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Auf ein Wort Theaterblog

»NUR DIE KUNST RETTET DIE WELT.«

Algirdas Drevinskas – 30 Jahre auf den Brettern, die die Welt bedeuten – Ein Porträt.

Für Algirdas Drevinskas sind – neben seiner Familie – das Theater und die Musik in der Tat die Welt. Sie bestimmen sein Leben. Seit 30 Jahren agiert der Tenor nunmehr auf den vielbeschworenen Bühnenbrettern. Man sieht es im Gespräch an seinen strahlenden Augen, wenn er sich an Partien erinnert, die er gesungen und von Begegnungen mit Regisseuren, Lehrern und dem Publikum berichtet, dass dieses Tenor-Herz für das Theater, für die Musik – besonders die von Mozart – schlägt.

Baron Kronthal in Lortzings »Der Wildschütz«.

Im kleinen Dramaturgiebüro sitzen wir im gebührenden Corona-Abstand einander gegenüber, zudem mit Atemschutzmasken versehen, und dennoch sprüht Algirdas geradezu und berichtet voller Leidenschaft. Dieses Bühnenleben erfüllt ihn auch nach dreißig Berufsjahren noch und macht ihm Spaß wie am ersten Tag, den er auf der Bühne stand.

Im litauischen Biržai fing alles an, dort erblickte er das Licht der Welt und die Liebe zur Musik wurde ihm geradezu in die Wiege gelegt. Voll liebevoller Erinnerung berichtet Algirdas von seiner Mutter, ihrer Gesangstimme, dem wunderschönen natürlichen Vibrato und warmen Timbre. Sie sang, als sie mit ihm schwanger war, in einem Frauenensemble, er glaubt, sie hat die ganze Zeit gesungen, und Algirdas ist sich sicher, dass seine Mutter ihm so die Liebe zum Gesang zusammen mit dem Leben geschenkt hat.

Orpheus in »Orphée aux enfers«.

Schon im Kindergarten, alle anderen Kinder haben sich geniert, stellte sich der Bube hin und sang frei heraus. Eine Lehrerin der Kindermusikschule bot den Kindern der Grundschule, die sich gern musikalisch betätigen möchten, eine Aufnahme in die Musikschule an. Zu Hause eröffnete Algirdas seiner Mutter, dass er da unbedingt hin möchte.

Die Mutter brachte alles auf, um dem Jungen, der natürlich die Aufnahmeprüfung mit Bravour bestanden hatte, die Ausbildung zu ermöglichen. Schon als Kind hatte Algirdas immer wieder in Konzerten gesungen, war im Litauischen Fernsehen zu erleben und hatte an etlichen Wettbewerben teilgenommen. Er berichtet, dass Frauen Tränen in den Augen hatten, als sie ihn als Buben singen hörten. Für ihn war es aber das Normalste von der Welt, auf dem Konzertpodium zu stehen und zu singen und natürlich, er hat die Anerkennung auch sehr genossen.

In Beethovens »Fidelio«

Dann kam naturgemäß der Stimmbruch als eine Tragödie auf ihn zu, von seinem wunderschönen 1. Diskant war erst einmal nichts mehr übrig. Algirdas war dankbar für die erfüllten Jahre, war sich aber sicher, dass es das nun war mit dem Singen. Der Direktor der Musikschule hielt aber an dem Jungen fest, er bot ihm Dirigierstunden an und Algirdas durfte sogar den Chor der Kindermusikschule dirigieren und das Klavierspiel erlernen. Das war die wichtigste Vorbereitung für seinen weiteren Weg.

In Memel am Konservatorium hatte er dann die Aufnahmeprüfung für das Chordirigat gemacht. Jeder Chordirigent hatte freilich auch Gesangsunterricht. Algirdas erinnert sich: »Da war ein Gesangslehrer, ein ganz dicker Bariton, der sagte zu mir: >Junge, ich will dich nicht verwirren, aber du könntest singen.< Das hat mir gereicht, diese Bestätigung, dass dieser Profi dies zu mir sagte, und es so ernst meinte. Ich habe dann das Jahr noch zu Ende studiert und habe mich vorbereitet für die Aufnahmeprüfung für den Gesang.«

Manchmal denkt er »Mein Gott, ich kann nichts anderes als Singen«, aber genau das war immer sein Traum, seit er denken kann: Singen.

»Der Freischütz« von Carl Maria von Weber.

Natürlich gab es Höhen und Tiefen. »Jeder Sänger hat einmal in seinem Leben eine stimmliche Krise« meint Algirdas. Ein erster Schock war, als er während des Studiums plötzlich permanent furchtbaren Schleim im Hals hatte, es war mal besser, mal schlechter.

Jahre später, 2003 – er war bereits am Saarländischen Staatstheater engagiert – bereitete er die Partie des Belmonte vor. Seine von ihm sehr verehrte Studienleiterin Anne Champert freute sich bereits auf seine Interpretation: »Algis, ich freue mich schon sehr auf deinen wunderschönen Belmonte«.

Doch nach diesem Satz verschwand bei ihm die Stimme sukzessiv. Es wurde ein Gast als Ersatz geholt. »Ich konnte in der Sitzprobe nicht mehr singen, überhaupt nicht.« Nach einer Odyssee von vielen Arztbesuchen stellte sich heraus, dass eine Weizenallergie die Ursache für den Stimmverlust war.

Die Rückkehr nach neun Monaten auf die Bühne war für Algirdas wie die Neugeburt seiner Stimme. »Zum Glück hatte mein Intendant Kurt Josef Schildknecht Geduld. »Als er mich zu sich bat, dachte ich, das war es jetzt, aber er sagte: >Herr Drevinskas, jeder Sänger hat mal eine Krise, Sie haben jetzt Ihre, stehen Sie das durch, bleiben Sie tapfer.< Ich hätte ihm auf Knien danken mögen.«

Als Graf Almaviva.

Jungen Sänger*innen kann er nur raten, auch nach Allergien zu forschen. Auf meine Frage, was er weiterhin Gesangsstudent*innen mit auf den Weg geben möchte, war Algirdas das Wichtigste das Finden des passenden Gesangslehrers. »Bei einem Rubbellos kannst du eher einen Hauptgewinn finden, als bei der Gesangslehrerwahl den Richtigen. Im Nachhinein kann ich nur sagen, es ist einfach Glück, den Passenden zu finden. Sicher muss man wissen, was man will und muss auch selbst merken, ob es passt. Es gibt Lehrer, die loben dich vom ersten Tag an, aber damit kommst du meiner Meinung nicht weiter. Mein heißgeliebter Lehrer und >Vater<, Prof. Josef Loibl (bei ihm studierte Algirdas Drevinskas ab 1993 in Graz an der Kunst Universität Gesang) verlangte so viel und war so hartnäckig im positiven Sinne … «

Er erzählt die Geschichte, wie er zu ihm kam, die auch an ein kleines Wunder grenzt. Die Sowjetunion war gerade 1991 zusammengebrochen, er musste sein Visum nach Graz in Moskau beantragen, die Fahrtkosten auftreiben … Violeta Urmanavičiūtė war es, die ihm half. »Ich habe immer in meinem Leben Menschen getroffen, die plötzlich da waren, als ich schwach war und jemanden brauchte. Ich vertraue dem Universum, dass im wichtigen Moment jemand da ist, der hilft, wie mein Prof. Loibl, der mir den musikalischen Himmel geöffnet hat … Wenn man so einen Lehrer findet, dann muss man dem treu bleiben. Es kann auch sein, dass man auf ein falsches Pferd setzt, das ist dann eine Tragödie, ich hatte großes Glück. Er war für mich Professor, Vater, Mentor, alles in einem … Überhaupt, ich bin eine so treue Maus. Ich bin dem Saarland treu, weil ich vom ersten Tag an spürte, dass das hier ein tolles Haus ist, es gibt eine wunderbare herzliche Atmosphäre und das war hier immer so. Man kann sich hier entwickeln.«

Als Duschmanta.

