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I act, i dance

»iMove« – das Jugendtanzensemble im Saarländischen Staatstheater

Die jungen Nachwuchstänzer*innen des Jugendtanzensembles iMove,welche von der Tanzpädagogin Claudia Meystre trainiert werden, sind in dieser Spielzeit gleich bei zwei Produktionen dabei. Sie treten sowohl im März nächsten Jahres bei ihrer eigenen Produktion »Was uns bewegt« auf, sind aber auch derzeit bei der Oper »Alcina« auf der Bühne im Großen Haus zu sehen.

iMove | Foto: Astrid Karger

Die iMover*innen lieben es zu performen, auf der Bühne zu stehen, aber vor allem zu tanzen:

»Tanzen ist ein unfassbares Gefühl. Man kann damit so viel ausdrücken, vermitteln und sich seine eigene kleine Welt errichten«. Die junge iMoverin Giulia Ferraro erzählt von ihrer Leidenschaft zu tanzen und äußert sich über die von Regisseur Alessandro Talevi inszenierte Oper »Alcina«.

in der Mitte: Valda Wilson (Alcina); iMove | Foto: Astrid Karger

M.T.: Giulia, was heißt es für dich zu tanzen? Was bedeutet es dir und wieso ist Tanzen deine Leidenschaft?

G.F.: Es ist ein unfassbares Gefühl, das ich nur schwer in Worte fassen kann. Man kann durch Tanzen so viel ausdrücken und vermitteln. Ich kann mir meine eigene kleine Welt errichten und einfach loslassen – ich bin frei. Die Möglichkeiten sind grenzenlos, es gibt kein richtig oder falsch. Tanzen verbindet die Menschen, obwohl sie alle unterschiedliche Persönlichkeiten und Geschichten in sich tragen. Das ist total schön und faszinierend.

Valda Wilson (Alcina); iMove | Foto: Astrid Karger

M.T.: Hast du schon einmal auf einer Bühne performt vor so viel Publikum, wie es jetzt bei der Oper der Fall ist

G.F.: Ja. Ich tanze jetzt seit einem Jahr bei iMove und seither sind wir schon mehrmals aufgetreten, beispielsweise in der Völklinger Hütte im September. Davor habe ich drei Jahre lang Hip-Hop getanzt und oft bei Auftritten oder Meisterschafte mitgewirkt.

iMove | Foto: Astrid Karger

M.T.: Wie ist das Gefühl für dich, auf der Bühne vor so vielen Menschen zu stehen und zu performen?

G.F.: Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, auf der Bühne zu stehen und für Publikum zu tanzen. Wenige Sekunden bevor die Musik erklingt, steigt in mir das Adrenalin und es ist, als würden sich alle Tanzschritte und -bewegungen in meinem Körper stauen. Wenn es dann endlich losgeht, sprudelt das alles einfach raus und ich tanze ohne groß nachzudenken. Ich muss sagen, das ist sehr befreiend.

Foto: Astrid Karger

M.T.: Auch in der Oper »Alcina« steht iMove nun auf der Bühne und tanzt vor vielen theaterbegeisterten Menschen. Dabei stehen der Klimawandel und die Umweltzerstörung im Vordergrund und die Tänzer*innen müssen das zum Ausdruck bringen. Wie stehst du zu diesem Thema und wie ist es für dich, jetzt nicht »nur« tänzerisch, sondern auch schauspielerisch zu agieren?

G.F.: Ich finde es total toll und spannend, als Tänzerin und Statistin Teil einer solchen Produktion zu sein. Der Klimawandel ist ein sehr präsentes Thema und deshalb finde ich es großartig, bei dieser Oper mitmachen zu können. Es ist an der Zeit, die Menschen wachzurütteln, denn es geht um unsere Zukunft und wir alle sind für sie verantwortlich. Ich bin der Meinung, dass wir alle etwas ändern müssen und deshalb kann ich mich auch gut in meine Rolle hineinversetzen und hoffe, dass wir authentisch auftreten und das Publikum damit erreichen können.

Foto: Astrid Karger

Das Gespräch führte Maxine Theobald, die gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr Kultur in der Dramaturgie des Saarländischen Staatstheaters absolviert.

Neugierig geworden? Hier gibt es eine Übersicht und Karten für »Alcina«. Du möchtest auch Hinter die Kulissen des Saarländischen Staatstheaters blicken oder gar Teil des Theaters werden? Hier gibt es einen Überblick über unsere partizipativen und pädagogischen Angebote.

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Auf ein Wort

Bon anniversaire, »Festival Primeurs«!

Das „Festival für frankophone Gegenwartdramatik – Primeurs“ feiert in diesem Jahr seinen 15. Geburtstag. Vier Partner hoben es im November 2007 gemeinsam aus der Taufe: das Saarländische Staatstheater, das Institut Français, der Saarländische Rundfunk und das Carreau in Forbach. Ursula Thinnes, damals Chefdramaturgin des Saarländischen Staatstheaters und heute Schauspieldirektorin des Staatstheaters Braunschweig, war Mitinitiatorin des Festivals und hat die ersten zehn Ausgaben begleitet. Im Gespräch mit Astrid Karger erinnert sie sich an die Geburtsstunde und die Sternstunden dieses außergewöhnlichen Festivals.

15 Jahre »Festival Primeurs« – ein Rückblick

A.K.: Wann und wie entstand die Idee zum »Festival für frankophone Gegenwartsdramatik – Primeurs«?

U. T.: Kurz nach dem Start der Intendanz von Dagmar Schlingmann am Saarländischen Staatstheater 2006 kamen Anette Kührmeyer vom Saarländischen Rundfunk und die damalige Leiterin des Institut Français, Isabelle Berthet, auf uns zu mit der Idee eines gemeinsamen Projekts. Beide wollten, so direkt an der französischen Grenze, frankophoner Literatur eine Bühne bieten.
Dagmar Schlingmann und ich waren als Kooperationspartner naturgemäß an Dramatik interessiert, Anette Kührmeyer als Hörspielchefin ebenso – außerdem war für sie wohl reizvoll, dass wir dem Hörspiel in der Alten Feuerwachen mitten in der Stadt Sichtbarkeit verleihen konnten. Klar war ganz schnell, in den ersten Minuten, dass wir unbedingt etwas zusammen machen wollten. Wir hatten alle kein Geld für Zusatzprojekte, konnten aber jeweils unsere besonderen Stärken, Netzwerke und verschiedenen Infrastrukturen nutzen. Durch das Institut Français war es uns zum Beispiel möglich, Autor*innen nach Saarbrücken einzuladen, wir als Staatstheater hatten die Bühne und das Ensemble.

