Heute ist der 27. März. Es ist Welttheatertag. Ein Tag, der 1961 vom Internationalen Theaterinstitut (ITI) ins Leben gerufen wurde. Ein jährlicher Aktionstag, der die Bedeutung und Wirkung der Bühnenkunst im gesellschaftlichen Kontext hervorheben soll.
Normalerweise finden an diesem Tag am Sitz der UNESCO in Paris (und darüber hinaus) zusammen mit Vertreter:innen des ITI und den Verfasser:innen der Botschaft öffentliche Veranstaltungen statt.
Die diesjährige Botschafterin ist Helen Mirren, weiter unten lesen Sie ihre Botschaft, in der sie auf die prekäre Lage für alle Kunst- und Kulturschaffenden während und durch die Corona-Pandemie verweist.
Auch das Saarländische Staatstheater begeht den Welttag des Theaters. In kurzen Videoclips erzählen Mitglieder des Hauses von ihrem beruflichen Alltag, der längst keiner mehr ist, jedoch vielleicht bald wieder zu einem wird, von den Herausforderungen, vor denen sie gerade stehen, aber auch von ihren Hoffnungn und Wünchen, wenn sich die Theatertüren (endlich) wieder öffnen. Die insgesamt 12 Videos finden Sie hier auf der Facebook-Seite des Saarländischen Staatstheater.
R.L.:Schön, endlich wieder auf der Hauptbühne des Staatstheaters zu sein. Die 1. Probe war nach den Theaterferien die Technische Einrichtung für »Il Trovatore«. Julius, was waren deine Gefühle?
J.S.: Es war schon merkwürdig, wenn man vorher die ganze Zeit nur damit zu tun hatte, zu skypen und zu telefonieren und eine Assistentin, die wunderbare Arbeit leistet, hin- und herzuschicken. Man sah die Leute nie selbst, weil man keine Kontaktmöglichkeiten hatte. Eigentlich ist es ja das Schöne am Theater, dass man mit so vielen verschiedenen Leuten, vom Tischler bis zur Sängerin, zusammenarbeitet an jedem Tag, das gab es bei dieser Produktion leider nicht wie gewohnt. Bei der Technischen Einrichtung waren dann auf einmal wieder alle Menschen um einen herum, die man sehr lange vermisst hatte. Es ist natürlich auch immer ein schönes Gefühl, wenn das Bühnenbild, das es vorher nur als Modell und auf Plänen gab, auf einmal in groß dasteht und man weiß, dass es auch real funktioniert.
R.L.:Das war für dich schon ein spannender Augenblick?
J.S.: Ja, normalerweise hat man viel mehr Kontakt mit den Werkstätten. Ich gehe gerne und viel in Werkstätten, eigentlich am Tag einmal wenn ich im Haus bin. Ein Entwurf wird ja erst in der engen Zusammenarbeit mit den einzelnen Gewerken zu einem Bühnenbild. Das fiel dieses Mal leider weg und die Kommunikation lief zumeist nur über Fotos und WhatsApp.
R.L.:Du warst gar nicht in den Werkstätten?
J.S.: Die Werkstattabgabe haben wir mit viel Abstand im Zuschauerraum gemacht. Ich durfte zweimal in die Werkstätten, mit Voranmeldung. Wenn ich kam, mussten alle Mitarbeiter raus, damit keine mögliche Infektionskette zwischen Theater, Probebühne und Werkstätten entsteht. Gesprochen habe ich dann mit einer Kontaktperson, die es wiederum an die verschiedenen Mitarbeiter weitergegeben hat. Das ist schon ein wenig ein Stille-Post-Roulette-Spiel, weil man ja nie weiß, ob es dann auch so kommuniziert und verstanden wird, wie man es wirklich haben will. Das, was da jetzt aber auf der Bühne steht, ist einfach fantastisch, nicht nur dafür, dass die Arbeitsbedingungen aufgrund der Pandemie so kompliziert waren. Es ist unglaublich, was die Mitarbeiter der Werkstätten für eine unfassbar tolle Arbeit geleistet haben.
R.L.:Es ist ja nicht das erste Bühnenbild, was du für die Produktion entworfen hast, es ist bereits die zwei Variante.