Nicht nur in Pascals Dusapins Oper »Macbeth Underworld«, in der Algirdas Drevinskas zur Zeit als Porter auf der Bühne steht, zeigt der Tenor eine ungeheure Wandlungsfähigkeit, Spielfreude und Mut zur Skurrilität.

Algirdas gibt zu, dass da eine gewisse Portion Naturtalent dabei ist, lobt aber die unglaublich gute Ausbildung auch im schauspielerischen Bereich in Litauen vor allem im Vergleich zu der, die er in Österreich bekam. »Ich bekam ein gutes Instrumentarium in meinen Koffer … Bei einem Sänger muss auch Schauspiel dabei sein. Wir sind quasi singende Schauspieler. In Italien, in Florenz, war ich in der Oper und war so enttäuscht. Alle Sänger gingen mit ihrem hohen Ton einfach so an die Rampe und dann wieder weg in die Bühne. Ich dachte, ich glaube nicht, was ich da sehe, aus der Rolle in den Ton und dann wieder zurück.«

Eines seiner schönsten Erlebnisse in Saarbrücken und überhaupt war unter der Intendanz von Dagmar Schlingmann, sie war ja auch Schauspielregisseurin. Sie hatte einen »Barbier« herausgebracht, der acht Jahre lief. »Ich war der Almaviva, ursprünglich mit meiner Frau Elizabeth (Wiles) und die Produktion war wie für uns zugeschnitten. Wir hatten so einen Erfolg, und die Produktion lief und lief.«

Einen ähnlichen Erfolg hatte der Sänger, als er – wieder gemeinsam mit Elizabeth Wiles – in der »Zauberflöte« über viele Jahre als Tamino auf der Bühne des Saarländischen Staatstheaters stand. Zehn Jahre stand diese Produktion auf dem Spielplan.

Als Belmonte in Mozarts »Die Entführung aus dem Serail«.

Und die gemeinsamen Kinder, wollen die in die Fußstapfen ihres Vaters treten? »Unsere Kinder Julius und Clara besuchen fast jede Inszenierung. Sie waren selbst in so einer nicht ganz einfachen Produktion wie >Der Sturm< und wollten die Oper wieder und wieder sehen. Sie kamen in die Premiere und kamen noch dreimal. Das macht mir Hoffnung, dass sie auf jeden Fall auch als Erwachsene theaterbegeistert sein werden, auch wenn sie dann vielleicht nicht den Beruf ergreifen wollen. Für mich ist dies das Wichtigste. Ich finde, nur die Kunst rettet die Welt und Gesang sowieso und die Musik allgemein.«

Wenn Algirdas Drevinskas in Dusapins »Macbeth Underworld« als Porter auf der Bühne steht, wird das seine 104. Rolle sein. Als er in der Probe auf der Bühne in der Röhre über den Tiefen der Unterwelt stand, sprich über dem heruntergefahrenen Hubpodest, wurde mir allein vom Zuschauen schwindelig.

Algis als ehemaliger Flieger und Fallschirmspringer aber ist schwindelfrei, er weigerte sich zunächst, sich absichern zu lassen, er fand es wirksamer, so freistehend vor dem Abgrund zu sein. Natürlich kam er damit nicht durch. Auf jeden Fall ist der Porter eine Rolle, die er mit Begeisterung mitkreiert hat. »Weißt du«, sagt er mir, »eigentlich ist das die schönste Partie. Hast du das mitgekriegt?«

In Pascal Dusapins »Macbeth Underworld«.

»Wenn man fest am Haus ist, bekommt man kleine, große, lustige, ernste Rollen, alles mögliche und eigentlich habe ich jede Richtung gern genommen. 103 Partien auf der Bühne ist eine Bagage, die habe ich gemacht und das ist eine Lebensleistung. Manche singen, wenn sie Glück haben, nur fünf oder zehn Jahre. Ich singe nun schon 30 Jahre.« Und er zitiert seinen Lehrer: »Wissen Sie Algis, mit der Natur singt man bis 35, dann braucht man schon die Technik.«

Algirdas zeigt mir voll Stolz als Zeitdokument die Titelseite eines Klavierauszuges von »Die Fledermaus«. Alle seine Freunde hatten anlässlich seines ersten Schrittes auf der professionellen Bühne am 9. 5.1991 eine Widmung darauf geschrieben.

Was ihn in seinem Beruf fit hält, sind die Natur und auch der Sport. In der Zeit der Stimmkrise hatte er das Joggen für sich entdeckt. »Ich habe gemerkt, wenn man irgendwelche Probleme hat, beim Joggen kommt alles raus, man verarbeitet seine Probleme. Es ist für mich wie eine seelische Reinigung.«

Auf meine Frage nach einer Partie, die noch auf seiner Wunschliste steht, kam als Antwort: »Ich nehme alles dankbar an, was kommt. Hauptsache, ich stehe auf der Bühne.« Und völlig frei von Neid folgte: »Leider Gottes sind zwei der besten Ensemblemitglieder im neuen Ensemble hier gerade die Tenöre. Ich schätze Angelos sehr und ich liebe geradezu Sung min Song. Ich habe viel gehört, glaube mir, aber so eine göttliche Tenorstimme habe ich wirklich noch nie gehört. Er ist der einzige, bei dem ich mich, wenn ich ihn höre, entspanne. Sonst analysiert man immer. Ich kann gar nicht böse sein, dass er irgendeine Partie, die ich wollte, bekommt.«

Als Ferrando in Mozarts »Così fan tutte«.

Aber von allen Partien haben es Algirdas die von Mozart am meisten angetan. Als er auf Mozart zu sprechen kommt, leuchten seine Augen noch mehr. »Mozart ist für mich das Genie Nummer Eins der Musikwelt. Ich denke, der hatte einen Draht zu Gott. Vielleicht wusste er es selber nicht. Du kannst diese Genialität nicht erklären. Alles passt. Wenn ich an Mozart denke, bekomme ich Gänsehaut. Und auch, wenn man nicht gläubig ist, in dem Moment, wo man Mozart hört, wird man es … Mein Professor sagte: >Algis, wer Mozart singen kann, kann alles singen.<

Warum? Du kannst den Mozart nicht plärren, du musst dich konzentrieren, die Linie führen, die Tessitur halten. Das gibt es quasi kaum bei anderen, das, was Mozart verlangt. Der war genial, seine Musik ist genial, seine Musik verlangt von einem Sänger Kongenialität, wenn du das anständig machen willst.

Mein Ziel ist es, kultiviert, diszipliniert, schön, mit Seele und mit Herz zu singen – Schauspiel noch dazu. Die Rolle des Basilio verfolgt mich, ich habe schon fünfmal Basilio gemacht, jedes Mal anders. Der letzte hier (Inszenierung: Eva Maria Höckmayr) war ganz besonders.