Am Anfang stand der Kooperationswille

A.K.: Gab es einen bestimmten Anlass, einen Auslöser, beispielsweise ein in Deutschland unbekanntes Stück, das man vorstellen wollte?

U.T.: So konkret gingen wir erst einmal gar nicht vor. Der Auslöser war wirklich der Kooperationswille. Drei Institutionen direkt an der Grenze – daraus sollte sich ein Festival entwickeln lassen. Und wir wollten einen weiteren Partner einladen: Das Carreau, als erstes Theater hinter der Grenze (aus Saarbrücker Perspektive). Glücklicherweise war dessen damaliger Direktor, Frédéric Simon, sofort von der Idee begeistert.

A.K.: Was waren die ersten Schritte zur Gründung des Festivals?

U.T.: Solange ich an der Durchführung dieses Festivals beteiligt war – und das waren immerhin zehn Ausgaben –, hat es nie einen Kooperationsvertrag gegeben. Es galt das gegebene Wort. Ich liebe solche Verabredungen. Das erfordert Offenheit und Verbindlichkeit in der Kommunikation. Wir wollten frankophone, nicht nur französische Autor*innen vorstellen, in szenischen Lesungen und Werkstattinszenierungen, in einem Rahmen, der Spaß macht, der zum Feiern einlädt.
Und wir wollten nicht nur Stücke kennen lernen, sondern auch die Autor*innen einladen. Damit hatten wir die Struktur. Dadurch, dass der Sendeplatz des SR-Hörspiels – immer donnerstags, 20.04 Uhr – feststand, war auch eine bestimmte Aufteilung naheliegend. Donnerstags Hörspiel und Eröffnung, freitags die ersten Werkstattinszenierungen, samstags die lange Nacht mit der abschließenden Preisverleihung. Das war so in etwa der Kern des Festivals über viele Jahre.

A.K.: Wie kam es zum Namen »Primeurs«? Und zum erklärenden Untertitel »frankophone Gegenwartsdramatik«? Gab es Alternativen?

U.T.: Das Theater hat ja eine enge Disposition, Freiräume sind schwer zu finden. Wir schauten einfach, wo wir überhaupt eine Lücke finden konnten. Außerdem wollten wir einen gewissen Abstand zu den anderen Saarbrücker Festivals, so sind wir im November gelandet. Tatsächlich hat das Festival ein paar Mal direkt am Beaujolais-Primeurs-Wochenende stattgefunden. Bei der Namensfindung wollten wir herausstellen, dass es sich um wirkliche Premieren handelt. Die Stücke sind sehr oft im Auftrag des Festivals übersetzt worden, sodass die Saarbrücker Zuschauer*innen die ersten waren, die die Texte in deutscher Sprache kennen lernen konnten.

Feuerprobe statt »Wasserglas-Lesung«

A.K.: Ein besonders reizvolles Element der Primeurs-Lesungen ist, dass es sich nicht eigentlich um Lesungen handelt, sondern um kleine Inszenierungen, für die Schauspiel und Bühnenbild das Beste aus den gegebenen Beschränkungen herausholen. Wie hat sich dieses Format entwickelt?

U.T.: Mir war es ein Anliegen, die Stücke als Texte für das Theater zu präsentieren. Das Publikum sollte einen Eindruck von der Bühnenwirksamkeit bekommen. Das ist durch bloßes Zuhören nicht bei jedem Text möglich. Das ist gar nicht unumstritten. Es gibt Festivals, die neue Texte als einfache »Wasserglas-Lesung« präsentieren, um die Autor*innen ins Zentrum zu stellen. Ich bin allerdings der Meinung, dass eine gute szenische Einrichtung den Autor*innen nur nutzen kann.

A.K.: Wie finden Sie interessante Stücke, was sind Ihre Kriterien?

U.T.: Das Schöne an der Stückfindung war immer der gemeinsame Austausch mit den Partner*innen. Wir dachten unterschiedlich, hatten unterschiedliche Standpunkte und kulturelle Erfahrungen. Das war ungemein bereichernd. Der Luxus bei der Auswahl war, dass wir die Texte nicht auf Repertoiretauglichkeit abklopfen mussten. Gerade ein breites Panorama war uns wichtig. Kleine, experimentelle Texte kamen für uns genauso infrage wie große literarische Herausforderungen. Uns interessierten formale Experimente, schräge Stimmen, neue Dramaturgien.

A.K.: Welche Erinnerungen haben Sie an die erste Festival-Ausgabe 2007?

U.T.: Das war rauschhaft. Wir hatten unglaublich geackert, um alles zu realisieren – ohne großen Festivalstab. Es knirschte noch ganz gewaltig in den Abläufen, da haben wir uns in den Folgejahren weiterentwickelt. Aber die Party war groß.

Frankophone Dramatik im Wandel

A.K.: Können Sie eine inhaltliche Entwicklung, bestimmte Tendenzen erkennen? Gibt es etwas, das französisch-sprachige Dramatik grundsätzlich von deutschen Theaterstücken unterscheidet?

U.T.: Wir waren bei der Auswahl risikobereit. Das hat sich absolut ausgezahlt und uns von Anfang an ein spannendes Programm beschert. Aber ich glaube, die französische Dramatik hat sich sehr verändert in den vergangenen 15 Jahren. Als wir anfingen, kamen vor allem die formal spannenden Texte mit teils non-linearen Dramaturgien eher aus Québec oder dem frankophonen Afrika. Diese Trennlinien verlaufen längst nicht mehr entlang der Ländergrenzen. Ein performativer Text aus Frankreich? Heute ist das keine Überraschung mehr.

A.K.: Ein Stichwort zu jedem Jahrgang? Eine Erinnerung, etwas Prägendes? Was waren Höhepunkte der vergangenen 14 Primeurs-Jahrgänge? Und wie beurteilen Sie über die Jahre die Resonanz auf das Festival?

U.T.: Oje, das sind zu viele Erinnerungen! Aber die Begegnungen, die wir als Dramaturgie des Staatstheaters mit den Autor*innen hatten, das war großartig. Überhaupt, dass die Autor*innen sich untereinander kennen lernen konnten, dass alle versucht haben, möglichst viel zu sehen, das war unglaublich intensiv.
Vielleicht doch zwei Erinnerungen: Als ich 2012 William Pellier im Anschluss an die szenische Lesung seines Stückes »Wir waren« interviewte, sagte er auf jede Frage erst einmal »Ich weiß nicht, was ich sagen soll« und druckste noch ein bisschen herum. Mich hat das durchaus gestresst. Ich wollte ja keinen Autor in Verlegenheit bringen. Am Ende des Abends gewann er das Festival und sagte nach der Gratulation durch Dagmar Schlingmann »Ich weiß nicht, was ich sagen soll« – nichts weiter.
Zwei Wochen später hat er mir einen ausführlichen und sehr warmherzigen Dankesbrief geschrieben, kurze Zeit darauf einen wunderbaren Text für das Jubiläumsbuch des Saarländischen Staatstheaters, das 2013 unter dem Titel »Grenzenlos« erschien. Das gesprochene Wort war einfach nicht sein Medium.

