoben, unanständig, ätzend und lustig zugleich – wer Kaufmans Filme wie ADAPTION, BEING JOHN MALKOVICH oder ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND liebt, wird seinen Debütroman verschlingen. Deutschlandfunk Kultur: »…von einer kosmischen Chuzpe.«
Auch aus dem Vorzimmer des Generalintendanten kommen Literaturtipps. Sekretärin Christine ter Braak und Ehemann Gerd ter Braak empfehlen Katzen, Geheimnisse und 1 Minute für sich:
»Gespräche mit meiner Katze« von Eduardo Jáuregui
Wer mich kennt, weiß, dass ich ein absolutes Fable für Katzen habe, was natürlich bedeutet, dass ich Euch eine entsprechende Lektüre empfehle. Mir wurde das Buch von einem Menschen geschenkt, der Katzen überhaupt nicht mag. Aber er hat sich überwunden und ein Katzenbuch gekauft, weil er e mir eine Freude machen wollte. Sehr nett. Nicht wundern, die Katze im Buch – SIBILA genannt – kann reden. Aber ehrlich gesagt, habe ich oft das Gefühl, dass meine beiden Katzen auch mit mir reden. Im Buch heißt es, »Es gibt viele Wege zum Glück, aber Katzen kennen die besten Abkürzungen.« Viel Spaß beim Lesen. Christine ter Braak
»Das Erbe« von Ellen Sandberg empfiehlt Gerd ter Braak:
Eine lesenswerte Sommerlektüre: Eine junge Frau aus Berlin erbt überraschend ein Haus in München – ein Vermögen. Aber das Haus birgt ein dunkles Geheimnis: ein spannender Roman um Vertrauen, Gier, Moral und um den eigenen inneren Kompass.
Der Urlaub kann außerdem für bewusste Zeit mit sich selbst verbracht werden, Selbstfürsorge lautet ein Wort der Stunde (oder Minute):
»Eine Minute für mich« von Spencer Johnson
Ein kleines Buch – keine schwere Kost, leicht zu lesen – über den Umgang mit sich selbst und auch mit anderen Menschen. Das Buch hilft, einmal deinen Blickwinkel auf das, was dich ärgert, zu ändern, wodurch vieles leichter wird. Man kommt zu einem Bewusstsein wie, »ich trage die Antwort in mir« oder »der Frieden beginnt bei mir«. Was will man mehr! Christine ter Braak
Schauspielerin Christiane Motter verschlägt es mit Michail Bulgakows »Der Meister und Margarita« literarisch nach Moskau:
Ein aberwitziger Roman, der mich mit seinen drei Strängen über einen Schriftsteller und seine Geliebte, Pontius Pilatus und über das Leben in Moskau in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts in seinen Bann zog. Verwirrend, satirisch, berührend, zauberhaft, perfekt fürs Abtauchen aus der (Corona-) Realität in eine andere Welt. Viel Freude beim Wegdriften.
Für Sopranistin Valda Wilson hält die kommende Spielzeit wieder spannende, aber durchaus streitbare (Frauen-)Figuren bereit. Zeit, sich mit dem Frauenbild in Opern auseinanderzusetzen:
Schauspielerin Emilie Haus bereichert ab der nächsten Spielzeit unser Schauspielensemble und empfiehlt folgende Werke:
Tieftraurig und amüsant über die Gesundheit und Ängste eines Schauspielers.
oder auch
Ein humorvoller Roman über linksliberale Hausprojekte, Kommunikation und das Ziel einer gerechteren Welt. Beides für mich bewegende Themen.
Betriebsdirektor Alexander Reschke ist Spezialist für CD-Aufnahmen und Opernstimmen. In Vorbereitung für unsere erste Premiere in der Sparte Musiktheater »Ariadne auf Naxos« haben ihn folgende Sängerinnen besonders geprägt:
Die beste Zerbinetta des 20. Jahrhunderts ist für mich Edita Gruberova. 100 Mal hat sie diese Partie gesungen.
Meine Lieblings Ariadne Tomowa Sintow (für mich auch die mit der größten Leidenschaft und Emphase), auch meine erste Live Ariadne 1983 (insgesamt 4 x Live bis 1991).
Mit der folgender Aufnahme bin ich aufgewachsen. Kempe einer wichtigsten Strauss Dirigenten. Besetzung durchwegs sehr gut und homogen. Besonders auch hier Ariadne und Zerbinetta. Aufnahme von 1968.
Schauspieler Fabian Gröver rechnet ab, zumindest beim Lesen Sibylle Bergs:
Eine pointierte, ehrliche, böse und auch verständnisvolle Abrechnung mit einer Gesellschaft, die wir nicht verhindern konnten oder wollten. Ist für Leser*innen verschiedener Generationen geeignet und bietet ein Erregungspotential von Heiterkeit bis Trübsinn. Die Sprache ist teilweise komplex bis herausfordernd, aber immer eine Freude!
Der 1. Konzertmeister des Saarländischen Staatsorchesters, Wolfgang Mertes, begibt sich mit Gustav Mahler auf dessen letzte Reise. Wie treffend, dass wir im 7. Sinfoniekonzert Mahlers 7. Sinfonie spielen.
Über die letzte Schiffsreise Gustav Mahlers als dahinsiechender kranker Mann, der sein Leben Revue passieren lässt.
Auf der Bestseller-Liste des Schauspielers Jan Hutter findet sich der ein oder andere Klassiker:
»Freiheit« von Jonathan Franzen (der langweiligste Klappentext aber das beste Buch).
»Liebe in Zeiten der Cholera« von Gabriel García Márquez (für alle die, die wie ich davor, nicht an die grosse Liebe glauben, aber gerne eines Besser belehrt werden wollen) .