Die Regisseure sehen meine Freude, zu spielen – lustlos, das gibt’s bei mir nicht –  und sie denken, das muss ich nutzen. Auch beim Porter in »Macbeth Underworld«, da gab es am Anfang bei mir Skepsis, was will der Fioroni (Regisseur »Macbeth Underworld«), ich sagte erst einmal nichts, dann schlief ich darüber und ich dachte nach, warum liest er die Rolle so, was will er damit? Dann – natürlich! So meint er das und das ist dann noch stärker und ich merkte, das ist genial. Spielfreude habe ich genug, ich muss nur aufpassen, dass es nicht zu viel wird. So gehe ich durch die Bühne seit 30 Jahren, die Freude ist immer noch da, das Glück ist auch auf meiner Seite. Was ich mir wünsche? Ich wünsche mir noch schöne Fachpartien in den nächsten Jahren.«

Als Tichon in Leoš Janáčeks »Katja Kabanová«.

Renate Liedtke,
Musikdramaturgin

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Hinter dem Vorhang

Früher gab es viele Theater in Venezuela

Der Kostümbildner Alexander Djurkov Hotter wurde in Venezuela geboren. Am Saarländischen Staatstheater gestaltete er in der Spielzeit 2019/20 die Kostüme für »Die kleine Meerjungfrau« und »Amadeus«, in der Spielzeit 2020/21 das Kostümbild für »Im weißen Rössl«. Christina Klein und Simone Kranz sprachen im Januar 2020, also noch vor der globalen Ausbreitung der Corona-Pandemie, mit ihm.

Kostümbildner Alexander Djurkov Hotter. Foto © Felix Grünschloß.

Nachdem du 2010 nach Deutschland gekommen bist, hast du zunächst Architektur an der TU in Berlin studiert. Wie bist du dann dazu gekommen, Kostümbildner zu werden?

Ich habe mich schon immer für Kleidung interessiert. Allerdings war es in Südamerika, wo ich geboren bin, für einen Mann nicht üblich, einen Beruf auszuüben, der feminin belegt ist, wie z.B. Modedesign oder Kostümbild.
Davon abgesehen wusste ich, bis ich vor 10 Jahren nach Europa gezogen bin, nicht, dass es den Beruf Kostümbildner/ Kostümbildnerin überhaupt gibt. Selbst Modedesign galt bei uns nicht wirklich als Beruf, sondern als Zeitvertreib bis zur Heirat für Töchter aus besseren Familien. Meine Eltern hätten eine Ausbildung in die Richtung damals wahrscheinlich auch gar nicht zugelassen. Somit blieb einem homosexuellen Jungen in Venezuela, der etwas mit Design machen möchte, nur noch ein Architekturstudium.
Obwohl ich eigentlich schon einen Studienplatz an der Zentraluniversität in Venezuela hatte, haben mir meine Eltern dann wegen der politischen Situation vorgeschlagen, in Deutschland zu studieren. Ich bin dann nach Deutschland gegangen, doch das Architekturstudium an der TU in Berlin war sehr technisch und nicht so künstlerisch ausgerichtet wie man es von Venezuela her kennt.
Nach einem Jahr wollte ich etwas anderes machen. Zuerst habe ich über Modedesign nachgedacht, deswegen kehrte ich nach Venezuela zurück, um 4 Monate lang bei einem Modedesigner ein Praktikum zu machen. Auf seine Empfehlung hin, entschied ich mich, erstmal eine Maßschneider Lehre zu absolvieren, um das Handwerk zu erlernen.
Gleich zu Beginn meiner Ausbildung im Atelier »das Gewand« in Düsseldorf erfuhr ich, vom Beruf des Kostümbildners/ der Kostümbildnerin. Dort kam ich mit dieser Welt zum ersten Mal in Berührung.
Nach meiner Ausbildung begann ich an diversen Theatern zu hospitieren und eine Bewerbung an der Universität der Künste in Berlin stand an. Aber irgendwann habe ich dann Moidele Bickel (Moidele Bickel (*1937 – † 2016) gilt als eine der wichtigsten Kostümbildnerinnen ihrer Zeit. Sie wurde besonders durch ihre Zusammenarbeit mit Peter Stein an der Berliner Schaubühne berühmt, arbeitete später aber auch international und stattete zahlreiche Filme aus.  Anm. d. Red.) getroffen, sie war der Meinung, ich würde mich an der Universität nur langweilen und versprach mir, dass ich alles, was ich dort lernen würde, von ihr lernen könnte. Währenddessen sollte ich weiterhin als Assistent arbeiten und so viel Berufserfahrung sammeln wie möglich, denn Berufserfahrung sei eine der wichtigsten Komponenten des Berufs.

Kostümentwurf von Alexander Djurkov Hotter für Catarina Cavallieri.

Gibt es denn überhaupt eine Theaterszene in Venezuela?

Vor 10-15 Jahren gab es eine relativ große Theaterszene in Venezuela, sogar ein sehr wichtiges internationales Theater Festival, die »Feria Internacional de Teatro de Caracas«. Allerdings sind heute die meisten Theater nicht mehr in Betrieb, einige wurden von der Chavez Regierung geschlossen, noch bevor ich nach Deutschland ging.
Private Theater mussten schließen, weil sie keine Möglichkeit mehr hatten, sich zu finanzieren. Die hohe Kriminalität im Lande hatte dazu geführt, dass immer weniger Leute nach Einbruch der Dunkelheit ihr Haus verlassen wollten, somit sanken die Besucherzahlen drastisch.
Kultur wird heute in Venezuela leider nur sehr wenig gefördert und wenn, dann nur Kultur, die der Propaganda der Regierung dient. Diejenigen, die inszenieren dürfen, sind Anhänger der Regierung, zum Teil auch Menschen ohne jeglicher Theatererfahrung.
Eine der letzten Produktionen, die ich vor einigen Jahren dort sah, war das romantische Ballett »Spartacus«. Das wurde mit roten Flaggen, ganz im Stil des chinesisch-kommunistischen Balletts »The Red Detachment of Women« (»The Red Detachment of Women« ist eine der 8 Modellinszenierungen, die während der chinesischen Kulturrevolution auf dem chinesischen Theater als Vorbild für alle weiteren Inszenierungen galt. Das Ballett wurde im Februar 1972, anlässlich des China Besuchs von U.S. Präsidenten Richard Nixon, gezeigt. Anm.d. Red.)  
Es war allerdings nicht so toll wie das Original, es war vollkommen lächerlich. Obwohl früher sehr viele klassische und moderne venezolanische Stücke gespielt wurden, ging man auch da schon hauptsächlich ins Theater, um die Telenovela Schauspieler auf einer Bühne live zu sehen. Man wollte sich entspannen, Abwechslung zum Alltag und der politischen Situation des Landes haben. Heute gibt es nicht mal mehr diese Art von Theater in Venezuela.  

 

Wolfgang Amadeus Mozart und …
… seine Frau Constanze Mozart.

Fühlst du dich dem Land noch verbunden?

Ja, mir ist es ganz wichtig, dass Venezuela als meine Heimat in meiner Vita vorkommt, obwohl ich schon seit zwölf Jahren hier lebe, integriert bin, muttersprachlich Deutsch spreche und einen deutschen Pass besitze. Venezuela ist durch Kolonisation entstanden, was zur Folge hatte, dass die Bevölkerung und die Kultur ein Gemisch aus unterschiedlichen Ethnien und Traditionen ist. Jeder Venezolaner hat Wurzeln in Afrika, auf dem Kontinent selbst oder in Europa.  Es gibt niemanden, der ursprünglich nur Venezolaner ist.
Ich selbst bin zwischen unterschiedlichen Traditionen und Sprachen aufgewachsen und die letzten 10 Jahre in Deutschland haben auch ihre Spuren hinterlassen aber Venezolaner zu sein, bedeutet für mich automatisch, multinational und multikulturell zu sein und darum hänge ich u.a. so stark an dieser Nationalität.  

