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Hinter dem Vorhang

Kaufmännischer Direktor Matthias Almstedt als Bühnenheld 2020 ausgezeichnet!

Im November 2020 erreichte die Dramaturgie eine Ausschreibung des Aktionsbündnis Darstellende Künste*. Darin wurde dazu aufgerufen, Personen zu nominieren, die sich innerhalb der Theaterlandschaft durch besonders umsichtiges Handeln in Pandemie-Zeiten hervorgetan hatten:

»Das Jahr 2020 hat die Welt der darstellenden Künste auf den Kopf gestellt und wenn sowieso schon alles andersherum ist, warum nicht gleich weiter machen? Das Aktionsbündnis Darstellende Künste verleiht zum ersten Mal den Bühnenheld*innen-Preis an Nicht-Künstler*innen. Unsere Held*innen stehen nicht im Scheinwerferlicht, sie performen nicht über die Rampe hinweg und die vierte Wand gehört in der Regel zur Büroausstattung. Unsere Held*innen arbeiten in Kulturämtern, Verwaltungen oder engagieren sich ehrenamtlich für die darstellenden Künste. Sie bleiben im »Wild Wild West« der Tanz- und Theaterlandschaft sichtbar und gehen nicht in Deckung. Und genau deshalb sind sie für uns die wahren Helden.«

Für die Dramaturgie war klar, dass Prof. Dr. Matthias Almstedt diese Auszeichnung verdient hatte. Im März 2020 hatte er ein finanzielles Ausgleichsmodell für pandemiebedingte Gagenausfälle von Gast-Darsteller*innen aller Sparten entwickelte. Diese auch als »Saarbrücker Modell« bezeichnete Regelung war und ist in besonderer Weise sozial, indem sie nicht alle Vorstellungsgagen gleichbehandelt, sondern niedrige Gagen zu einem höheren Anteil ersetzt. Diese differenzierte Behandlung schafft in besonderer Weise einen Interessensausgleich zwischen dem Theater und dem Gast – und das in individualisierter Form.

Die Preisjury sah das genauso. In einer Online Preisverleihung am 6.12. 2020 zeichnete das Aktionsbündnis Darstellende Künste Preisträger in sechs Kategorien aus.

»1. Denn sie wissen, was sie tun: Kulturpolitiker*innen

2. Spiel mir nicht das Lied vom Theatertod: Die Leitung eines Stadttheaters/einer Produktionsstätte

3. 4 Stempel für ein Halleluja: Verwaltungen/Verwaltungsmitarbeiter*innen/Sachbearbeiter*innen

4. Für keine Handvoll Dollar: Einzelpersonen, Freundeskreise, Kulturinitiativen/Vereine

5. Jenseits von Reden: Sonderauszeichnung für strukturelle Verbesserungen, Innovationen in den letzten Jahren, Impulsgeber*innen, Alternativen

6. Wanted: geliebt und lebendig: Der Publikumspreis«

Matthias Almstedt bekam seinen Bühnenhelden Preis in der Kategorie »4 Stempel für ein Halleluja«. Insgesamt wurden 39 Preisträger*innen aus 161 Nominierungen durch eine Fach Jury ausgewählt. Diese Beteiligung zeigt auch, wie wichtig das Sichtbarmachen des aktiven Engagements gerade auch in Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft ist.

Mehr Informationen zu den Preisträgern und der Preisverleihung unter https://buehnenheldinnen.de/. Wer mehr über die Situation die Lage der Solo Selbständigen Künstler im Saarland und das »Saarbrücker Modell« erfahren möchte, dem sei auch der Beitrag im Aktuellen Bericht des SR empfohlen: https://www.sr-mediathek.de/index.php?seite=7&id=96003.

Herzlichen Glückwunsch an alle Preisträger, und besonders natürlich an Matthias Almstedt!