J.S.: Richtig. Die Anfrage zu der Produktion kam vor über einem Jahr im Sommer. In dem habe ich dann auch Tomo und Carola kennengelernt, »Il Trovatore« ist ja unsere erste Zusammenarbeit. Wir wussten schnell, dass wir eine Geschichte über Distanz und Ausgrenzung erzählen wollten, konkret über eine Außenseiterin, über die Figur der Azucena. Wir hatten bei unserem ersten Konzept als Grundidee einen Weihnachtsmarkt im Kopf, in Berlin mit dem Breitscheidplatz das Bild für ein christlich europäisches Abendland, das sich abschottet und Weihnachtsmärkte mit Betonbollern befestigt wie Wehranlagen, ohne zu merken, wie sehr man sich damit von christlichen Werten wie Nächstenliebe entfernt. Dann Azucena, die Außenseiterin als eine Frau, die nicht auf den Weihnachtsmarkt darf, aber mit ihrer Geschichte, die sie unbedingt erzählen will, eine Gesellschaft aus den Fugen treibt, und der Weihnachtsmarkt dann zu einer alptraumhaften, fantastischen Erzählwelt wird.
R.L.:Du hattest auch schon das Modell gebaut?
J.S.: Ich hatte angefangen, das Modell zu bauen, und wir hätten zwei Tage nach dem Lockdown Bauprobe gehabt. Dann gab es eine kurze Schockstarre. Man wusste nicht, schickt man jetzt noch die Pläne oder nicht. Schließlich kam vom Haus die Bitte, ob man noch einmal alles überdenken könnte, denn das Weihnachtsmarkt-Konzept wäre mit den Sicherheitsbestimmungen nicht gegangen.
R.L.: Jetzt haben wir auf der Bühne sieben große Türme, die von hinten wie eine Großstadt aussehen und von vorn Seelen- und Lebensräume der einzelnen Figuren sind. Wie kamt ihr zu diesem Konzept?
J.S.: Ich hatte aufgrund der Kurzfristigkeit einen großen Pragmatismus beim Entwerfen, und wir dachten – okay, es gibt jetzt einen Leitfaden, die Sänger dürfen nicht nebeneinander stehen, der Abstand muss hier 1,50m und da 3 m sein. Das Bühnenbild ist quasi eine Umsetzung der Saarländischen Corona-Schutzverordnung. Man hat die ganzen Parameter der Auflagen, und aus denen habe ich dann einen Bühnenraum modelliert, der szenisch wie inhaltlich dennoch Spannung ermöglicht. So sind dann unsere sieben Türme entstanden, die in ihrem Inneren hyperrealistisch, fast wie kleine Filmsets verschiedene Zustände ein und desselben Raumes zeigen. Sieben Parallelwelten. Von außen sind diese Türme auf der leeren Bühne nur ganz einfache, schwarze Theaterwandkonstruktionen, wie sie der Zuschauer eigentlich nie während einer Aufführung sieht. Diese Oberfläche lässt aber einen ungeahnten Gedankenspielraum offen, ich finde es großartig, dass du da eine Großstadt entdeckst, wo ein Kollege aus der Bühnentechnik eine Kriegsmaschine von Leonardo da Vinci und die Kostümbildnerin einen Wald wachsen sieht.
R.L.:Ich finde, das funktioniert auch inhaltlich und erzählt die Geschichte, die wir erzählen wollten, und ist ein vollgültiges Konzept.
J.S.: Ich finde es sogar total spannend, weil ich bei meinen Bühnenräumen eigentlich wahnsinnig gern kammerspielartig arbeite. »Il Trovatore« ist immer die Oper, bei der man erwartet, dass alles groß ist, weiträumig, und bis auf die Hinterbühne voll. Mit diesen Corona-Vorgaben hat sich auf einmal die Möglichkeit eines Kammerspieles ergeben, bei dem man als Zuschauer eine ganz andere Nähe zu den Figuren bekommen kann als sonst.
R.L.: Willst du auch verraten, was die Türme alles können?