Das Festival als Wegbereiter

In der letzten Ausgabe, die ich betreut habe, 2016, gab es eine französische Lesung eines Kinderstücks von Fabrice Melquiot in Forbach, die ich zauberhaft fand. Ich war damals auf der Suche nach einem Klassenzimmerstück für das Schauspiel Frankfurt und initiierte im Anschluss an das Festival die Übersetzung des Stücks. Der Text »Die Zertrennlichen«, ein Stück über Alltagsrassismus, ist mittlerweile an unglaublich vielen deutschsprachigen Theatern gespielt worden und hat 2018 den Deutschen Kindertheaterpreis gewonnen, der von den Übersetzer*innen Frank Weigand und Leyla-Claire Rabih entgegengenommen wurde. Beide sind dem Festival Primeurs ja mehr als verbunden. Leyla hat z.B. im ersten Festival auch ein Stück inszeniert. Es sind Wellen, die durch das Festival ausgelöst werden, manche bleiben klein, andere können wachsen – wie im letztgenannten Beispiel. Das Festival hat einigen Stücken den Weg auf deutschsprachige Bühnen bereitet, davon bin ich überzeugt.

Ursula Thinnes hat in München Theaterwissenschaft, Komparatistik, Germanistik und Geschichte studiert. Nach Stationen in Chicago, Wien, München, Linz war sie Chefdramaturgin am Theater Konstanz und von 2006 bis 2017 am Saarländischen Staatstheater. In dieser Zeit realisierte sie zahlreiche grenzüberschreitenden Projekte und war Mitinitiatorin des »Primeurs Festival für frankophone Gegenwartsdramatik«. 2017-2020 arbeitete sie als Dramaturgin am Schauspiel Frankfurt. Seit Beginn der Spielzeit 2020/21 ist Ursula Thinnes Schauspieldirektorin am Staatstheater Braunschweig.

Astrid Karger
Journalistin & Fotografin

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Auf ein Wort Theaterblog

ÜBERSETZUNG BEDEUTET BEWUSSTSEIN

Über eine grundsätzliche Infragestellung binärer Welten im Stück GABRIEL von George Sand

Schauspieler, Regisseur, Übersetzer: Sébastien Jacobi.

B.S.-G.: Sébastien Jacobi, was ist das Besondere an George Sand, an ihrem Universum?

S.J.: George Sand deckt mit ihrem biographischen Hintergrund und erzählerischen Ausrichtung ein ganzes Jahrhundert ab. Im Stile des 19. Jahrhunderts ist sie philosophische Autorin und mit ihren Erzählungen zugleich eine Sozial-Reformistin. Das ergibt ein ganz eigenes Universum.

B.S.-G.: Was ist das für eine Zeit?

S.J.: Das ist eine Zeit, in der das Individuum, der individuelle Blick populär wird. Dennoch ist er angebunden an ein gesellschaftliches Gesamtgefüge. Ich persönlich habe ein ausgesprochenes Faible für diese Literatur. Bei den großen Autor*innen wie Sand, Proust, Balzac, Dostojewski, Hugo wird das Leben als Roman betrachtet und ist gesellschaftlich relevant auch im Profanen. Auch George Sand spült gewisse Perspektiven einmal durch das Individuum hindurch und erhält sehr subjektive Betrachtungen von Welt, die wiederum auf das Große-Ganze zurückwirken. Ihr geht es nicht um Bebilderung von Zuständen, sondern um den Menschen in seiner sozialen Dimension und seinen sozialen Forderungen.

B.S.-G.:Wenn du von der menschlichen Autorin sprichst, meinst du damit, dass sie individualistisch strebende Menschen beschreibt oder eher einer Art soziale Ausrichtung ihrer Stoffe?

S.J.: Letzteres, genau. Sie beobachtet hart, beschreibend, arbeitet autobiographisch, aber bleibt fiktiv, und fordert reelle gesellschaftliche Veränderungen ein. In GABRIEL ist es ein veränderter Status der Frau. Oder fast noch mehr die gänzliche Abschaffung der geschlechtlichen Kategorie, mit der sie sehr viel Ungleichheit verband. Nie sind ihre Geschichten privat, immer von gesamtgesellschaftlichem Belang.

B.S.-G.: Wie tut sie das?

S.J.: Über eine Art Ideendrama mit philosophischer Argumentation, die man sich als Publikum aber ganz psychologisch und emotional vorstellen muss. Und das ist sehr modern! Es gibt Ähnlichkeiten zu zeitgenössischen Textflächendramen, aber wiederum auch zu shakespearesker Komik oder auch Blutrünstigkeit. Auch eine Tarantino-Note sehe ich in ihr – sie liebt das absurd Dramatische, Mantel-Degen-Geschichten, das Aufs-Ganze-Gehen. Darin ist sie höchst realistisch und filmisch.

B.S.-G.: Du hast nun nicht das gesamte 200-seitige Drama auf die Bühne gebracht, sondern hast dich als Regisseur fokussiert: auf das Dramatische, das Vorantreibende, auf die Grundideen. Welches sind das?

S.J.: Was ich verschlankt habe, um stärker vom Heute zu erzählen, ist ein gewisses gesellschaftliches Machtgefüge, ein religiöses Machttableau. Das Herrschaftsgefüge, benannt mit dem alten Prinzen Jules, fand ich hingegen als Grundaufstellung sehr hilfreich, um den Sprung in die Gegenwart zu schaffen: die Distanz zu einer märchenhaften Handlung mit Schloss und Adel lässt sich ohne Weiteres auch auf den Abgesang des weißen alten Mannes lesen. Ich habe mich in meiner Fassung auf die Entwicklung von Gabriel konzentriert; auf seinen/ihren Bewusstseinsprozess und Anspruch auf Selbst- statt Fremdbestimmung. Sand nannte das »Freiheit«.

Dramaturgin Bettina Schuster-Gäb im Gespräch mit Sébastien Jacobi. Foto © Paul Gäb.

B.S.-G.: Macht es einen Unterschied im Übersetzen, wenn du weißt, was du auf der Bühne erzählen willst?