Simone Kranz,
Schauspieldramaturgin

* Das Aktionsbündnis Darstellende Künste wurde 2018 im Rahmen der 3. bundesweiten Ensemble-Versammlung am Schauspielhaus Bochum gegründet. Es ist ein Zusammenschluss verschiedener Dachverbände (art but fair, Bund der Szenografen, Bundesverband Freie Darstellende Künste, Dachverband Tanz Deutschland, Dramaturgische Gesellschaft, dramaturgie-netzwerk, ensemblenetzwerk, GDBA, Netzwerk flausen+, Pro Quote Bühne, regie-netzwerk, Ständige Konferenz Schauspielausbildung, sowie Verband der Theaterautor*innen. Das Aktionsbündnis versteht sich als offene Diskussions- und Kommunikationsplattform. An den regelmäßigen Arbeitstreffen nehmen gelegentlich auch der Deutsche Bühnenverein, die Allianz der Freien Künste und der Fonds Darstellende Künste teil.

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Hinter dem Vorhang Theaterblog

#alarmstuferot #ohnekUNStwirdsstill

Am 1. November – Allerheiligen – fiel (erneut) der vorerst letzte Vorhang. Verdis »Il Trovatore« erklang im Großes Haus, ehe sich wieder eine zunehmend bedrückende Stille breitmachte. In ganz Deutschland.

#SangundKlanglos, #ohnekUNStwirdsstill und #AlarmstufeRot kursieren seitdem durch das Internet und die sozialen Medien und sind Zeichen einer Solidaritätsbewegung von Kunst- und Kulturschaffenden, die deutlich machen wollen, wie prekär die Lage ist. Wie fühlt es sich, seinem Beruf, um nicht gar zu sagen, seiner Berufung, nicht mehr nachgehen zu können, nachgehen zu dürfen? Der innere Kampf zwischen Vernunft und Verzweiflung, die Pandemie einzudämmen, aber sichtbar, hörbar und wirksam zu bleiben? Die Debatte um die Kunst ist längst entbrannt.

Mitglieder unseres Hauses wollen tätig werden, laut sein in der Stille. Ihre Gedanken halten sie fest in Form von kurzen Texten, Fotos oder Videos… Einen Teil davon können Sie hier nun sehen.

Sopranistin Valda Wilson.

»Hältst du es aus, mich nicht mehr zu hören?« Klara, cabaret artist, Koeln.

The question is intended rhetorically… but for me it hits a very sensitive nerve.  I doubt that I am alone in this…  It is a nerve we performers are happy to ignore as far as possible.

Aber ich glaube die Angst, gerade von vielen Kollegen, inklusive von mir selbst, ist, dass die Antwort vielleicht »Ja, ich halte es aus« sein könnte.

Sind wir bereit diese Frage zu stellen?  Aber WIRKLICH zu stellen?

Ich komme aus einem Land wo für die meisten Menschen, der Antwort wär »Ja.  Das halte ich seit schon laenger aus.  Wer seid ihr ueberhaupt?« Valda Wilson, Australierin, Opernsängerin, Mensch.

Regieassistent Gaetano Franzese.

So schwer es für den Einzelnen zu ertragen sein mag, die Schließung der Theater in diesem Land als Beschränkung und Beschädigung der eigenen Person als Künstler zu empfinden , umso schwerer wiegt die Tatsache, dass nicht nur das Individuum, sondern eine ganze Gesellschaft in ihrem Kern dadurch schwer beschädigt wird. Bernd Geiling, Schauspieler

Violonist Danny Gu.

GEWALT DER STILLE von Werner Bergengrün
Wir sind so sehr verraten,
von jedem Trost entblößt,
in all den wirren Taten
ist nichts, das uns erlöst.
Wir sind des Fingerzeigens,
der plumpen Worte satt,
wir woll’n den Klang des Schweigens,
das uns erschaffen hat.
Gewalt und Gier und Wille
der Lärmenden zerschellt.
O komm, Gewalt der Stille,
und wandle du die Welt.
Juliane Lang, Schauspielerin

Souffleuse Jutta Staiger.

Bei allem Verständnis für die Entscheidung, das Bewegungsmuster jedes Bürgers zwecks Gesunderhaltung des Einzelnen einschränken zu müssen, sollte neben der Religions- und Versammlungsfreiheit (s. dazu die geplante Querdenkerdemo in Leipzig mit zu erwartenden 20.000 Teilnehmern!) ebenso der Kunstfreiheit genüge getan und jedem die Wahl gelassen werden, lieber das Theater als Ort der kultivierten politischen sowie gesellschaftlichen Auseinandersetzung aufzusuchen, als zum selben Zweck mit dem Bummelzug nach Leipzig zu fahren, um dort an einer potentiell hochinfektiösen und vermutlich unkultivierteren (wir warten auf die Fernsehbilder) Massenveranstaltung teilzunehmen. Fabian Gröver, Schauspieler

Künstlerischer Leiter der Beleuchtungsabteilung Karl Wiedemann.