J.S.: Das Schöne ist, dass man mit den Türmen auch (ver)zaubern kann, und das ist das, was sich die Zuschauer*innen nach dem Theaterentzug vielleicht auch wünschen. Die Türme können sich bewegen, von vorn nach hinten, von links nach rechts, sie können sich um die eigene Achse drehen, aus sich heraus leuchten und sie stehen auch noch auf der Drehscheibe. Was schon bei den ersten Proben eine großartige Leistung der Bühnentechnik und der Statisterie war, denn, diese 7 Türme werden alle von Menschenhand bewegt. Alle Bewegungen stehen mittlerweile auf über 14 Seiten detailliertem, technischem Ablauf, es ist ein großer Verschiebebahnhof. Von vorn sieht es ganz magisch aus und von hinten ist es für 14 Leute und die Inspizientin wirklich harte Arbeit, aber nach so langer Zeit ohne Bühne sind alle Beteiligten extrem engagiert dabei.
R.L.:Von vorn sieht man die Technik und Statisterie gar nicht, bei der Beleuchtungsprobe sah es aus, als würden die Räume schweben.
J.S.: Am Anfang ist es noch sehr magisch, zum Schluss hin entzaubern wir das System und je furchtbarer die Handlung wird, umso kälter und klarer wird auch unsere Bühnenmaschine.
R.L.:Die Räume sind total verschieden, und haben doch viel gemeinsam. Was alle Räume bewohnt, ist jeweils eine Katze.
J.S.: Das Klischee der »bösen Hexe«, als die Azucena immer angesehen wird, ist eine Frau mit einer schwarzen Katze auf dem Buckel. Diese Katze taucht in allen Räumen auf, als Symbol für die Gegenwart von Azucena, als Fluch, Azucena ist in Form dieser Katzen permanent anwesend. Kunstgeschichtlich betrachtet ist die Katze aber auch immer wieder ein Bild für Freiheit oder besser gesagt: für Willensfreiheit oder Gedankenfreiheit. In Japan steht die schwarze Katze, die in Mitteleuropa ja eher Unglück bringt für die Kräfte der Transformation und für friedliche Ruhe. Das fanden wir in Bezug auf all diese isolierten Menschen in ihren Türmen ein berührendes Bild. Wir erzählen ja die ganze Geschichte aus Azucenas Kopfkino und hoffen natürlich auch, dass die Zuschauer*innen von diesen Bildern berührt werden und das eine oder andere Bild auch in ihrem eigenen Kopfkino mitnehmen.
R.L.:Vielen Dank!
Das Gespräch führte Musikdramaturgin Renate Liedtke.
Keine Vorstellungen mehr. Kurz gesagt, aber mit weitreichenden Folgen, denn dies bedeutete: Keine Konzerte, kein Schauspiel, kein Ballett, keine Oper. Kein Lachen, kein Diskutieren, kein Weinen, kein Grübeln oder Schmunzeln mehr. Kein Vorhang, der sich hebt und wieder fällt, kein Applaus, keine Pausengespräche, keine Worte oder Töne, die weit über den Abend hinweg wirken. Und außerdem: kein Theaterfest, keine Kulturmeile. Seit Mitte März stand das kulturelle Leben auch in Saarbrücken nahezu still. Lahmgelegt. Künstlerinnen und Künstler konnten nicht mehr dem nachgehen, was sie ausmacht: sprechen, singen, tanzen, spielen. Sie wurden im wörtlichen und übertragenen Sinne ihrer Bühne beraubt. Beraubt wurden auch die Menschen, die einen wesentlichen Teil des Theaters ausmachen: Dem Publikum wurde die Bühne ebenso entzogen, wie den Kunstschaffenden selbst. Nicht nur das Theater wurde geschlossen, ebenso Museen, Kinos, Konzertsäle … etc. pp. Der Ungewissheit zum Trotz wollten der Direktor der Völklinger Hütte Dr. Ralf Beil und Intendant Bodo Busse aktiv werden und Kunst wieder möglich machen. Anders als wir es bisher vielleicht kannten, aber besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Innovation statt Resignation: »Staatstheater goes Völklinger Hütte«.