S.J.: Ich mache Regie aus dem Gefühl oder den Erfahrungen eines Schauspielers heraus, gehe sehr von der Logik des Spielers aus – wie ich zu einer Form, zu einer Aussage komme. Ähnlich gehe ich auch die Übersetzung an: Ich habe versucht die Sprache zu erhalten, mich bewusst gegen eine Modernisierung der Sprache entschieden, die Höflichkeitsform »Ihr/Euch« ist zudem genderneutral. Mein Anspruch war stets eine Gesamtübersetzung zu denken – genutzt habe ich die Übersetzungsarbeit am gesamten Stück letztlich, um zu einer Fassung zu gelangen, einen Ausschnitt zu wählen. Was interessiert mich konkret für ein szenisches Erzählen? Welche Situationen, Dialoge und Konflikte sehe ich mit welcher Personnage erzählt? Welche Figuren brauche ich? Wie rhythmisiere ich den Text für ein szenisches Geschehen?

B.S.-G.: Dient die Inszenierung der Sprache oder die Sprache der Inszenierung?

S.J.: Beides. Die »alte«, vielleicht fremdartig formulierende Sprache ist mir ein wichtiges inszenatorisches Mittel: Über Sprache eine gewisse Distanzhaltung beim Publikum zu erzeugen, erleichtert die Draufsicht und schafft Bereitschaft sich der Aktualität auszusetzen. Einen vermeintlichen Schritt weiter weg zu stehen, tut der Kunst also gut. Im Falle von GABRIEL können Genderfragen weitaus allgemeingültiger betrachtet werden. Sand war in der sozialen Debatte sehr weit – so wie ihre Zeit, wodurch sie auch so zeitgemäß wirkt, aber eben mit einer Begrifflichkeit von 1837. Das Aushandeln und Sich-Ausprobieren in diversen Rollen ist Gegenstand von GABRIEL, so auch von Theater an sich – Geschichte wie Form sprechen sich gegen starre Identitäten aus.

B.S.-G.: Die Figur Gabriel, die wir am Ende sehen, fordert ein gesellschaftliches Bewusstsein für die Veränderbarkeit von Identitätsvorstellungen ein, und zwar unabhängig vom biologischen Geschlecht.

S.J.: Deshalb gehe ich in der Inszenierung auch sehr stark über das Bild der Kunst – Gabriel ist ein/e Künstler/in, die eben diese andere Logik, diese performative Sicht verfolgt. Gesellschaftliche Normen aus einer anderen Position heraus in Frage zu stellen ist ihr Bestreben. Das Stück geht nicht von befreiten Individuen aus, es geht nicht um diese permanente individualistische Selbstbestimmung, sondern um die grundsätzlichere Infragestellung binärer Welten.

Foto © Honkphoto

Sébastien Jacobi erhielt seine Ausbildung als Schauspieler an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt/Main. Festengagements führten ihn an das Theater Basel, Theater Dortmund, Schauspiel Köln und an das Schauspiel Frankfurt. Darüber hinaus gastierte er u.a in Mainz, Darmstadt oder Berlin und arbeitete immer wieder auch als Regisseur . So inszenierte er in Den Haag und Stockholm im Auftrag des Schauspiel Frankfurts für das Dramaten sowie am Schauspiel Frankfurt, dem Theater Bielefeld und dem Staatstheater Stuttgart. In Saarbrücken waren bisher seine Bio-Pics »Reise Reiser« über den Sänger Rio Reiser und »Mélodie! Maladie! Mélodrame!« über die Schauspielerin Ingrid Caven zu sehen.

Im Rahmen des Symposiums zu Theaterübersetzung »Primeurs Plus« wird Sébastien Jacobi Impulsgast sein und über sein Verhältnis zu Übersetzung, Sprache und Inszenierungsarbeit sprechen: www.festivalprimeurs.eu/primeurs-plus.

Bettina Schuster-Gäb,
Schauspieldramaturgin und Leitung Festival Primeurs

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Auf ein Wort Theaterblog

Molière in Minecraft spielen

Wilke Weermann über Theater und Computerspiele.

Du schreibst die Stücke, die du inszenierst meist selbst. Wie ist bei dir das Verhältnis von Schreiben und Inszenieren?

Also geschrieben habe ich schon immer. Das Schreiben für das Theater wurde aber erst durch das Regiestudium initiiert.

Zum Probenbeginn gab es keinen fertigen Text, sondern du hast das Stück mit Ensemble und Team gemeinsam entwickelt. Ist das deine übliche Arbeitsweise?

Es gibt auch Stücke, die am Schreibtisch entstehen, z.B. »Hypnos«, das beim Heidelberger Stückemarkt nominiert wurde. Aber im Prinzip will ich bei einer gemeinsamen Arbeit nicht alles vorgeben und kontrollieren, sondern die kreativen Kapazitäten aller nutzen. Bei der Filmvorlage geht es ja um einen Chirurgen, der seiner Tochter die Gesichter anderer Frauen transplantiert und sie total dominiert. Natürlich gibt es eine Verbindung zwischen einem Autor, der den Text für eine Schauspielerin schreibt, und diesem Vater. Das Thema hat sich in meinem Arbeitsprozess seltsam wiederholt. Das wollte ich kreativ nutzen.

Im Sommer 2021 bist du für ein Stipendium am Institut für Digitaldramatik des Mannheimer Nationaltheaters nominiert worden. Gibt es für dich Parallelen zwischen Computerspielen und Theater oder muss man für digitale Formate ganz anders schreiben?

Videospiele und Theater sind auf den ersten Blick ziemlich unterschiedlich. Beim Videospiel trifft man als Spieler Entscheidungen, die den weiteren Spielverlauf bestimmen, was im Theater eher nicht der Fall ist. Trotzdem ähneln sich beide in der Funktionsweise der Blickführung, die sich z.B. sehr vom Film unterscheidet. Im Film kann man den Blick der Zuschauer lenken, indem man Sachen, die man sehen soll, ins Bild rückt, z.B. durch Großaufnahmen. Bei Videospielen und im Theater hat man diese Möglichkeit nicht, man muss Wege finden, um die Aufmerksamkeit zu leiten. Ich denke, da können Videospiele und Theater viel voneinander lernen.
Ich war mal bei einem Vortrag über das Thema Blickführung von Leuten, die 3D-Filme produziert haben. Die hatten in einer Szene extra eine fliegende Taube eingebaut, weil man dann eher dieser Taube mit den Augen folgt und weiter vorne hinguckt. Solche Effekte sorgen dafür, dass die Leute mitbekommen, was im Spiel gerade wichtig ist. Und um Blickführung geht es auch auf dem Theater.
Wohin leitet ein bestimmtes Licht die Blicke der Zuschauer, welchen Ton setze ich ein, um die Konzentration der Zuschauer auf etwas Bestimmtes zu lenken. Was diese szenischen Vorgänge angeht, sind Videospiele und Theater sehr nah beieinander.
Es gibt Events, die werden im Spiel dadurch ausgelöst, dass man etwa an einen bestimmten Ort geht oder dass eine bestimmte Zeit verstreicht. Also als praktisches Beispiel:  Eine Figur setzt sich an einen Tisch, dadurch fängt die Kellnerin an, auf sie zu zulaufen, um sie dann zu fragen, was sie trinken möchte.
So sind im Grunde auch Theater Szenen organisiert, die ganze Theatermaschine hat solche Abläufe. Wenn die Schauspielerin Anne Rieckhof sich in »Augen ohne Gesicht« (»Daughter`s Cut«) in der Doktorszene nach vorne dreht und anatmet, dann gibt es den Lichtwechsel und den Soundwechsel und dann sagt sie den Satz und auf der emotionalen Ebene ist das dann der Triggerpunkt, an dem die Schauspielerin Emilie Haus darauf reagiert.
Viele Vorgänge im Theater lösen einander auf diese Weise aus, auch in ganz psychologischen Stücken, die sich scheinbar frei entfalten. In meinen Inszenierungen greife ich das oft auf und mache solche formalen Elemente spielerisch sichtbar.