Eine kleine (wahre) Geschichte: Der letzte Abend vor dem Lockdown. Ein letzter Besuch mit natürlich(!) Maske und Sicherheitsabstand in der Stammkneipe. Dort eine Begegnung mit einer französischen Schauspielerin und ihrer Truppe. Sie hätte Mitte Dezember Premiere mit einem freien Projekt. Sie dürfen weiter proben, aber was, wenn sie auch im Dezember nicht spielen dürfen? Dann droht Verschuldung und die Kollegin wird nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen soll. Ich erzähle von unserer Aktion, zeige Bilder. Bei dem Bild der Puppe ein kleiner Aufschrei: »Diese Puppe habe ich gebaut! Vor Jahren…« Ich sage begeistert: »Wie schön! Deine Puppe spielt aktuell in unserem Stück >Eine kurze Chronik des künftigen Chinas< mit! Wir haben sie in den Untiefen des Theaterfundus gefunden.« Ich würde ihr so gerne eine Karte für die Premiere schenken, damit sie ihre Puppe und unseren sehr aktuelle, dystopischen Theaterabend sehen kann. Die Premiere wäre heute. Sie wird (erstmal) nicht stattfinden. Verena Bukal, Schauspielerin

Barbara Brückner (Opernchor) und Marco Seydel (Bühnentechnik).

Unsere Kunst ist für viele Menschen gerade jetzt, Medizin für die Seele.
Der Mensch ist mehr als sein Körper und gerade die Musik kann Trost in dieser Zeit geben.
Das zu verbieten, Aufnahmen sind mit einem life gespielten Konzert leider nicht zu vergleichen, ist ein Angriff auf die Gesundheit.
Die Depressionen nehmen zu dieser Jahreszeit wieder enorm zu und für viele Menschen, die darunter leiden, ist gerade der Besuch von Konzerten und auch von Museen ein Lichtblick.
Kunst ist nicht verzichtbares Beiwerk, sondern macht den Menschen aus.

Es existiert seit Anbeginn keine menschliche Gemeinschaft ohne Kunst. Günter Schraml, Solo-Klarinettist des Saarländischen Staatsorchesters

Generalintendant Bodo Busse.

© Fotos: Benjamin Jupé.

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Sound & Vision

Bevor Stijn Celis mit der Choreographie seines neuen Balletts »Sound & Vision« begann, hatte er die Ensemblemitglieder nach ihren Erfahrungen und Eindrücken während der Lockdown-Zeit von März bis Mai 2020 befragt. Aus den Antworten entstand ein Text, der im Stück nach dem ersten Song (»Letʼs Dance« von David Bowie) zu sechst gesprochen wird:

What do 16 square metres mean for you? To me, it does not matter how big the space is around me, what matters is how big the space is in my spirit and imagination. 4 by 4 metres may feel limited yet it can also feel eternal. Before Corona my approach to dance was mostly physical and sometimes intellectual. Today it is mostly intellectual and sometimes physical.

During Corona I heard my neighbours having sex – and they probably did the same. I discovered that a broom can stand alone in balance. I had time to virtually re-establish some far-away friendships. For my birthday, my dad sent me a package from Japan, and we both thought that it would take at least a month to get here because of the situation. It arrived within a week. On my birthday, I received gifts and cookies delivered through my window using a rope.

What was the hardest thing during the Corona crisis for you? To wear a mask? Weekly grocery shopping? Not knowing where the »finish« line is? One night I slept 15 hours, I ate pizza four days in a row. (I had four pizzas in a row.)

I painted my catʼs nails blue. I actually spent a good amount of time during lockdown with reading. Noverreʼs »Lettres sur la danse« and Kandinsky, »Punkt und Linie zu Fläche«. For me they are complimentary. Two art-making models with opposite principles but with the same aim.