Kaiser Josef II.

Sarastro und Königin der Nacht.

Orsini Rosenberg.

Die Kostüme von Alexander Djurkov Hotter können Sie ab dem 8. April »Im weißen Rössl« und ab dem 14. April in »Amadeus« erleben.

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Auf ein Wort

UNDERGROUND – EINE BÜHNE IM STILLSTAND

Musikdramaturgin Renate Liedtke im Gespräch mit Paul Zoller zum Bühnenbild »Macbeth Underworld«.

R. L.:»Macbeth Underworld«. Was ist da anders als bei der Shakespearschen Vorlage?

P. Z.: Das Interessante an der Konzeption der Autoren ist, dass das ganze Stück zeitlich ineinandergeschoben ist. Es gibt viele Szenen, die wie im Original bei Shakespeare in einer zeitlichen Chronologie sind, andere werden überlagert und dann werden zeitliche Abläufe ineinander geschoben und verschiedene Shakespearsche Figuren werden von einer Person dargestellt. Das ist nicht sofort transparent erkennbar. Es bleibt immer etwas diffus in den Äußerungen der Protagonisten, so dass ein Gefühl von Ungreifbarkeit entsteht, irgendwie so eine Art Vorbewusstes. Es geht um das Stück an sich. Es hat so viele Ebenen, dass die Aufführung selbst, also die Darstellung von dem Abend, genauso Thema ist, wie die Geschichte »Macbeth« von Shakespeare und ebenso das Reflektieren darüber. Und das Ganze dann als Musikwerk, so dass Zeit per se zu einem Thema wird.

R.L.: Wie hast du dich bei der Vorbereitung an das Werk herangetastet, hat dich die Musik inspiriert?

P. Z.: Ich habe zuerst den Text gelesen, und ganz ehrlich, ich habe erst einmal nicht verstanden, worum es ging. Dann habe ich die Musik gehört. Je mehr ich mich dem Werk genähert habe und je öfter ich die Musik – auch mit Lorenzo zusammen – durchgegangen und gehört habe, desto großartiger fand ich das Stück. Die Zeit als Thema wird plastisch, durch die clusterartige Musikausdehnung hört man nicht nur den Fortgang der Zeit, sondern auch den »Stillstand«. Und das ist jenseits einer Repetition, es ist, so empfinde ich das, wie das Sprechen über Tod. Nicht, was ist nach dem Tod, sondern der Gedanke, was ist das eigentlich, wenn alles stehen bleibt. Das habe ich dann erst während der Proben entdecken können, als es von den Sängern verkörpert wurde, die ja trotzdem gleichzeitig die Geschichte in »Fragmenten« oder »Andeutungen« von Anfang bis Ende erzählen und das gibt wahrscheinlich dem Komponisten die Grundlage, anhand von Musik über Musik zu sprechen, es gibt da eben noch so etwas wie eine Meta-Ebene. Man denkt bei so etwas immer nach oben, man denkt »über« etwas nach, man denkt über und dann nennen die Autoren es aber »Underworld« und dadurch entsteht schon wieder so eine Verdrehung, die in dem Stück per se als Metapher oder als Begrifflichkeit immer vorhanden ist.

R. L.: Genau, diese »Unterwelt« steht für etwas, was aus den Fugen geraten ist, es ist open-time, es gibt kein Zeitgefühlt dafür und eigentlich stecken die Protagonisten in so einer Vorhölle, der sie gern entkommen würden. Sie würden die Situation gern beenden, …

P. Z.: … und dadurch entsteht auch Humor, man sieht die Protagonisten, wie sie das Stück spielen und darüber singen, dass sie es immer wieder spielen müssen. Das sind aber nicht die Sänger, die diese Anzahl von Aufführungen machen, sondern das ist diese Komposition und auch diese Figur des Macbeth und das heißt, der nächste Sänger / Darsteller muss wieder da durch gehen, es ist diese Figur, die ewig erhalten bleibt. Das finde ich interessant als Behauptung, Underworld – das ist eine unterschwellige Bewegung, die immer da ist, so wie Kultur eben funktioniert. Der Shakespeare wird immer und immer wieder aufgeführt werden und dadurch ist er Teil unseres kulturellen Bewusstseins. Das ist so etwas wie der Grund, auf dem wir bauen. Underworld ist nicht nur das Geisterhafte, sondern es ist noch einmal eine ganz eigene Begrifflichkeit, sozusagen der Unterbau. Aber trotzdem ist die Oper atmosphärisch wie ein Geisterstück.

R. L.: Das hast Du auch in Deinem Bühnenbild aufgenommen, das Geisterhafte …

P. Z.: Ja, das ist aber auch gefährlich, weil das Bühnenbild extrem dekorativ ist. Es hat keine Klarheit, es hat keinen Raum, es hat auch keinen konkreten Anhaltspunkt, es sind nur Reste, die die Bühne ausmachen, etwas, was abgenutzt ist. Es ist eindeutig kaputt, es ist verbraucht. Wir hatten mal – in einer Art Hilflosigkeit, was dieser Underground denn als Raum sein soll – gesagt, es ist eins zu eins so wie unterm Gulli. Da ist alles, was mal weggeflossen ist. Natürlich bleibt dort immer wieder etwas hängen und das ist wie im Unterbewusstsein, es besteht aus Fetzen von Resten von Realität. Und so soll das Bühnenbild auch wirken. Man wird nie erkennen, was es genau ist. Es gibt so etwas wie ein Bett, es gibt so etwas Ähnliches wie Architekturreste, und es gibt ein Gitter, wo Reste von Müll hängen. Der Auftritt ist ein Rohr, ein schwarzes Loch, aus dem die Figuren ausgespuckt werden. Und ansonsten besteht die Bühne nur aus Resten, welche von unendlich vielen »Macbeth«-Aufführungen »im Gulli« hängen blieben.

R. L.: Auch, wenn du jetzt sagst, alles ist die Ansammlung des seelischen Mülls der beiden aus den Jahrhunderten, hat die Bühne – so sah ich es auf der Probe –trotzdem etwas sehr Sinnliches und sogar sehr Schönes.

P. Z.: Ja, das ist jetzt die Hoffnung, dass dieser Verwandlungsakt, den das Theater schaffen kann, funktioniert. Aber das ist genau wie bei diesen Figuren, die ja jedes Mal mit einer großen Unlust das Stück wieder und wieder spielen müssen, es dann aber dennoch mit einer großen Lust tun. Das ist ambivalent. Und mit dieser Umdrehung, welche die Hexen am Anfang des Stückes aussprechen, wurde in alles reingedacht. Ich glaube sogar, in die Musik.