Wenn der Scheinwerfer in deiner Inszenierung z.B. erst auf das Telefon schwenkt, bevor es zu läuten beginnt?

Ja, das ist z.B. so ein Moment, wobei der Scheinwerfer wiederum von dem emotionalen Moment ausgeht, den die Schauspielerin gerade spielt.  

Wenn du über Formate Digitaler Dramatik nachdenkst, würde dir da eher ein Projekt einfallen, das komplett im digitalen Raum stattfindet oder denkst du über Mischformen nach, bei denen immer noch Leute im Zuschauerraum zusammenkommen?

Ich fände es grundsätzlich interessant, beides zu vermischen, also z.B. Molière in Minecraft zu spielen (1). Aber noch spannender finde ich die Herausforderung, Spiel-Konzepte auf Inszenierungen zu übertragen. Da gibt es nämlich sehr interessante Ideen, Ästhetiken und Geschichten.
Also z.B. das Spiel-Moment, dass der/die Spieler*in das Spiel durch Entscheidungen selber eingreift. Und das wirklich als Entscheidungsbaum, wo solche Entscheidungen den Theaterabend total unterschiedlich sein lassen.
Oder man könnte eine Art Fernsteuerungsidee umsetzen. Ein*e Schauspieler*in hat eine Kamera, die eine Third Person-Perspektive einführt, mit der sie sich in einem Siedler artigen Raum bewegt (2). Das sind jetzt Möglichkeiten, die es in Ansätzen schon in Theaterinszenierungen gibt und nur erste Ideen. Aber man kann da sicher noch mehr übertragen und weiterentwickeln, das für eine bestimmte Ästhetik nutzen. Ich habe zumindest Lust darauf.

Das Gespräch wurde von Maxine Theobald transkribiert.  

(1) (Anm.: Minecraft ist ein Sandbox-Computerspiel, bei dem der Spieler Konstruktionen, wie Gebäude oder Schaltkreise aus zumeist würfelförmigen Elementen in einer dreidimensionalen Welt erschafft und sich darin bewegt.)

(2) (Anm.: Die Siedler ist eine Computerspielreihe, bei dem es darum geht durch geschickte Strategien eine Siedlung aufzubauen)

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Vom Ehrenamt zur Theaterpädagogik

Meike Koch arbeitet seit Ende August bei uns im Staatstheater als Theaterpädagogin für Musiktheater und Konzert. Ihre Kollegin Anna Arnould-Chilloux, Theaterpädagogin für Schauspiel und Tanz, hat ihr ein paar Fragen gestellt:

Anna: Liebe Meike, willkommen bei uns. Wie kam es denn dazu, dass du hier in der Theaterpädagogik angefangen hast?

Meike: Ich habe von der Stelle über ein Praktikum erfahren. Ich mache gerade meinen Master in Kulturmanagement und wollte während des Studiums schon etwas Berufserfahrung sammeln. Seit Februar hatte ich dann eine Praktikums-/Aushilfsstelle in der Theaterpädagogik. Und seit dieser Spielzeit eine Vollzeitstelle.

A.: Was hast du denn davor gemacht? Ich frage mal so, was war dein erster Job und was war dein letzter?

M.: Mein erster Job war tatsächlich hier im Saarländischen Staatstheater. Ich habe mein zweiwöchiges Schülerpraktikum hier absolviert. Ich erinnere mich nicht mehr an alles, aber noch daran, dass ich in der Fußgängerzone Flyer verteilt habe und bei einigen Proben zu Frank Nimsgerns »Fantasma« zusehen durfte. Das hat mich damals schwer beeindruckt. Mein letzter Job war bei Globus, wo ich im dualen System meinen Bachelor in Personal- und Bildungsmanagement gemacht habe.

A.: Interessant, du kennst das Saarländische Staatstheater also sozusagen noch von früher.

M.: Streng genommen geht das ganze sogar noch etwas weiter zurück. Mein Urgroßvater war hier früher als Beleuchter und später als Pförtner tätig. Meinen Opa hat er dann öfter mal zu Proben oder Vorstellungen mitgenommen und so seine Begeisterung für Musik und Theater geweckt. Es ist vielleicht etwas dick aufgetragen, aber ich bin schon davon überzeugt, dass ich ohne das Saarländische Staatstheater und die Stelle von meinem Urgroßvater heute ganz woanders wäre. Denn dann hätte mein Opa seine Begeisterung zur Musik nicht an meine Mutter weitergegeben und sie hätte mir vielleicht nicht die Möglichkeit gegeben, mit Begeisterung Klarinette und Klavier zu lernen.

A.: Du spielst also Klarinette und Klavier. Was gefällt dir an diesen Instrumenten?

M.: Ich finde, dass die Klarinette ein sehr wandelbares Instrument ist. Sie kann sowohl gefühlvoll und melancholisch klingen, als auch mal verspielt oder sogar zickig. Man kann ganz verschiedene Klänge aus ihr herausholen. An Klavier gefällt mir gut, dass ich es ganz für mich alleine spielen kann, wenn ich meine Ruhe haben möchte. Klarinette spiele ich nämlich meistens im Verein mit 30 anderen Musiker*innen.

A.: Kannst du dich noch an dein erstes und dein letztes Mal im Theater erinnern?

M.: An das erste Mal nicht mehr genau. Das war ganz bestimmt mit der Schule. Ich weiß aber noch sicher, dass ich das Ballett »Romeo und Julia« als kleines Mädchen mit meiner Familie gesehen habe. Vor dem Lockdown hatte ich noch die Möglichkeit »Amadeus«zu sehen. Im Juni war ich nach langer Pause dann im Musical »Hair«.