Klaus Kieser,
Kompaniemanager Saarländisches Staatsballett und Dramaturg

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Hinter dem Vorhang

Innovation statt Resignation: »Staatstheater goes Völklinger Hütte«

Keine Vorstellungen mehr. Kurz gesagt, aber mit weitreichenden Folgen, denn dies bedeutete: Keine Konzerte, kein Schauspiel, kein Ballett, keine Oper. Kein Lachen, kein Diskutieren, kein Weinen, kein Grübeln oder Schmunzeln mehr. Kein Vorhang, der sich hebt und wieder fällt, kein Applaus, keine Pausengespräche, keine Worte oder Töne, die weit über den Abend hinweg wirken.
Und außerdem: kein Theaterfest, keine Kulturmeile. Seit Mitte März stand das kulturelle Leben auch in Saarbrücken nahezu still. Lahmgelegt. Künstlerinnen und Künstler konnten nicht mehr dem nachgehen, was sie ausmacht: sprechen, singen, tanzen, spielen. Sie wurden im wörtlichen und übertragenen Sinne ihrer Bühne beraubt.
Beraubt wurden auch die Menschen, die einen wesentlichen Teil des Theaters ausmachen: Dem Publikum wurde die Bühne ebenso entzogen, wie den Kunstschaffenden selbst. Nicht nur das Theater wurde geschlossen, ebenso Museen, Kinos, Konzertsäle … etc. pp. Der Ungewissheit zum Trotz wollten der Direktor der Völklinger Hütte Dr. Ralf Beil und Intendant Bodo Busse aktiv werden und Kunst wieder möglich machen. Anders als wir es bisher vielleicht kannten, aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Innovation statt Resignation: »Staatstheater goes Völklinger Hütte«.

Szenen aus »GLÜCK. Ein Abend mit sieben Gewinnern und den besten Szenen in Zeitlupe« mit Achim Schneider, Juliane Lang, Ali Berber, Marie Smolka und Bernd Geiling.

Wenige Wochen später: 16562 Schritte, das sind ungefähr 14 Kilometer, knapp 40 Telefonanrufe, keiner dauerte länger als 30 Sekunden, hinzukommt noch eine diverse Anzahl an Funksprüchen, ungefähr 5 Stunden für den Aufbau, 4 Stunden Programm, 2 Stunden Abbau, fast 100 Beteiligte des Saarländischen Staatstheaters, über 50 Programmpunkte, 17 Spielorte, ca. 1600 Anmeldungen. Das sind in etwa die Zahlen des vergangenen Sonntags, die ich in meinem Kopf überschlage.

»La vie en rose« aus »Trüffel Trüffel Trüffel« : Michael Wischniowksi auf der Lok in der Kohlegasse.

Nicht mitgezählt habe ich die Stunden der Vorbereitung, der kreativen wie organisatorischen Denkrunden, die vielen Fahrten vom Staatstheater zur Völklinger Hütte, um noch ein weiteres Mal die Orte abzugehen, an denen die Kunst zu (neuem und anderem) Leben erweckt werden soll.
Die SpartenleiterInnen konzipierten und überlegten zusammen mit den Ensembles und Regieteams, die Musikerinnen und Musiker des Staatsorchesters machten Vorschläge für kammermusikalische Beiträge, weitere Künstlerinnen und Künstler des Hauses meldeten sich, wollten mitwirken, musizieren, sprechen, dabei sein, gesehen und gehört werden. Sichtbar, hörbar, wirksam.

Verena Bukal bereitet sich vor für ihren Auftritt im Schattenhof bei der Klanginstallation zu »Die Politiker«.

Nun packten alle mit an, Vorschläge machen und sichten, Ideen besprechen, verwerfen, suchen und finden. Die Uhr tickte unaufhörlich. Für einen Parcours derlei Größe und Ausmaße sind normalerweise mehrere Monate Vorlauf- und Planungszeit vorgesehen. Nun hatten wir nur Tage, denn die Spielzeitpause lag dazwischen.

Auf dem Schrottgleis: Die Vorbereitungen laufen für die Szenen aus »Nora_Spielen!«, »Die Stripperin« und »GLÜCK«.