R. L.: In den technischen Angaben von dir hatte ich gelesen, der Raum müsse atmen …

P. Z.: Ja, da ist so ein Moment, wo das Bett wirklich »atmet« und eine Sängerin der Hexen, Valda Wilson, musste, als sie dies das erste Mal sah, lachen …

R. L.: Du hast also ganz bewusst auch Komisches eingebaut. Man soll nicht nur schockiert aus der Oper herausgehen, sondern auch amüsiert …

P. Z.: Ja, das ist ganz prinzipiell von Lorenzo und auch von Katharina Gault, die die Kostüme entworfen hat, so gedacht. Die Szene mit den Hexen ist geradezu showartig …

R. L.: Die haben Tutu an und tanzen …

P. Z.: Ja, es wird immer wieder alles gebrochen und ich bin total aufgeregt, ob am Schluss alles so aufgeht. Es ist unkalkulierbar.

R. L.: Ich jedenfalls bin total beeindruckt von dem, was ich bisher gesehen habe. Wie kriegt man nur solche Ideen …

P.Z.: Ja, nun das Stück ist so. Aber da ist noch etwas, was durchaus interessant ist, zu erwähnen. Die Arbeit mit Lorenzo ist wahnsinnig spannend und aufregend, weil auch er immer ein Risiko eingeht – mit der Konzeption und mit seiner Arbeit. Man mag manchmal zwischendurch das Gefühl haben, es stürzt ab, es funktioniert gar nicht, und zwar nicht technisch oder handwerklich, sondern von dem, was an Gedanken da ist, sein Kopf ist wirklich eine große Kathedrale, und das Ganze will er ja reflektiert sehen auf der Bühne. Wenn man dann nur die einzelnen Fragmente sieht, denkt man – wirklich, was wird das? Und dann im Kontext wird es genial, große Kunst. 

Vielen Dank für das Gespräch und hoffen wir, dass »Macbeth Underworld« bald die Bühne und das Publikum erobern kann.

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Auf ein Wort Theaterblog

Eine neue Freiheit

Am vergangenen Samstag feierte in der Alten Feuerwache die sparte4-Produktion »Bouches Les Rouges – Eine große deutsche romantische Oper« Premiere. Eine Stückentwicklung, ein Gemeinschaftsprojekt aller Beteiligten, egal ob auf oder hinter der Bühne, und ein großes Abenteuer mit jeder Menge Spaß.
Dabei geht es aber nicht nur um den Spaß an der Freude, sondern um das Singen und um das Wandern, um das Schicksal einer Gruppe und um ein bisschen Romantik, um das Frei-Sein und um das Nicht-ins-Büro müssen. Theaterpädagogin Johanna Knauf sprach mit Marius Schötz (Regie und Komposition) und Marthe Meinhold (Text und Dramaturgie) ein paar Tage vor der Premiere.

Regisseur und Komponist Marius Schötz.

J.K.: Du hast ursprünglich klassische Komposition und Gesang studiert. Nach deinem Schauspielregie-Studium hast du dann aber erst einmal nur mit Schauspieler*innen zusammengearbeitet. Wie kam es dazu, dass du jetzt eine Oper inszenierst und entwickelst?

M.S.: Das war eigentlich fast ein Zufall. Unser Bühnenbildner Robin kennt Thorsten Köhler, den Leiter der Sparte4, und Robin hat Thorsten zu der letzten Produktion die wir an der Volksbühne gemacht haben, eingeladen. Thorsten hat das gut gefallen und hat uns daraufhin für die Sparte4 angefragt. Es war also nicht so, dass ich gesagt habe: »Jetzt will ich unbedingt Oper machen«, aber es ist ein schöner Zufall, weil es natürlich so eine Art Heimkommen ist nach der langen Zeit mit den Schauspieler*innen.

J.K.: Was ist anders bei der Arbeit mit Opernsänger*innen im Vergleich zu der Arbeit mit Schauspieler*innen?

M.S.: Ich glaube, dass grundsätzlich erst einmal das Format Stückentwicklung im Schauspiel total etabliert ist. Es ist also total selbstverständlich, sich am Anfang zu treffen, in der Regel nur ein Material mitzubringen – oder sogar das wegzulassen – und dann wirklich erst vor Ort das Stück zu entwickeln.
Dieses Vorgehen hat unter den Sänger*innen teilweise schon ein bisschen für Verunsicherung gesorgt. Für sie ist es ungewohnt, dass man nicht nur die Noten spät bekommt, sondern tatsächlich nicht mal weiß, um was es gehen wird. Schon in den ersten Interviews, die ich vor dem Probenstart mit den Darsteller*innen geführt habe, haben wir daher viel darüber gesprochen, wie das Stück werden könnte.
Bis auf diese Art von Verunsicherung hat sich aber das Stückentwickeln irgendwie ziemlich ähnlich angefühlt. Das heißt die Proben, wenn wir dann miteinander gesprochen haben oder sie etwas improvisiert haben, das war dann eigentlich so wie im Schauspiel auch.

Texterin und Dramaturgin Marthe Meinhold.

M.M.: Mir ist aufgefallen, dass Marius‘ Musik und unsere Texte auf der Bühne ganz anders und superschnell extrem gut funktionieren. Und weil ich bisher kaum etwas mit Oper zu tun hatte, musste mir Marius erstmal erklären, dass das auch daran liegt, dass man Musik auf eine bestimmte Weise komponiert, und dass es zu diesem professionellen Sänger*innensein dazu gehört, dass man damit dann einfach auf die Bühne gehen kann. Das finde ich schon einen wirklich erstaunlichen Unterschied zum Schauspiel. Musik macht einfach etwas anderes mit einer Szene, als wenn man sagt: »Sprich die Szene doch erst einmal«.

M.S.: Das hat auch damit zu tun, dass die Musik sehr anders ist als das, was ich in Stuttgart geschrieben habe. Das war ja ein klassisch-modernes Kompositionsstudium, d.h. ich habe mit erweiterten Spieltechniken gearbeitet, mit bestimmten Harmonien, so erweiterte Spektralklänge und so ein Zeug. Hier hab‘ ich die Musik ja geschrieben, indem ich mehr oder weniger auf meine Erfahrungen anderer Opern zurückgegriffen habe. Ich habe jetzt nicht Opern bewusste gehört und gedacht: »Oh das entspricht dieser Situation, ich nehm‘ mal das Zitat und verweise darauf«. Trotzdem sind das alles Zeichen.
Wenn Markus z.B. singt: »Lasst‘ mich nur alleine sterben jeder Mensch ist frei«, dann ist das so ein bisschen ein »straußartiger« Walzer. Oder es gibt so ein bisschen ein Mozartzitat in Judiths Arie. Oder was sehr nach Schuberts »Die Forelle« klingt ist das Vorspiel von Bettina.  Es ist aber nicht so, dass ich gedacht habe: »Ich will, dass sich alle an die Forelle erinnern«, sondern das kam von selber.
Und durch mein Kompositionsstudium weiß ich natürlich, welche Lage was für eine Körperreaktion auslöst. D.h. an Stellen, in denen man im Schauspiel daran arbeiten würde, um was für eine Körperlichkeit es da geht, ist beim Singen durch die Komposition schon viel gegeben.

M.M.: Die Musik legt einfach schon ein richtiges dramaturgisches Gerüst auf alles drauf.