A.: Gab es mal einen Moment am Theater, der dich geprägt hat?

M.: Das müsste sogar damals in »Romeo und Julia« gewesen sein. Die Vorstellung war zu Ende, wir applaudierten und die Tänzer*innen verbeugten sich. Meine Mutter hat sich damals zu mir runtergebeugt und mir ins Ohr geflüstert, dass die Künstler*innen das alles für diesen Moment des Applauses gemacht haben. Das fand ich irgendwie gleichzeitig verrückt und beeindruckend und dieser Satz geistert jetzt immer in meinem Kopf herum, wenn ich nach einer Vorstellung applaudiere.

A.: Die Künstler*innen brennen also für den Applaus. Wofür brennst denn du?

M.: Ich engagiere mich ehrenamtlich sehr dafür, dass Kinder und Jugendliche die Möglichkeit und das Angebot bekommen, ein Instrument zu lernen. Ich bin seit einigen Jahren Jugendleiterin in meinem Musikverein Winterbach und 2. Vorsitzende im Bund saarländischer Musikvereine – Musikkreis St. Wendel speziell für Jugendthemen.

A.: Und was machst du im Musikverein genau?

M.: Ich mache Werbung für das tolle Hobby Musik, helfe beim Musikunterricht und der Instrumentenanschaffung der Kinder und stehe den Eltern mit Rat und Tat zur Seite. Außerdem organisiere ich Freizeitmaßnahmen und Auftritte für die Kinder. Wir waren zum Beispiel schon ein paar Mal im Staatstheater zu Besuch. Kindergartenkindern gebe ich außerdem Unterricht in musikalischer Früherziehung und Grundschulkindern Blockflötenunterricht.

A: Ich entdecke da ein paar Parallelen zu deiner Tätigkeit bei uns in der Theaterpädagogik.

M.: Ja, total. Es ist mir auch ein großes Anliegen, die Vereine und auch die Schulen wieder mehr für das Theater und Musik zu begeistern. Das theaterpädagogische Angebot beim Saarländischen Staatstheater ist da so vielfältig aufgestellt, dass für jeden etwas dabei ist. Ich werde die kommenden Wochen auf jeden Fall dazu nutzen, den Vereinen und den Schulen dieses Angebot wieder vorzustellen. Wir sehen ja schon seit einigen Jahren, dass immer weniger Kinder sich für die Kultur begeistern und es immer weniger Kinder gibt, die ein Instrument lernen. Das liegt aber keinesfalls daran, dass sie kein Interesse daran haben. Man muss ihnen aktiv die Möglichkeit dazu aufzeigen. Und ich denke, dass das Staatstheater dabei eine tragende Rolle spielt. Auf jeden Fall können Vereine und Schulen und das Staatstheater sich beidseitig helfen und toll zusammenarbeiten. Das ist mein Wunsch und mein Ziel.

A.: Wir wünschen dir eine gute Zeit bei uns und viel Erfolg.

M.: Dankeschön, ich freue mich auf die Zeit hier!

Ihr möchter mehr erfahren über das theaterpädagogische Angebot des Saarländischen Staatstheaters? Dann schaut doch mal hier vorbei. Oder wollt ihr selbst mal etwas Bühnenluft schnuppern? Dann schaut gerne hier auf unser Angebot.

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Hinter dem Vorhang

Kunst ist Kampf

Über einen Diskurs der Gegensätzlichkeit.

Strauss und Hofmannsthal. Kaum eine andere Kollaboration in der Musikgeschichte scheint so selbstverständlich wie diese. In der Geschichte der Oper des frühen 20. Jahrhunderts stellen sie eine Art Institution dar. Das schicksalhafte Aufeinandertreffen von Dichter und Komponist sollte in fünf Opern seine künstlerische Apotheose finden. 

Hartmut Volle (Der Haushofmeister/Intendant)); Stefan Röttig (Ein Musiklehrer); Carmen Seibel (Der Komponist) | Foto: Martin Kaufhold

Rund 600 Briefe in 29 Jahren belegen das beständige Ringen um ein gleichberechtigtes Miteinander: Fragen um Stoffwahl und Dramaturgie wie der musikalischen Gestaltung haben Textdichter und Komponist erörtert. Nicht selten bat Hofmannsthal während der gemeinsamen Arbeit an einem Werk um genaue Vorgaben oder Strauss um zusätzliche Verse für seine Musik.
War »Elektra« (1909) noch ein Werk, dessen Text auf einem bereits vorhandenen Gedicht beruhte, entstand mit dem »Rosenkavalier« 1911 erstmals ein Libretto, welches in einem beständigen Austausch zwischen Dichter und Komponist entstand. Ein Umstand, der sich maßgeblich auf die musikalische Dramaturgie und kompositorische Diktion ihrer gemeinsamen Werke auswirkte.

Hartmut Volle (Der Haushofmeister/ Intendant); Carmen Seibel (Der Komponist); Andrea Wolf (Die Politikerin) | Foto: Martin Kaufhold

F.K.: Ohne euch gleichzusetzen mit Strauss und Hofmannsthal, aber auch ihr arbeitet schon seit Jahren im Team, erarbeitet allumfassend das Konzept einer Inszenierung. Könnt ihr etwas über eure »Arbeitswege« erzählen?

A.S.: Alles entsteht aus einem Dialog. Es geht darum, mit dem Stück, mit sich selbst und schließlich miteinander in Dialog zu treten. Für uns ist die ständige Kommunikation sehr wichtig, es ist ein Gedankenaustausch, der inspiriert und beflügelt. Und vor allem ist es wichtig, gegensätzliche Meinungen voneinander zuzulassen und immer wieder neue Fragen zu stellen.
M.P.: … und dazu gehört auch Vertrauen. Für unsere Arbeitsweise ist es essentiell, dass die verschiedenen künstlerischen Bereiche ineinanderfließen, es soll eine natürliche Wechselwirkung zwischen Figurengestaltung, Raum- und Kostümkonzept entstehen. Das Ziel ist es, ein einheitliches Ganzes formen zu können.