Wenige Wochen später: 16562 Schritte, das sind ungefähr 14 Kilometer, knapp 40 Telefonanrufe, keiner dauerte länger als 30 Sekunden, hinzukommt noch eine diverse Anzahl an Funksprüchen, ungefähr 5 Stunden für den Aufbau, 4 Stunden Programm, 2 Stunden Abbau, fast 100 Beteiligte des Saarländischen Staatstheaters, über 50 Programmpunkte, 17 Spielorte, ca. 1600 Anmeldungen. Das sind in etwa die Zahlen des vergangenen Sonntags, die ich in meinem Kopf überschlage.
Nicht mitgezählt habe ich die Stunden der Vorbereitung, der kreativen wie organisatorischen Denkrunden, die vielen Fahrten vom Staatstheater zur Völklinger Hütte, um noch ein weiteres Mal die Orte abzugehen, an denen die Kunst zu (neuem und anderem) Leben erweckt werden soll. Die SpartenleiterInnen konzipierten und überlegten zusammen mit den Ensembles und Regieteams, die Musikerinnen und Musiker des Staatsorchesters machten Vorschläge für kammermusikalische Beiträge, weitere Künstlerinnen und Künstler des Hauses meldeten sich, wollten mitwirken, musizieren, sprechen, dabei sein, gesehen und gehört werden. Sichtbar, hörbar, wirksam.
Nun packten alle mit an, Vorschläge machen und sichten, Ideen besprechen, verwerfen, suchen und finden. Die Uhr tickte unaufhörlich. Für einen Parcours derlei Größe und Ausmaße sind normalerweise mehrere Monate Vorlauf- und Planungszeit vorgesehen. Nun hatten wir nur Tage, denn die Spielzeitpause lag dazwischen.
Erneut fahren wir zur Völklinger Hütte, die Orte werden konkreter, der Parcours steht. Es wird ernst. Ist dieser Boden geeignet für einen Tänzer? Kann ich mir an dieser Treppe eine Tänzerin vorstellen? Was meint Stijn Celis dazu? Wie ist die Akustik auf dieser Brücke? Am besten stellen wir hier das Horn-Quartett hin, hier wäre ein schöner Ort für das Beethoven-Duo, die sollten etwas geschützt stehen, vor dem Brombeerstrauch könnte Papageno nicht passender sein, hier die Klanginstallation, da die Szenen aus dem Schauspiel. Nochmal, wie ist die Akustik? Gibt es Strom? Und wer ist eigentlich für das E-Piano zuständig?
Ich schreibe Listen, Pläne, E-Mails, tätige Anrufe, organisiere, strukturiere, informiere. Und alles von vorn. Die Zeit rast. Die Nervosität steigt. Die gehört ja immerhin dazu, zum Showbusiness, so heißt es doch, oder? Wird unser Konzept aufgehen? Funktioniert unsere Kunst vor Ort? Was heißt das überhaupt, »funktionieren«? »Hoffentlich trägt sich das Programm«, höre ich mich nicht nur einmal sagen oder vielmehr fragen. Aber was heißt denn das, »trägt sich das Programm«? Welche Aufgabe hat Kunst, hat Kultur? In diesen Tagen kommt mir diese Frage noch dringender vor als eh.
Braucht die Kunst das überhaupt, eine Legitimation, eine Aufgabe, ein Tragen, ein Funktionieren? Wessen Ansprüche wollen wir erfüllen? Unsere? Andere? An diesem Sonntag und eigentlich auch sonst so.
Aber ich habe keine Zeit. Ich packe Lagepläne ein, Telefonlisten, Zeitpläne, Stift, Papier, Klebeband (besser haben als brauchen), auch eine Sicherheitsnadel, die tatsächlich später gebraucht wird, aber ich vergesse, dass ich sie überhaupt eingesteckt habe. Zusammen mit den KollegInnen aus dem Künstlerischen Betriebsbüro geht es Richtung Völklinger Hütte, auch sie haben Listen dabei, Handy, Stift und Zettel griffbereit. Ebenso wie die einmalige Mischung aus positiver Nervosität und routinierter Gelassenheit, die es so wohl nur am Theater gibt.