»IT« von Stephen King (ein unverfilmbares Buch, das neben dem Horror der Kleinstadt & des Erwachsenwerdens, locker lässig und ganz nebenbei, ein Buch über Freundschaft ist. Spoiler: Ein Clown kommt auch vor.)
Schauspieldramaturgin Simone Kranz fesselte zuletzt die Biografie Anne Beaumanoirs:
Was bringt einen dazu, sich politisch zu widersetzen und welchen Preis zahlt man dafür? Fasziniert von der Biographie der 1923 in der Bretagne geborenen Anne Beaumanoir, die sowohl während der deutschen Besatzung in der Résistance gekämpft hat, als auch in den fünfziger Jahren in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung, erzählt Anne Weber von ihrer Begegnung mit dieser Frau. Wunderbar an diesem Buch ist auch und besonders die Form: Es ist tatsächlich im epischen Versmaß geschrieben, doch nach 2-3 Seiten hat man die Verwunderung darüber vergessen und genießt nur noch die Schönheit und Leichtigkeit der Sprache.
Schauspieler Bernd Geiling empfiehlt eine mörderisch-gute Trilogie:
Der mörderische Hof Heinrichs des Achten aus der Sicht Thomas Cromwells, eines begnadeten politischen Aufsteigers und Intriganten.
Wie der Engländer sagt: »Unputdownable!«
Auch der Bücherstapel Christine Asts, Souffleuse, ist hoch:
Fabio Andina »Tage mit Felice«
Dieses Buch spielt in einem Bergdorf im Tessin, und alles dreht sich um den 92-jährigen Felice und dessen Anbindung an die Dorfgemeinschaft. Er wandert jeden Morgen zu einer Gumpe und springt ins kalte Wasser. Begleitet wird er eine Woche lang vom Autoren/literarischen Ich, der als Kind, in der Stadt aufgewachsen, die Ferien mit seinen Eltern in Felices Dorf zugebracht hatte. Als Schriftsteller zieht er sich nun in diese dörfliche Gemeinschaft zurück, ins ehemalige Ferienhaus seiner Eltern, und wird so zum Nachbarn von Felice.
Nachdem ich »Bouches les Rouges« gesehen habe, griff ich ein zweites Mal zu »Fräulein Nettes kurzer Sommer« von Karen Duv.
Ein entscheidender Sommer im Leben der Anette von Droste-Hülsoff – Autoren der Romantik (Brüder Grimm, Heinrich Heine) und literarisch- patriotische Studentenkreise bilden den Hintergrund zu einer Emanzipationsgeschichte, die in einen Skandal mündet.
»Das Leben der Elena Silber« von Alexander Osang
Ein Drei- Generationen-Roman: ich habe mich sehr vertraut gefühlt mit den lakonischen und schmerzhaften Auseinandersetzungen des literarischen Ichs mit seiner Mutter, seinem demenzkranken Vater. Und dann rollt er die Geschichte seiner Großmutter, seiner Mutter und seiner vier Tanten für ein Filmprojekt auf. Der Roman pendelt zunehmend zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit. Toll!
Gertrud Leutenegger, »Pomona« und »Späte Gäste«
Diese beiden Romane gehören zusammen, der erste 2004 erschienen, der zweite, die Fortsetzung, wurde 2020 herausgegeben.
Wir befinden uns im südöstlichsten Zipfel des Tessins, schon fast in Italien. Die Autorin erzählt ihrer Tochter das Leben ihrer Mutter (Großmutter), der eigenen Kindheit und schiefgelaufenen Ehe. Also quasi als Erklärung dafür, warum ihr Mann (Vater) im Dorf geblieben ist und sie mit ihrer Tochter in die Großstadt (Zürich?) gezogen/ geflohen ist. Im zweiten Band kommt sie zurück ins Dorf, da ihr Exmann gestorben ist. Es ist die poetische Schreibweise der Autorin, ihre Assoziationsketten, ihre fast haptische Beschreibung zweier Dörfer – ich konnte die Naturphänomene riechen, schmecken, spüren.
Sänger Algirdas Drevinskas verbindet mit einem Buch eine ganz besondere Zeit seines Lebens:
Das Buch von Alexandra Wild »Zu Mittag um zwölf war alles erledigt« (edition keiper, Graz 2020) habe von meinen damaligen Unterstützern während meiner Studien an der Kunst Universität Graz bekommen: noch eine traurige österreichisch-slovenische Familiengeschichte die bestätigt, dass die Menschen KEINE Kriege brauchen.
Es geht um die Jahrzehnte lange Suche des (Grabes) vermissten (ermordeten) Vaters am Ende des 2 Weltkrieges.
Schauspielerin Laura Trapp empfiehlt 105 intensive Seiten von Carolin Emcke:
»Was wäre, wenn?«, das frage ich mich oft. Und der Gedanke, im Jenseits gäbe es eine Bibliothek mit all den Leben, die ich hätte führen können, Buch für Buch, ist beängstigend und faszinierend zugleich. Matt Haig schickt seine Protagonistin Nora Seed auf eben genau diese Reise in seinem Roman »Die Mitternachtsbibliothek«.
In den Spielzeitferien geht es für viele von uns nach Hause. Aber was bedeutet das eigentlich, »Zuhause«? Ein Ort? Ein Mensch? Ein Hund? Was macht uns aus, wo gehören wir hin? »Über eine Sehnsucht und die vielleicht wichtigste Suche unseres Lebens« schreibt Daniel Schreiber in seinem essayistischen Roman:
Wir wünschen Ihnen einen schönen Lese-Sommer, viel Freude beim Entdecken neuer (literarischer) Welten. Vielleicht finden Sie ja in der einen oder anderen ein neues Zuhause.
Frederike Krüger, Dramaturgin für Musiktheater und Konzert