Pauliina Linnosaari (Primadonna); Stefan Röttig (Ein Musiklehrer); Hartmut Volle (Der Haushofmeister/ Intendant); Algirdas Drevinskas (Scaramucchio/ Ein Tanzmeister); Liudmila Lokaichuk (Zerbinetta) | Foto: Martin Kaufhold

Das Hochgefühl der gemeinsamen Arbeit von Strauss und Hofmannsthal sollte nicht lange andauern. Zwischen 1911 und 1916 wurde mit »Ariadne auf Naxos« die künstlerische Beziehung der beiden auf ihre erste Bewährungsprobe gestellt: Nach dem Misserfolg der Stuttgarter Uraufführung 1912 wollte Strauss das Werk, welches seinen Ursprung in der fixen Idee eines sparten- und genreübergreifenden Experiments fand, gründlich überarbeiten. Ein Schritt, den Hofmannsthal zumindest vorerst nicht bereit war zu gehen, da er die Arbeit als abgeschlossen betrachtete und sich bereits dem nächsten gemeinsamen Werk, der »Frau ohne Schatten«, widmete. Pikiert bis verärgert reagierte er auf die detaillierten Anweisungen seines Komponistenfreundes.

Carmen Seibel (Der Komponist) | Foto: Martin Kaufhold

Das Ringen um Inhalt und Form, um die musikalische Struktur wie die inhaltliche Dramaturgie, mit dem Strauss und Hofmannsthal während der Arbeit an »Ariadne auf Naxos« konfrontiert waren, lässt sich als exemplarisch begreifen. Der Weg eines künstlerischen »Produkts« ist oftmals vieles, aber selten linear. Ein Umstand, der damals wie heute, in einer schnelllebigen, von Effizienz und Effektivität geprägten Gesellschaft, gleichermaßen Fluch und Segen sein kann. Ein vermeintlich oasenhafter Ort, an welchem andere Maßstäbe gelten, die Zeit anders zählt, der Geist von Kreativität geküsst wird. Und doch unterliegt sie den Gesetzen der Realität und erhebt sogar Anspruch auf diese! Als Spiegel, als Kommentar, als Abbild oder Zerrbild. Ein ständiges Austarieren zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Fakt und Fiktion, aus Spiel wird Ernst.

Pauliina Linnosaari (Ariadne) | Foto: Martin Kaufhold

Kunst ist Kampf. Sie ist ein Kampf um das (vermeintlich) richtige Wort zur richtigen Zeit, den richtigen Ton im noch richtigeren Moment, sie ist ein Kampf um Stimmung, Atmosphäre, Emotion, Inhalt, Ästhetik. Sie ist der Versuch, eine noch so flüchtige Idee mit bloßen Fingern zu packen, zu konservieren und – noch viel wichtiger – zu konvertieren. In etwas, was gleichermaßen gegenwärtig wie zeitlos ist. Das Innerste soll nach Außen, das Unaussprechliche, geschrieben, gesprochen, gesungen werden. Jetzt und für immer. Vielleicht.

Pauliina Linnosaari (Primadonna); Stefan Röttig (Ein Musiklehrer) | Foto: Martin Kaufhold

Strauss und Hofmannsthal waren gut darin, den Nebel der Idee mit ihren Händen zu greifen. Eine solche Idee war ursprünglich auch »Ariadne auf Naxos«. Eine untypische Oper, als Experiment gedacht, sollte eine 30-minütige Oper für ein kleines Kammerorchester mit Molières Ballettkomödie »Der Bürger als Edelmann« für den Regisseur Max Reinhardt kombiniert werden. »Die hübsche Idee – von der nüchternsten Prosakomödie bis zum reinsten Musikerlebnis – hatte sich praktisch in keiner Weise bewährt«, erkannte Strauss später, »ganz banal gesprochen: weil ein Publikum, das ins Schauspiel geht, keine Oper hören will, und umgekehrt. Man hatte für den hübschen Zwitter kein kulturelles Verständnis.«

Um das Stück zu retten, trennten Strauss und Hofmannsthal die offensichtlich unvereinbaren Elemente wieder. 1916 kam die Operneinlage als selbstständiges Werk heraus und ging triumphierend in den Werkekanon über. Vom einstigen Experiment blieben die Oper und die Bühnenmusik. Letztere arbeitete Strauss über mehrere Jahre in eine Orchestersuite um, die er aus eben jener Bühnenmusik extrahierte.

Ensemble | Foto: Martin Kaufhold

Strauss‘ Glaube an das visionäre Potenzial seines Werks war allen wirtschaftlichen wie ideellen Zweifeln erhaben. Er setzte sich durch. Und obgleich Strauss und Hofmannsthal das Experiments einer Kombination von Oper und Schauspiel (in diesem konkreten Fall) für gescheitert ansahen, setzten sie mit »Ariadne auf Naxos« neue musikdramaturgische und ästhetische Maßstäbe.

Einer verhältnismäßig kurzen spätromantischen Kammeroper mit Opera-Buffa-Elementen setzten sie ein (rezitativisches) Vorspiel voran, dessen Geschehen hinter den Theaterkulissen stattfindet.

Pauliina Linnosaari (Ariadne); Bettina Maria Bauer (Najade); Melissa Zgouridi (Dryade); Valda Wilson (Echo) | Foto: Martin Kaufhold

Bei dem Theater im Theater eröffneten die Autoren nun einen zeitlosen theaterpolitischen Diskurs: Mit den originären Mitteln des Theaters entspinnt sich ein augenzwinkernder Plot über die Borniertheit der Theaterwelt. Eine Parabel auf die Kunstfreiheit im Spannungsfeld zwischen künstlerischem Idealismus und (politischem) Realismus, in der scheinbar willkürliche Zensurmechanismen durch Mäzene der Selbstwirksamkeit des Künstlers zusetzen.

Sung min Song (Brighella); Algirdas Drevinskas (Scaramuccio); Max Dolliinger (Harlekin); unten links: Carmen Seibel (Der Komponist); hinten rechts: Markus Jaursch (Truffaldi); Markus Jaursch (Truffaldin); Liudmila Lokaichuk (Zerbinetta) | Foto: Martin Kaufhold

F.K.: Strauss und Hofmannsthal stellen mit »Ariadne auf Naxos« die zwingende Frage nach dem Wirken der Kunst. Nach ihrer Legitimation. Fragen, die in den vergangenen Monaten immer wieder aufgekommen sind. Welchen Einfluss hatte das auf euch, auf euer künstlerisches Selbstverständnis?