Markus Jaursch (Bernard) | Foto: Astrid Karger

M.S.: Ja, auch durch die Zeichen. Zum Beispiel ist eine Stelle mit gewissem romantischem Schmelz zu singen – das macht sofort …. das legt so eine leichte Ironie darauf, und gleichzeitig kann man das viel ernster singen, als man das im Schauspiel hätte sagen können. Und so ist letztendlich die szenische Umsetzung im Schauspiel viel mehr in der Probe zu erarbeiten, während hier schon im ersten Schritt des Musikschreibens ganz viel passiert. Das ist für mich ein riesiger Unterschied. Deswegen proben wir auch so extrem kurz. Wir haben heute innerhalb von zwei Stunden wieder fünf Szenen wiederholt, eine davon ist eine Arie. Das würde im Schauspiel bei einer zweiten Wiederholung viel länger dauern, weil man viel mehr kommunizieren muss.
Ein weiterer Unterschied zum Schauspiel ist vielleicht auch noch das für die Sänger*innen neue Maß an Freiheit. Im Musiktheater gibt es normalerweise eine Partitur, dann eine Art und Weise der Interpretation und damit liegt vieles sehr fest. Und in einer Stückentwicklung könnte man halt auch sagen »kannst du diese Stelle in meiner Arie vielleicht noch umschreiben?« – das hat niemand gemacht.
Sondern die Sänger*innen bekommen die Arie und zwei Tage später läuft sie (lacht). Ich glaube, festzustellen, was das überhaupt für eine Art von Freiheit sein kann, ist eine längerfristige Arbeit. Aber ich habe das Gefühl der Geist der Sache ist übergeschwappt, weil die Proben jetzt super entspannt sind, und jetzt viele Angebote von den Sänger*innen kommen. Wo man so merkt: das haben sie verstanden. Und so kommen sie in den Zustand nach dem ich da eigentlich suche in so einer Gruppe.

Judith Braun (Gertrud); Bettina Maria Bauer (Erna); Markus Jaursch (Bernard) | Foto: Astrid Karger

J.K.: Wie kam es dazu, dass du, Marthe, als Ko-Autorin und dramaturgische Mitarbeiterin bei »Bouches les Rouges« involviert bist? Wie habt ihr euch gegenseitig unterstützt?

M.M.: Es war ein relativ pragmatischer Vorgang. Marius und ich haben schon vorher zusammen gearbeitet. Ich habe mich sehr für das Opernprojekte interessiert und so redeten wir darüber, was man da machen könnte. Ich studiere noch, habe gerade Semesterferien und da hat Marius gesagt: »Wollen wir nicht versuchen, dass du da mitkommen kannst? Das wär irgendwie gut, ich könnte das gut gebrauchen.« Man kann einfach über so etwas zu zweit besser nachdenken. Da geht es nicht nur um eine zeitgenössische Wichtigkeit oder so, sondern es gibt einfach so viele verschiedene Aspekte, die es da zu bedenken gibt. Und dann hast du glaube ich gedacht: »Lieber zu zweit als alleine«.

M.S.: Ja, das kommt auch daher, dass ich im Schauspiel einfach schon weiß was ich mache, und mich freue, wenn noch nicht genau feststeht, wohin es diesmal geht. Hier hatte ich das Gefühl, das wird mir zu viel in der Kürze der Zeit. Wenn ich in den ersten zwei Wochen, wo ich ja noch Arien geschrieben habe, auch noch z.B. Text hätte transkribieren und parallel noch überlegen müssen, was in der nächsten Probe entwickelt werden muss … – also ich arbeite und investiere gerne viel, aber das wäre einfach unmöglich gewesen. Und eine*n Gesprächspartner*in ist natürlich auch unersetzbar. Weil ich dann nicht alleine Verantwortung übernehmen muss für, nach meinem Gefühl so viel mehr als im Schauspiel, wo ich immer denke: »Wenn der Text nicht ist, dann schreiben wir den halt noch einen Tag vor der Generalprobe um« oder so. Hier musste ja drei Wochen vor der Premiere – spätestens – alles fertig sein. Obwohl meine Stücke im Schauspiel immer viel länger waren, als die Oper jetzt, kann ich sagen: So intensiv wie hier war es noch nicht. Wenn ich nochmal die Chance bekomme in der Oper zu arbeiten würde ich es trennen: Erst entwickeln, wegfahren und mit Musik wiederkommen und proben. Sonst ist es echt sehr sehr viel. Ohne Marthe wär das nicht gegangen.

Markus Jaursch (Bernard); hinten rechts: Bettina Maria Bauer (Erna) und Judith Braun (Gertrud) | Foto: Astrid Karger



J.K.: Wie ist das mit dem Rest des Regieteams, habt ihr auch mit dem Bühnenbildner und dem Kostümbildner schon vorher mal zusammengenarbeitet? Wie habt ihr zusammengefunden?

M.S.: Wir haben untereinander alle schon miteinander gearbeitet. Schon das allererste Projekt, das ich im Regiestudium gemacht habe, habe ich mit Robin und Florian gemacht. Das war gleich ein Volltreffer mit den Beiden… Wenn man sich wohl fühlt, eine Ästhetik teilt und gleichzeitig auch so unterschiedlich ist, dass es sich lohnt, gemeinsam weiter zu machen. Und seitdem habe ich kein einziges Projekt mehr ohne die beiden gemacht.
Die Oper ist jetzt das erste Projekt, bei dem wir zu Viert zusammenarbeiten, und das hat wirklich ganz toll funktioniert. Wirklich ganz ganz ganz toll, deswegen glaube ich auch, dass die Konstellation durchaus auch… das wir das gerne weitermachen wollen, weil das eine schöne und – trotz allem Stress – super harmonische Zeit war.

M.M.: Total. Es würde einen im Team einfach nie jemand böse angucken, oder einen Vorwurf machen. Es verlassen sich einfach alle darauf, dass alle so viel arbeiten wie sie eben können – und nicht im Sinne von Komplettausbeutung, sondern halt wirklich: wie sie können. Und deswegen ist es auch so super produktiv. Man muss sich nicht beweisen, vertraut sich, es gibt einfach keinen Hintergedanken oder so etwas.

Bettina Maria Bauer (Erna); Stefan Röttig (Hektor); Judith Braun (Gertrud); Markus Jaursch (Bernard) | Foto: Astrid Karger

J.K.: Geht ihr selbst gerne in die Oper? Was wünscht ihr euch für die Zukunft der Sparte Oper / Musiktheater?

M.S.: Während des Kompositionsstudiums war ich bestimmt vier Mal in der Woche in der Oper. Alles was lief, habe ich mir bestimmt fünf bis sechs Mal angeschaut, weil ich einfach so besessen davon war. Aber irgendwann war ich so unglücklich mit dem was auf der Bühne passiert, bei diesen Wiederaufnahmen wo irgendwie die vierzigste Besetzung durchläuft…  Dann bin ich das erste Mal ins Schauspiel gegangen, so mit 25 Jahren, das heißt, das war für mich dann das Neue. Aber ich liebe die Oper auch heute noch – und gerne richtig klassisch inszeniert. (lacht)
Wenn es nur noch das geben würde, was wir jetzt machen, dann gäbe es ja die traditionelle Oper nicht mehr – und das will ich auf keinen Fall. Gleichzeitig habe ich jetzt so viel Spaß mit unserem Projekt, dass ich so etwas gerne weiter verfolgen würde. Dass sich entspannter alte und neue Formen begegnen können, das wär vielleicht ein Wunsch. Ich fänd es toll, wenn sich die traditionelle Oper mehr neuen Strukturen öffnen würde.

M.M.: In allem ja auch, oder? Sowohl was man musikalisch darf, aber auch bezüglich hierarchischer Strukturen im Theater, dem Umgang mit Frauenfiguren, Machozeug, … Also wir haben hier jetzt so etwas nicht erlebt, aber das sind schon Themen, mit denen sich Oper, glaube ich, noch mehr auseinandersetzen muss.
Anders als Marius bin ich aber eigentlich noch nicht sehr opernerfahren. Wenn ich bisher in der Oper war, bin ich danach aber immer – im positiven Sinne – total überwältigt davon.