Sonntag um 10 Uhr kommen wir an. Es geht los. Wer nimmt gleich die KünstlerInnen in Empfang? Wer läuft den Parcours nochmal ab und nimmt die StatistInnen mit? Wer betreut die einzelnen Standorte? Mir reicht man ein Funkgerät und schon sitzt die Dramaturgin auf dem LKW, fährt mit den Kollegen der Technik alle Standorte ab, die später zu Bühnen werden sollen, verteilt mit ihnen und den Orchesterwarten Notenständer, Stühle, Stromkabel, Tische. Wo muss nochmal der Tisch hin? Könnten wir vielleicht einen zweiten bekommen? Und einen dritten? Und wer braucht hier ein Stromkabel? Ein zweiter Blick auf die Uhr, 12.30 Uhr. Uff.
Alle anderen sind ebenfalls längst über das gesamte Gelände verteilt. Alles läuft, wie ein Zahnrad greifen wir ineinander. Wir funktionieren. Die KünstlerInnen strömen aufgeregt, lachend und – so scheint es zumindest – motiviert und lustvoll zu ihren jeweiligen Spielorten, die sie an diesem Tag zum ersten Mal sehen. Improvisation lautet das Motto des heutigen Tags. Die Gelegenheit am Schopfe packen, einfach machen, spielen, reagieren, aktivieren. Endlich. Theater. Anders, aber nicht weniger aufregend. Wieder ein Blick auf meine Uhr. 13 Uhr. Tick Tack. Keine Zeit für Sentiments.
Und wieder die Fragen, funktioniert alles? Ist die Akustik gut, ist das Programm auch ausreichend abwechslungsreich? Haben wir gut disponiert, entstehen Frei- aber keine Leerflächen? Fühlen sich alle Beteiligten wohl an ihren Standorten, ist alles da? Wie wird das Publikum reagieren, interagieren?
Währenddessen schnappt sich der Intendant beherzt die Kiste mit den Desinfektionsflaschen, aber halt – wo sind denn jetzt eigentlich genau die einzelnen Spielorte? Der Chefdramaturg eilt zu seiner Hilfe. Zusammen ziehen sie los, eine der vielen letzten Runden, bevor es endlich losgeht. In der Zeit erobern sich die Ensembles ihre jeweiligen Spielorte, die wohl kürzesten Proben der Theatergeschichte beginnen. Das Wasser ist verdammt kalt, aber endlich fließt es wieder. Gleich springen wir, alle zusammen.
Klingeling, mein Handy. Ein Notenständer ist kaputt, vom Wind umgeweht und zerbrochen, kein Problem, ich funke schnell den Orchesterwart an. Er kommt keine fünf Minuten später, der Notenständer ist ersetzt. Es beginnt zu regnen, gibt es Planen für das E-Piano? Einen Lappen für den Tisch auf dem Schrottgleis? Gibt es. Der Regen hört auf, die Wolken ziehen weiter, die Sonne kommt durch, der Wind bleibt jedoch.
Hoffentlich stehen die InstrumentalistInnen nicht in der prallen Sonne, denke ich. Das ist nicht gut für die Instrumente. Aber ich habe an die Überdachung gedacht. Hört der Wind wohl noch auf? Das geht alles auf die Akustik. Sollte ich vielleicht das Streichquartett doch woanders hinstellen? Sind eigentlich alle da? Steht auch ausreichend Wasser bereit in den Aufenthaltsräumen? Haben alle an ihre Masken gedacht?
14 Uhr. Ich horche auf. Von weitem dringen die rhythmisch-dröhnenden Klänge von Percussion Under Construction zu mir durch. Mist. Ich wollte doch den Anfang miterleben, stattdessen stehe ich am ganz anderen Ende des Parcours.
Für einen kurzen Moment überlege ich, schnell zum Anfang vorzugehen. Entscheide mich letztlich jedoch dagegen. Auch da, wo ich jetzt stehe, zwischen rostigen Eisenrohren, sprödem Beton, durch den sich mit all ihrer Kraft kleinste grüne Grashalme ihren Weg bahnen, kann ich die Musik hören. Und mit einem Mal kommt diesem eben noch hektischen Moment eine ungeahnte metaphorisch-poetische Bedeutung zu. Die Kunst war nie wirklich weg, sie darf es nie sein, sie erkämpft sich ihren Weg, ihre Bedeutung, ihre Funktion, ihre Tragweite. Immer.Wieder. Wie der lila blühende Schmetterlingsflieder, der entgegen allen Widrigkeiten mitten aus einer blanken Betonsäule wächst.