A. S.: Vor eineinhalb Jahren geschah das Unvorstellbare und plötzlich stand die Frage im Raum, ob Kunst, Theater oder Oper überhaupt eine Daseinsberechtigung haben: Das ambivalente Wort »Systemrelevanz« schlich sich in die Nachrichten. Und auch wenn es einem bewusst ist, dass die Schließungen damals notwendig waren, sitzt der Schock immer noch tief. Auf einmal standen die Opernhäuser leer, wir Kunstschaffende fanden uns in gewisser Hinsicht auf Ariadnes verlassener Insel wieder… die Oper war zumindest »scheintot«. Dieses Erlebnis war ausschlaggebend für das Regiekonzept: Für uns symbolisiert Ariadne die Fragilität der Gattung Oper selbst.
M.P.: Die Krise hat uns auch gezeigt, dass nur die wenigsten über die Komplexität der Theaterarbeit, oder speziell des Musiktheaters, Bescheid wissen. Wie viele Fachkompetenzen von so unterschiedlichen Bereichen nötig sind um einen einzigen Theaterabend entstehen zu lassen. Gerade die stückimmanente, mit ziemlicher Selbstironie entworfene, szenische Situation des Vorspiels gibt uns eine einzigartige Möglichkeit all das aufzuzeigen, was sonst im Off verborgen bleibt. Der Schleier wird gelüftet, das Publikum wird hinter die Kulissen geführt und darf dem Intendanten, Dirigenten, Orchester, Sänger:innen, Inspizient:innen, Maskenbildner:innen, Bühnentechniker:innen, Ankleider:innen bei der Arbeit zusehen. Für einen Abend lang haben wir sozusagen freien Eintritt in den Backstage-Bereich.

Max Dollinger (Harlekin); Pauliina Linnosaari (Ariadne); Liudmila Lokaichuk (Zerbinetta); Markus Jaursch (Truffaldin) | Foto: Martin Kaufhold

Zwei schier unvereinbare Welten stehen sich bei Strauss und Hofmannsthal gegenüber: Kunst versus Kapitalismus. Realismus versus Pragmatismus. Unterschiedlich und doch abhängig. Die »einsame Insel« des Komponisten auf der einen Seite, die realen Zwänge des Auftraggebers auf der anderen. Ein Problem zeitloser Dringlichkeit, auch wenn die Finanziers und Haushofmeister des 21. Jahrhunderts längst keine Fürsten mehr sind.

Hartmut Volle (Der Haushofmeister/ Intendant); Andrea Wolf (Die Politikerin) | Foto: Martin Kaufhold

F.K.: Im Falle von »Ariadne auf Naxos« habt ihr euch entschieden, direkt in den Text einzugreifen, wieso?

A.S.: Durch den Charakter des Komponisten zeigen Hofmannsthal und Strauss die Begegnung einer künstlerischen Idee mit der Wirklichkeit: den Schaffensprozess selbst. Der Komponist versucht verzweifelt an seinem ursprünglichen Werk festzuhalten, findet sich aber plötzlich im Abhängigkeitsverhältnis zu einem Mäzenen wieder. Um den Konflikt zwischen künstlerischem Idealismus und Alltagsrealität zu verdeutlichen, haben wir in unserer Dialogfassung die Rolle des Haushofmeisters gesplittet. Das Aufeinanderprallen dieser beiden gegensätzlichen
Welten wird durch die neu eingefügten Charaktere eines Intendanten und einer Politikerin personifiziert. Der Anfangsmonolog des Intendanten, basierend auf theatertheoretischen Texten von Dürrenmatt, Streeruwitz, Platon, Aristoteles und Schiller stellt die existentielle Suche nach aktuellen künstlerischen und gesellschaftlichen Antworten dar. Es ist ein Mit-sich-selbst-ringen, inspiriert von Lecture-Performance.

Pauliina Linnosaari (Ariadne); Angelos Samartzis (Bacchus) | Foto: Martin Kaufhold

Vor dem Hintergrund des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Künstler und Kunstmarkt scheint die werkimmanente Gegenüberstellung von »hoher« und »niederer« Kunstgattungen ebenso logisch wie zeitlos, autothematisch folgt eine Reflexion über die Kunst selbst. Das gesamte Stück ist gewissermaßen ein Streit zwischen sogenannter E-Musik (»Ernster Musik«) und U-Musik (»Unterhaltungsmusik«) und offenbart damit eine weitere Dimension vom (Selbst-)Verständnis des Künstlers zwischen Kunst und Kommerz.

Markus Jaursch (Truffaldin); Algirdas Drevinskas (Scaramucchio); Sung Min Song (Brighella); Max Dollinger (Harlekin); Liudmila Lokaichuk (Zerbinetta) | Foto: Martin Kaufhold

FK.: Ihr habt euch für ein dichotomisches Bühnenbild, was der Gegensätzlichkeit des Stückes entspricht, entschieden.

M.P.: »Unsere Insel« deutet eine verlassene Bühne mit abgerissenem Vorhang, ein Theater ohne Publikum an. Daran angeschlossen ist ein »Theater-Müll-Raum« – eigentlich ein Erinnerungsort für alte Theaterreliquien: ein Kostümfundus und Requisitenlager – mit einem großen Müllcontainer in der Mitte, in dem die Schätze der Vergangenheit, die scheinbar nicht (mehr) relevant sind, entsorgt werden können…
Auf der anderen Seite steht im Gegensatz dazu ein Sitcom-Set mit
grellen Farben, eine Art »Plastikwelt«, die die Fernsehästhetik einer populären Serie parodiert, wo die mythologischen »Götter« von heute, also Superhelden, verehrt werden. Die Oper versucht zwar sichtbar zu bleiben – auch wortwörtlich, im Portalausschnitt – die Massenunterhaltung drängt sie aber immer mehr aus dem Raum.

Pauliina Linnosaari (Ariadne); rechts: Valda Wilson (Echo); Melissa Zgouridi (Dryade); Bettina Maria Bauer (Najade) | Foto: Martin Kaufhold

Strauss und Hofmannsthal stellen mit »Ariadne auf Naxos« die zwingende Frage nach dem Wirken der Kunst. Die Oper in der Oper, die hier zwischen menschlicher Schablonenhaftigkeit im Stile der Commedia dell‘Arte und wahrhaftiger Existenzkrise im Archaischen der Oper wandelt, wird zum Sinnbild für die Legitimation der Kunst. Damals wie heute zwischen Sitcom, Netflix, Streaming und Co. 

Pauliina Linnosaari (Ariadne); Angelos Samartzis (Bacchus); im Vordergrund: Andrea Wolf (Die Politikerin) und Hartmut Volle (Der Haushofmeister/ Intendant) | Foto: Martin Kaufhold

F.K.: Begreift ihr die Kunst- und Theaterwelt als Flucht vor der Realität?
A.S.: Theater ist unsere Realität. Für das Publikum kann aber Theater durchaus als Flucht vor der Realität begriffen werden. Oder eben als Ort, der neue Realitäten erschafft. Bacchus, der in unserer Interpretation das Publikum selbst verkörpert, erweckt Ariadne, die Oper, durch seine Liebe zu neuem Leben. Ihre Begegnung symbolisiert für uns die Wechselwirkung zwischen Darstellenden und Publikum. In der künstlerischen Ekstase erlebt Bacchus die Metamorphose und findet zu seinem neuen, verwandelten Selbst.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert

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