Erneut fahren wir zur Völklinger Hütte, die Orte werden konkreter, der Parcours steht. Es wird ernst.
Ist dieser Boden geeignet für einen Tänzer? Kann ich mir an dieser Treppe eine Tänzerin vorstellen? Was meint Stijn Celis dazu? Wie ist die Akustik auf dieser Brücke? Am besten stellen wir hier das Horn-Quartett hin, hier wäre ein schöner Ort für das Beethoven-Duo, die sollten etwas geschützt stehen, vor dem Brombeerstrauch könnte Papageno nicht passender sein, hier die Klanginstallation, da die Szenen aus dem Schauspiel. Nochmal, wie ist die Akustik? Gibt es Strom? Und wer ist eigentlich für das E-Piano zuständig?

Fagott-Trio im Wäldchen hinter der Handwerkergasse: Nicolas Horry, Marlene Simmendinger, Katja List.

Ich schreibe Listen, Pläne, E-Mails, tätige Anrufe, organisiere, strukturiere, informiere. Und alles von vorn. Die Zeit rast. Die Nervosität steigt. Die gehört ja immerhin dazu, zum Showbusiness, so heißt es doch, oder? Wird unser Konzept aufgehen? Funktioniert unsere Kunst vor Ort? Was heißt das überhaupt, »funktionieren«? »Hoffentlich trägt sich das Programm«, höre ich mich nicht nur einmal sagen oder vielmehr fragen. Aber was heißt denn das, »trägt sich das Programm«? Welche Aufgabe hat Kunst, hat Kultur? In diesen Tagen kommt mir diese Frage noch dringender vor als eh.

Braucht die Kunst das überhaupt, eine Legitimation, eine Aufgabe, ein Tragen, ein Funktionieren? Wessen Ansprüche wollen wir erfüllen? Unsere? Andere? An diesem Sonntag und eigentlich auch sonst so.

Percussion Under Construction trifft Tanz in der Cowpergasse: Micaela Serrano Romano, Dominik Minsch, Yaiza Davilla Gómez.

Aber ich habe keine Zeit. Ich packe Lagepläne ein, Telefonlisten, Zeitpläne, Stift, Papier, Klebeband (besser haben als brauchen), auch eine Sicherheitsnadel, die tatsächlich später gebraucht wird, aber ich vergesse, dass ich sie überhaupt eingesteckt habe. Zusammen mit den KollegInnen aus dem Künstlerischen Betriebsbüro geht es Richtung Völklinger Hütte, auch sie haben Listen dabei, Handy, Stift und Zettel griffbereit. Ebenso wie die einmalige Mischung aus positiver Nervosität und routinierter Gelassenheit, die es so wohl nur am Theater gibt.

Statisterie des Saarländischen Staatstheaters.

Sonntag um 10 Uhr kommen wir an. Es geht los. Wer nimmt gleich die KünstlerInnen in Empfang? Wer läuft den Parcours nochmal ab und nimmt die StatistInnen mit? Wer betreut die einzelnen Standorte? Mir reicht man ein Funkgerät und schon sitzt die Dramaturgin auf dem LKW, fährt mit den Kollegen der Technik alle Standorte ab, die später zu Bühnen werden sollen, verteilt mit ihnen und den Orchesterwarten Notenständer, Stühle, Stromkabel, Tische. Wo muss nochmal der Tisch hin? Könnten wir vielleicht einen zweiten bekommen? Und einen dritten? Und wer braucht hier ein Stromkabel? Ein zweiter Blick auf die Uhr, 12.30 Uhr. Uff.

Bernd Geiling liest aus »Amadeus« auf dem Schiff in der Handwerkergasse.

Alle anderen sind ebenfalls längst über das gesamte Gelände verteilt. Alles läuft, wie ein Zahnrad greifen wir ineinander. Wir funktionieren.
Die KünstlerInnen strömen aufgeregt, lachend und – so scheint es zumindest – motiviert und lustvoll zu ihren jeweiligen Spielorten, die sie an diesem Tag zum ersten Mal sehen. Improvisation lautet das Motto des heutigen Tags. Die Gelegenheit am Schopfe packen, einfach machen, spielen, reagieren, aktivieren. Endlich. Theater. Anders, aber nicht weniger aufregend. Wieder ein Blick auf meine Uhr. 13 Uhr. Tick Tack. Keine Zeit für Sentiments.