Langsam gehe ich den Parcours zu Ende (nicht ohne jede Kunst-Station nochmal eindringlich zu begutachten) und bleibe letztendlich beim Haifisch-Schiff stehen, schaue nach oben in die (mund-nasen-bedeckten) Gesichter unseres Publikums, das sich über die Kohlegasse treiben lässt, staunend und plaudernd, lachend auf das Schiff zeigend, auf dem es gleich ein Cellokonzert geben wird, danach eine Lesung, danach wieder ein Konzert und so fort…
Ich gehe weiter und sehe, wie die Menschen runter auf den Erzplatz blicken, auf dem ich die TänzerInnen wähne. Ich vernehme leise Rufe und Laute der Überraschung, der Bewunderung und der Vorfreude. Wieder muss ich in mich hineingrinsen. Wir sind ein schöner Schmetterlingsflieder. Ein starker Schmetterlingsflieder. Unverwelkbar.
Und so vergehen die nächsten vier Stunden in Windeseile. Immer wieder klingelt mein Telefon, hat jemand Blasenpflaster? Und hier rutscht eine Hose, ich denke jedoch nicht an die Sicherheitsnadel in meinem Rucksack, stattdessen geht der Beleuchtungsmeister und hat eine Idee. Ich blicke ihm hinterher, er geht vorbei an dem Cello-Schiff, gleich kommt er noch am Fagott-Trio lang und sicher auch am Schrottgleis, wo er die Szenen des Schauspiels passiert, hinter ihm der junge Mann aus der Statisterie, dessen Hose rutscht. Und all das mit dem Ziel, ein Kostüm mit einem Kabelbinder zu reparieren. Alle SpartenleiterInnen sind vor Ort, laufen permanent in die Runde, prüfen, beobachten, reagieren, packen an.
Immer wieder lasse auch ich mich über das Gelände der Völklinger Hütte treiben, beobachte aufmerksam die gespannten oder verzückten Gesichter des Publikums, die sich von Sébastien Jacobi dazu animieren lassen, eine Republik des Glücks zu gründen. Die Augen (und Ohren) werden groß, als Christiane Motter lauthals verkündet, sie sei eine Stripperin und keine Nutte. So. Das muss man auch mal klarstellen dürfen.
Entgegen dem Strom gehe ich zurück durch den Schattenhof und vorbei an Vogelgezwitscher, erinnere mich an zwei Stunden zuvor zurück, wo eben hier gleichermaßen eindringlich wie (ver-)zweifelnd über die Zu- und Missstände der Politik debattiert wurde. Immer wieder ein Blick auf mein Handy. Alles funktioniert.
Ich gehe weiter Richtung Cowpergasse, einer der Orte, der den BesucherInnen im normalen Betrieb der Völklinger Hütte vorenthalten bleibt. An ihrem Ende bleibe ich stehen. Mozart.
Die Sonne bricht durch die verzweigte Architektur der stählernd-betonesken Gasse, die Menschen halten Abstand und doch zusammen. Sie lauschen dem Flötenquartett. Einige mit direktem Blick auf die Musizierenden vor ihnen, andere lassen staunend ihre Augen durch den Raum wandern, nach oben zu den riesigen Rohren, Streben und Säulen. Andere fotografieren, unterhalten sich flüsternd, verstummen, lauschen wieder. Manche gehen weiter, wollen noch mehr sehen und hören. Am Ende: Applaus. Alles wie immer eigentlich. Eigentlich wie immer und doch alles anders.
Ich denke zurück an die Pressekonferenz wenige Tage zuvor. Ob die Kunst Corona brauchte, ob »die Kunst« Corona als Chance sehe? Die Worte unseres Intendanten Bodo Busse kommen mir wieder in den Sinn: »Wir alle haben die Pandemie nicht gebraucht. Auch die Kunst nicht, um kreativ zu werden.« Ich stimme ihm zu. Wie am Mittwoch schon. Wir brauchten die Pandemie nicht. Niemand brauchte sie.