Markus Jaursch (Bernard); Stefan Röttig (Hektor); Bettina Maria Bauer (Erna); Judith Braun (Gertrud) | Foto: Astrid Karger


J.K.: Wo ihr beide so begeistert von der Oper berichtet: Woran liegt es eurer Vermutung nach, dass durchschnittlich eher ältere als jüngere Menschen in die Oper gehen?

M.S.: Ich muss sagen, wenn ich damals nicht in unseren Schulchor gekommen wäre und dort nicht so intensive Erfahrungen hätte sammeln können, dann würde ich heute wirklich auf keinen Fall hier sitzen. Dann hätte ich nicht einfach eines Tages gedacht: »Oh, Oper ist ja toll«.
Viele sammeln ja ihr Leben lang keine aktive Erfahrung im Bereich Oper, und dann ist es für mich nicht verwunderlich, dass sie damit erst einmal nichts anfangen können. Ich glaube es braucht irgendwelche Anknüpfungs- oder Identifikationsmöglichkeiten.

M.M.: Ja, ich denke auch bei mir war das ein bisschen anders als bei den meisten, da ich in der sehr privilegierten Situation aufgewachsen bin, Zugang zu unterschiedlichster Kultur zu haben, und durch meine Erfahrung mit anderen Künsten auch eher Anknüpfungspunkte hatte.





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Auf ein Wort

…mit unserer scheidenden FSJ-Kollegin aus der Dramaturgie Lena Feid

Ein Jahr dramaturgische Theaterarbeit geht gerade zu Ende. Was nimmst du aus deiner Zeit hinter der Bühne mit?

Im letzten Jahr habe ich festgestellt, wie viele Menschen miteinander kooperieren müssen, um ein Stück zu produzieren. Mich hat beeindruckt, wie viele verschiedene Berufe am Theater gebraucht werden und wie viele Details bedacht werden. Als ich selbst Teil der Arbeit hinter der Bühne werden durfte, sind mir alle mit einer sehr großen Offenheit begegnet, weshalb ich mich gleich wohl gefühlt habe. Ich denke, dass ich etwas von dieser Einstellung mitgenommen habe und hoffentlich auch anderen mit einer so offenen Haltung begegnen kann.

An welche Momente erinnerst du dich am liebsten?

Ich erinnere mich sehr gerne an die alle zwei Wochen stattfindende Dramaturgie-Sitzung, bei der ich Protokoll geführt habe. Dabei hat man erfahren, was gerade bei anderen Produktionen, auch in den anderen Sparten, los ist. Danach war ich immer auf dem aktuellen Stand. Eines meiner Highlights war aber auch, eine eigene Einführung zu „Frühlings Erwachen zu schreiben. Der Moment, in dem ich sie selbst vortragen durfte, wird mir sicher noch lange in Erinnerung bleiben.

Was waren denn deine extremsten Aufgaben?

Beim Festival Primeurs war ich als Assistentin in die Organisation involviert. Schon in der Vorbereitung habe ich an vieles denken müssen. Am letzten Abend habe ich z.B. auch beim Auszählen der Publikumsstimmen geholfen. Das war ziemlich stressig, weil wir natürlich pünktlich zur Preisverleihung fertig sein mussten. In den letzten Wochen meines FSJs war ich Regieassistentin bei der Produktion „Glück“. Auch da habe ich bemerkt, wie viele Details zu bedenken sind. Da einen Überblick zu behalten und nichts zu vergessen, ist gar nicht so einfach.

Letztendlich habe ich aus den extremsten Aufgaben aber am meisten gelernt. Ich bin dadurch viel selbstständiger geworden.

Wofür steht Theater heute für dich?

Theater gibt Denkanstöße. Nicht nur den Zuschauern, sondern allen Produktionsbeteiligten. Schon im Probenprozess setzt sich jeder mit dem Stoff auseinander. Es wird viel diskutiert. Mich hat das Theater daran erinnert, wie wichtig es ist, Dinge zu hinterfragen.

Das Interview führte Schauspieldramaturgin Bettina Schuster-Gäb.

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Auf ein Wort

Wie wird man Regisseur*in?

Mark Reisig studierte zunächst American Studies und Germanistik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, bevor er 2013 an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main (Hfmdk-Frankfurt) wechselte, um Regie zu studieren. Seine Abschlussinszenierung »Philoktet« (Heiner Müller) wurde 2017 zum wichtigsten Festival für Nachwuchs-Regisseure, dem Körber Studio Junge Regie eingeladen. Ab 18.09.2020 ist Mark Reisigs Inszenierung »Die Politiker« (Wolfram Lotz), in der sparte4 zu sehen. Über sein Regiestudium sprach Schauspieldramaturgin Simone Kranz mit ihm.

Szenenfotos aus »Die Politiker«: Silvio Kretschmer und Mirjam Kuchinke. Foto ©Honk Photo

S.K.: Wie bist du zum Theater gekommen? Warst du als Kind schon viel im Theater?

M.R.: Es gibt tatsächlich eine Kindheitserfahrung, die sehr zentral dafür war. Das erste Mal als ich ins Theater gegangen bin, war in Heidelberg ins Weihnachtsmärchen und ich saß in der ersten Reihe. Auf der Bühne ging es um Wünsche und es gab einen Wünsche Automat. Und plötzlich hat ein Schauspieler auf mich gezeigt, ich sollte mir was wünschen und ich wurde auf die Bühne geholt. Aber mir fiel vor Schreck gar nichts ein, was ich mir hätte wünschen können. Und da hat der Schauspieler mich gefragt, ob ich mir einen Schokokuss wünschen wollte. Und ich war total erleichtert und habe genickt. Für mich war das ein großes Wunder, dass der Automat dann wirklich einen Schokokuss hatte. Das war für mich als Kind unfassbar, ein magischer Moment und ab da habe ich das Theater gemocht. Und der Wunsch nach Magie im Theater ist bis heute eine große Sehnsucht geblieben.

Silvio Kretschmer und Mirjam Kuchinke. Foto ©Honk Photo

S.K.: Hast du auch in der Schule schon Theater gespielt?

M.R.: Es gab in meiner Realschule so ein Programm, man hat zehn Karten gekriegt für eine Spielzeit und eine Theaterführung. Man durfte sich dafür anmelden, wenn man das wollte und dann sind wir durchs Theater geführt worden und durften auch bei Proben zusehen. Was wir da gesehen haben war ganz modern, ich habe das gar nicht verstanden, ich war viel zu jung, aber trotzdem war die Lust auf Theater da. Und ich wusste, es gab eine Schule, das Wirtschaftsgymnasium in Mannheim, die hatten eine Theater AG, die bekannt in der ganzen Stadt war. Ich wollte überhaupt nichts mit Wirtschaft zu tun haben, aber ich bin auf die Schule gewechselt, wegen dieser Theater AG. Ich hatte das Glück, dass da eine ganz tolle Theaterlehrerin war, die mir ganz viel Platz gegeben hat, um mich zu entwickeln und mutiger zu werden. Als ich dann angefangen habe zu studieren, konnte man an der Uni einen Hörsaal mit einer großen Bühne nutzen und man hat sogar einen Etat von der Uni dafür erhalten.  Ich habe einen Zettel ausgehängt und auf einmal hatte ich 15 Leute, die Theater machen wollten und ich sollte dann sagen, was wir machen. Das war total absurd.