Fabian Gröver, Martina Struppek, Christiane Motter und Thorsten Köhler mit Szenen aus »Nora_Spielen!« auf dem Schrottgleis.

Und wieder die Fragen, funktioniert alles? Ist die Akustik gut, ist das Programm auch ausreichend abwechslungsreich? Haben wir gut disponiert, entstehen Frei- aber keine Leerflächen? Fühlen sich alle Beteiligten wohl an ihren Standorten, ist alles da? Wie wird das Publikum reagieren, interagieren?

Währenddessen schnappt sich der Intendant beherzt die Kiste mit den Desinfektionsflaschen, aber halt – wo sind denn jetzt eigentlich genau die einzelnen Spielorte? Der Chefdramaturg eilt zu seiner Hilfe. Zusammen ziehen sie los, eine der vielen letzten Runden, bevor es endlich losgeht. In der Zeit erobern sich die Ensembles ihre jeweiligen Spielorte, die wohl kürzesten Proben der Theatergeschichte beginnen. Das Wasser ist verdammt kalt, aber endlich fließt es wieder. Gleich springen wir, alle zusammen.

Teile des Ballettsensembles auf dem Sinterturm.

Klingeling, mein Handy. Ein Notenständer ist kaputt, vom Wind umgeweht und zerbrochen, kein Problem, ich funke schnell den Orchesterwart an. Er kommt keine fünf Minuten später, der Notenständer ist ersetzt. Es beginnt zu regnen, gibt es Planen für das E-Piano? Einen Lappen für den Tisch auf dem Schrottgleis? Gibt es. Der Regen hört auf, die Wolken ziehen weiter, die Sonne kommt durch, der Wind bleibt jedoch.

Oboen-Quartett mit Morzart vor der Hängebahn: Lutz Bartberger, Martina Schnepp, Jan Krause, Raphael Klockenbusch.

Hoffentlich stehen die InstrumentalistInnen nicht in der prallen Sonne, denke ich. Das ist nicht gut für die Instrumente. Aber ich habe an die Überdachung gedacht. Hört der Wind wohl noch auf? Das geht alles auf die Akustik. Sollte ich vielleicht das Streichquartett doch woanders hinstellen? Sind eigentlich alle da? Steht auch ausreichend Wasser bereit in den Aufenthaltsräumen? Haben alle an ihre Masken gedacht?

Percussion Under Construction: Martin Henneke, Johannes Walter und Matthias Weißenauer auf der Bühne im Biergarten.

14 Uhr. Ich horche auf. Von weitem dringen die rhythmisch-dröhnenden Klänge von Percussion Under Construction zu mir durch. Mist. Ich wollte doch den Anfang miterleben, stattdessen stehe ich am ganz anderen Ende des Parcours.

Für einen kurzen Moment überlege ich, schnell zum Anfang vorzugehen. Entscheide mich letztlich jedoch dagegen. Auch da, wo ich jetzt stehe, zwischen rostigen Eisenrohren, sprödem Beton, durch den sich mit all ihrer Kraft kleinste grüne Grashalme ihren Weg bahnen, kann ich die Musik hören. Und mit einem Mal kommt diesem eben noch hektischen Moment eine ungeahnte metaphorisch-poetische Bedeutung zu. Die Kunst war nie wirklich weg, sie darf es nie sein, sie erkämpft sich ihren Weg, ihre Bedeutung, ihre Funktion, ihre Tragweite. Immer.Wieder. Wie der lila blühende Schmetterlingsflieder, der entgegen allen Widrigkeiten mitten aus einer blanken Betonsäule wächst.

Hartnäckig: Schmetterlingsflieder in der Cowpergasse.

Langsam gehe ich den Parcours zu Ende (nicht ohne jede Kunst-Station nochmal eindringlich zu begutachten) und bleibe letztendlich beim Haifisch-Schiff stehen, schaue nach oben in die (mund-nasen-bedeckten) Gesichter unseres Publikums, das sich über die Kohlegasse treiben lässt, staunend und plaudernd, lachend auf das Schiff zeigend, auf dem es gleich ein Cellokonzert geben wird, danach eine Lesung, danach wieder ein Konzert und so fort…

Benjamin Jupé auf dem Schiff in der Handwerkergasse.