Aber die Kunst, die braucht man. Immer. Überall. Sie funktioniert.
Frederike Krüger, Dramaturgin für Musiktheater und Konzert
Das Theater ist wieder belebt. Auf meinem Weg zum ruhiger gelegenen Dramaturgieseitenarmflur passiere ich die Maske, eine Kollegin mit Pferdekopf kommt mir entgegen, ich werfe einen neugierigen Blick auf die Große Bühne, auf der gerade das Bühnenbild des Troubadour emsig eingerichtet wird, kurzes »Morje!«, konzentrierte Direktionsetage – Stille, Ballettsaal – Klavierklänge, Kostümabteilung – dort werden wieder Kleiderständer bestückt!, ich verlangsame am Orchesterprobensaal, aus dem dramatische Läufe erklingen, wenn auch nicht so voll im Klang, wie wenn ein gesamtes Staatsorchester spielte, und ab an den Computer, um eine Szene der GLÜCK-Stückentwicklung inhaltlich zu schärfen.
Das ist nach all den Sicherheitsmaßnahmen diesen Jahres schon ganz schön viel Normalität. (Dass ich vergesse, dass Maske, Registrierung, Desinfektionsmittel etc. Eingang in den Arbeitsalltag gefunden haben, ist eher ein Zeichen dafür, wie sich der Begriff des Normalen beliebig weitet.)
Auf den Proben ist Abstand ein allpräsentes Thema, das Ensemble der Schauspielproduktion »Glück« ist diszipliniert, aber reagiert aufgebracht über ständig zurückgehaltene Impulse beim Spielen – die Vielfalt an theatralen Mitteln wird ihn, diesen 1,5-bis-3 Meter-Koloss, inhaltlich problemlos überwinden, aber die Sehnsucht nach Nähe, auch nach gezeigter körperlicher Nähe, wächst mit dem Ausbleibenmüssen im öffentlichen Leben. Sehnsucht nach Nähe bei gleichzeitiger körperlicher Distanz birgt aber auch ein politisches Potenzial. Und da freue ich mich ganz besonders auf eine Szene in GLÜCK, die diesen neuentstandenen Abstandsraum zwischen uns Menschen durchaus utopisch (ja, utopisch! freudig! als Chance!) zu begreifen wagt.
Welche politische Utopie in Abstand stecken kann, wie Fortuna ihr Füllhorn für uns nutzt und ob Besserland im Stück tatsächlich besser ist, verrät Ihnen GLÜCK – ein Abend mit Abstands-, aber ohne Glücksdiktat – ab dem 12. September.
Zur Produktion: GLÜCK. EIN ABEND MIT 7 GEWINNERN UND DEN BESTEN MOMENTEN IN ZEITLUPE
Kennen Sie dieses Gemälde? Ein Pferd, kraftvoll im Sprung – hat es den Boden jemals berührt? Wird es ihn jemals wieder berühren? – das seinen Weg willensstark durchsetzt und auf eine Brücke aufspringt, hölzern, auf der bereits die Schicksalskugel einer mystischen Figur rollt. Nackt und üppig tanzt eine Frau auf ihr, auf diesem fragilen transparenten Ball. Nicht nur ihre Füße berühren den Sehnsuchtsball, auch die Hufen des Tieres werden ihn bald erreicht haben. Analog dazu streckt sich der Arm des Reiters züngelnd, sehnsüchtelnd nach der Frau. Ihr Haar und abgestreiftes Gewand wallt ihm verheißungsvoll entgegen, sein Schal und der Schweif des Pferdes wallen nicht minder (nur in die andere Richtung). Und da wallt noch etwas Anderes im Rücken des Reiters: es ist der rote Umhang eines gemeinhin als düster geltenden, aber hier lächelnden Gesellen. Ein Gerippe ist zu sehen. Gevatter Tod hetzt gewaltig mit auf dieser Jagd nach Fortuna. Eine lustige Partie!