Mirjam Kuchinke und Silvio Kretschmer. Foto ©Honk Photo

S.K.: Wann kam der Entschluss, das professionell zu machen und sich für ein Regiestudium zu bewerben?

Also ich habe zwei große Brüder, die konnten immer alles besser als ich und haben ganz viel für mich geregelt. Dann habe ich das erste Mal Regie geführt und hatte das Gefühl: Ich kann das. Ich kann mit Leuten reden und ich kann eine Atmosphäre schaffen, in der die Leute anfangen auf einer Bühne zu spielen. Ich habe mich aber nicht getraut, mich an einer Regie-Schule zu bewerben, bis jemand zu mir gesagt hat: »Du bist doch blöd. Bewirb dich doch erstmal und schau dann ob du wirklich nicht gut genug bist.« Und dann habe ich zwei Bewerbungen geschrieben, eine für Berlin und eine für Frankfurt. Und da hat es dann geklappt.

Silvio Kretschmer und Mirjam Kuchinke. Foto ©Honk Photo

S.K.: Wie läuft so eine Aufnahmeprüfung ab?

M.R.: Man musste sich mit einem Motivationsschreiben und einem Konzept für eine Inszenierung bewerben. In Berlin bin ich bis zur zweiten Runde gekommen aber das war ganz furchtbar für mich, ich habe einfach nur getan, was ich dachte, was die jetzt von mir sehen wollten. In Frankfurt war es ganz anders, weil einer der Professoren mich verbal attackierte. Er wollte mich provozieren. Er hat mein Konzept gelesen und gesagt: »Ja, das find ich ganz spannend, was du bis hierhin schreibst und dann redest du über Kostüm und Bühne und das finde ich voll langweilig.«  Und dann habe ich direkt angefangen, mich zu wehren und bin ganz stinkig geworden, und habe gesagt: »Ist doch scheißegal«, weil ich dachte: »Hä, darum geht’s doch gar nicht, klar sind Bühne und Kostüm wichtig, aber erstmal reden wir doch über das Stück«. Ich habe einen Schreck gekriegt, weil ich mich damit ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt habe aber wir haben dann über das Stück gesprochen. Der Professor konnte damit umgehen, er ist voll drauf eingegangen, da saßen acht Leute um mich herum, ich alleine auf einem Stuhl und wir haben uns richtig gestritten, aber das war schon echt cool, es war eine Unterhaltung auf Augenhöhe. Gar nicht so: »Ja wir sind hier eine tolle Schule, da musst du aber schon was leisten, wenn du hier ankommen willst.« Es war einfach ein Gespräch, über Theater und das fand ich toll. Dann gab es noch zwei weitere Runden und dann war klar: »Ich bin angenommen!«

S.K.: Wie viele haben sich beworben und wie viele sind genommen worden?

Also in meinem Jahrgang gab es ca. 100 Bewerbungen und drei sind genommen worden. Drei Monate später ging das Studium dann los. Ein Jahr nur Grundlagenunterricht für Schauspieler…

S.K.: Wie viele Stunden am Tag hat man Unterricht?

M.R.: Wir hatten schon wirklich von morgens acht bis abends acht Uhr Unterricht. Das erste Jahr ist richtig krass, auch gewollt. Ich finde das nach wie vor ziemlich gut, denn so ist es am Theater später auch. Die Ausbildung und der Job sind voller Widerstände, man muss sehr viele Entscheidungen gegen ein Privatleben treffen und das lernt man da. Und entweder man lernt damit umzugehen und auch mit dem Druck umzugehen oder der Beruf ist nichts für einen. Natürlich gibt es Leute, die ganz anders funktionieren und trotzdem ganz tolle Künstler sind. Aber wenn man sagt, man möchte ans Stadttheater, man möchte in einen Betrieb und in dieses große Mahlwerk, dann ist das schon ganz gut, um auch mal einen Geschmack davon zu bekommen, was für Verantwortung man übernehmen muss und was für Entscheidungen man treffen muss. Und ob man wirklich gewillt ist, das zu machen. Viele gehen so nach einem oder zwei Jahren. Also, man macht Schauspiel, man macht Physical Theatre, man macht Akrobatik, Sprechen, man kann auch Tanz machen und dann darf man kleine Szenen inszenieren, später kleine Stücke inszenieren, das wird dann immer mehr, bis zur Abschlussinszenierung.

Mirjam Kuchinke und Silvio Kretschmer. Foto ©Honk Photo

S.K.: Du hast ja vorher schon inszeniert, war, rückblickend betrachtet das Studium gut? Hast du was gelernt?

M.R.: Also erstmal war es für mich das schönste Studium, das es gibt. Es ist ein Geschenk, dass man in einen Rahmen kommt, in dem man experimentieren kann und wirklich exzessiv lernen kann. Also wenn man will, kann man wirklich an jeder Ecke lernen und Sachen kennenlernen und sich weiterentwickeln. Die einzige Schattenseite ist, dieses Unverbrauchte, das Freie, was ich vorher empfunden habe; ich mach einfach, was ich will, das geht verloren. Das verabschiedet sich, weil der eigene Maßstab wächst. Man hat das Gefühl, man will wohin, man will weiterkommen oder sich beweisen. Die Konkurrenz ist schon sehr hart. Für jeden freien Platz, den es am Theater gibt, gibt es sehr viele Bewerber.  

S. K.: Ist das etwas, was dir Sorgen macht?  

M.R.: Also vor zwei, drei Jahren hätte ich gesagt: »Ne, interessiert mich nicht. Ich mach das einfach und wenn ich arm bin, dann bin ich halt arm.« Aber die Perspektive ändert sich natürlich. Ich bin jetzt 31, das ist jetzt nicht alt, aber es muss jetzt mal was losgehen. Ich kann jetzt nicht mein Leben lang alle zwei Jahre eine Produktion haben und dann darauf warten, dass mir wiedermal jemand eine Chance gibt. Und dann denke ich wieder: Theater ist eine wahnsinnig sinnvolle Angelegenheit, ich kenne eigentlich keinen Raum, wo es sonst eine so direkte Auseinandersetzung, auch politisch, mit einer Sache gibt. Ich kenne nicht viele Orte in der Gesellschaft, wo tatsächlich noch gemeinschaftlich gedacht und gearbeitet wird. Im Theater trifft man sich mit fremden Leuten und unterhält sich über die Welt und über Zustände in der Gesellschaft und über Persönlichkeit und persönliche Erfahrung. Es ist ein Raum, wo man das beleuchten kann und die Chance bekommt über sich selbst hinauszuwachsen und Einstellungen und Sichtweisen hinterfragen darf. Das ist das, was Kunst leisten kann, dass man gesellschaftliche Entwicklungen oder Vorstellungen hinterfragt. Und das kenn ich nirgendswo anders in der Gesellschaft. Und es gibt ja den Satz, dass das Theater so der Spiegel der Gesellschaft ist und das finde ich nämlich nicht, das würde ja bedeuten, dass man sich selbst sieht und daran etwas erkennt. Wenn, dann ist das Theater das verzerrte Spiegelbild zur Gesellschaft, nicht nur ein Abbild. Man muss etwas anders sehen, eine neue Möglichkeit erkennen, eigentlich einen Ort findet. Deswegen will ich unbedingt Theater machen.

Dank an Pauline Göttert für das Abtippen des Gesprächs.