Ich gehe weiter und sehe, wie die Menschen runter auf den Erzplatz blicken, auf dem ich die TänzerInnen wähne. Ich vernehme leise Rufe und Laute der Überraschung, der Bewunderung und der Vorfreude. Wieder muss ich in mich hineingrinsen. Wir sind ein schöner Schmetterlingsflieder. Ein starker Schmetterlingsflieder. Unverwelkbar.

Teile des Ballettensembles auf dem Erzplatz.

Und so vergehen die nächsten vier Stunden in Windeseile. Immer wieder klingelt mein Telefon, hat jemand Blasenpflaster? Und hier rutscht eine Hose, ich denke jedoch nicht an die Sicherheitsnadel in meinem Rucksack, stattdessen geht der Beleuchtungsmeister und hat eine Idee. Ich blicke ihm hinterher, er geht vorbei an dem Cello-Schiff, gleich kommt er noch am Fagott-Trio lang und sicher auch am Schrottgleis, wo er die Szenen des Schauspiels passiert, hinter ihm der junge Mann aus der Statisterie, dessen Hose rutscht. Und all das mit dem Ziel, ein Kostüm mit einem Kabelbinder zu reparieren. Alle SpartenleiterInnen sind vor Ort, laufen permanent in die Runde, prüfen, beobachten, reagieren, packen an.

Statisterie und Publikum auf dem Weg durch den Parcours.

Immer wieder lasse auch ich mich über das Gelände der Völklinger Hütte treiben, beobachte aufmerksam die gespannten oder verzückten Gesichter des Publikums, die sich von Sébastien Jacobi dazu animieren lassen, eine Republik des Glücks zu gründen. Die Augen (und Ohren) werden groß, als Christiane Motter lauthals verkündet, sie sei eine Stripperin und keine Nutte. So. Das muss man auch mal klarstellen dürfen.

»Abstandskollektiv«: Kreatives Schreiben auf dem Picknickplatz mit der Theaterpädagogik.

Entgegen dem Strom gehe ich zurück durch den Schattenhof und vorbei an Vogelgezwitscher, erinnere mich an zwei Stunden zuvor zurück, wo eben hier gleichermaßen eindringlich wie (ver-)zweifelnd über die Zu- und Missstände der Politik debattiert wurde. Immer wieder ein Blick auf mein Handy. Alles funktioniert.

Ich gehe weiter Richtung Cowpergasse, einer der Orte, der den BesucherInnen im normalen Betrieb der Völklinger Hütte vorenthalten bleibt. An ihrem Ende bleibe ich stehen. Mozart.

Mozart in der Cowpergasse.

Die Sonne bricht durch die verzweigte Architektur der stählernd-betonesken Gasse, die Menschen halten Abstand und doch zusammen. Sie lauschen dem Flötenquartett. Einige mit direktem Blick auf die Musizierenden vor ihnen, andere lassen staunend ihre Augen durch den Raum wandern, nach oben zu den riesigen Rohren, Streben und Säulen. Andere fotografieren, unterhalten sich flüsternd, verstummen, lauschen wieder. Manche gehen weiter, wollen noch mehr sehen und hören. Am Ende: Applaus. Alles wie immer eigentlich. Eigentlich wie immer und doch alles anders.

4 Stunden später: Feierabend. Kostüme aus.

Ich denke zurück an die Pressekonferenz wenige Tage zuvor. Ob die Kunst Corona brauchte, ob »die Kunst« Corona als Chance sehe? Die Worte unseres Intendanten Bodo Busse kommen mir wieder in den Sinn: »Wir alle haben die Pandemie nicht gebraucht. Auch die Kunst nicht, um kreativ zu werden.« Ich stimme ihm zu. Wie am Mittwoch schon. Wir brauchten die Pandemie nicht. Niemand brauchte sie.

Aber die Kunst, die braucht man. Immer. Überall. Sie funktioniert.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert



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Der Dramaturgieschreibtisch

KEIN CORONA-BLOG

Als Theaterschaffende werde ich – und sicherlich auch viele meiner KollegInnen – oft gefragt, was ich eigentlich so tagsüber mache. Diese Frage möchte ich an dieser Stelle gerne ausweiten – was passiert eigentlich, bis der Vorhang am Abend einer Vorstellung hochgeht? Was geht hinter diesem Vorhang vor sich, im buchstäblichen, aber auch im übertragenen Sinne?

Ein Theater lebt von den vielen verschiedenen Ideen, Inspirationen, Meinungen, Diskussionen und Visionen. Und all diese unterschiedlichen Vorgänge, Diskurse, diese vielfältigen Ideenwelten sammeln sich auf dem Schreibtisch der Dramaturgie, werden hinterfragt, verworfen, konkretisiert, umgesetzt. Es wird gegrübelt, gegraben, gesprochen, gedacht.

Mit diesem Blog möchten wir all das sichtbar, lesbar, nahbar machen. Welche Ideen, welche Gedanken kreisen, ehe eine Inszenierung auf die Bühne kommt? Welche politischen wie sozialen Ideen und Visionen stecken hinter der Auswahl eines Bühnenwerkes? Es soll all das sichtbar werden, was sonst nicht unmittelbar sichtbar oder erkennbar ist. Der Blog gibt Impulse zum Über-Denken, zum Nach-Denken, zum Voraus-Denken. Vielleicht auch zum Träumen, zum Schmunzeln, zum Hoffen und Sehnen. Eben all das, was wir tun. Jeden Tag. Hinter dem Vorhang.

Dies ist kein Corona-Blog. Dies ist auch kein Corona-Theater-Blog. Die Idee, einen Theaterblog zu initiieren, treibt schon seit einiger Zeit die dramaturgischen Köpfe des saarländischen Staatstheaters um. Pech, Schicksal, Glück im Unglück, dass die Realisierung nun ausgerechnet in diese denkwürdige Zeit des globalen Ausnahmezustands fiel?

Lange haben wir, die Dramaturginnen und Dramaturgen des Hauses, darüber gesprochen, wie wir den inhaltlichen wie konzeptionellen Spagat meistern zwischen Corona und dem, was wie eine oasenhafte Reminiszenz an den »Alltag« (Definition nach Duden: tägliches Einerlei, gleichförmiger Ablauf im [Arbeits]leben ― für diejenigen unter uns, die sich daran schon nicht mehr erinnern können) wirkt. So weit so gut, so weit so herausfordernd. 

Aber genau das macht Theater ja aus. Theater steht mitunter in einem dialektischen Verhältnis zur Gegenwart, zur (Lebens-)Realität, die je nach Blickwinkel und eigenem biografischen wie emotionalen Hintergrund variiert, sich verändert und entwickelt in einem lebendigen Prozess.

Theater reagiert, mit wachem Geist und kreativem Engagement, bestenfalls sogar mit Euphorie, wird es zur Gegenwart oder Gegenwelt, zur Utopie oder Dystopie, zur Flucht oder Heimat, das sich aus den jeweiligen sozialen, gesellschaftlichen oder politischen Gegebenheiten und Zuständen wie ein Puzzle in unterschiedlichsten Teilen zusammensetzen lässt.

Ausgehend von dieser Annahme lässt sich ein Theaterblog in diesen Tagen wohl kaum realisieren, ohne hie und da Bezug zu nehmen auf diese Pandemie, die uns alle betrifft, die unsere Leben einschränkt, uns fordert, aber vielleicht sogar auch fördern kann. Die Vorzeichen unserer Realität haben sich geändert.

Doch dieser Blog soll darüber hinausgehen und die Dinge sichtbar machen, die im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne »auf dem Dramaturgietisch« liegen und »hinter dem Vorhang« passieren. Wir laden jene »auf ein Wort«, die essentieller Teil des künstlerischen Denkens und Wirkens sind.

Jetzt ist es Corona, von dem das Alltägliche wie das Extraordinäre bestimmt werden und damit unmittelbar Einfluss übt auf Inhalt, Form und Gestalt des Theaters. Wir sind gespannt auf die Zukunft, der wir mit Ideenreichtum und Kreativität begegnen werden. Die Kunst bleibt lebendig.

An dieser Stelle möchten wir außerdem unseren Dank aussprechen – dem Verein der Freunde des Saarländischen Staatstheaters e. V., der die technische und grafische Einrichtung dieses Blogs durch seine großzügige finanzielle Unterstützung ermöglicht hat.

Frederike Krüger,
Dramaturgin für Musiktheater und Konzert